Ingo Schulze – László Győri
1. Juni 2016 – Brief nach Budapest versendet (Schulze an Győri)
Lieber László,
das ist schon seltsam, sich unter öffentlicher Aufsicht zu schreiben. Vielleicht lässt sich das in Maßen vergessen wie eine Kamera, die unentwegt anwesend ist. Oder besser gesagt: erlernen, nicht darauf zu achten. Mich hat mal jemand fotografiert, dessen Geheimnis es war, einen mit Fragen und Anekdoten so zu überschütten, dass seine unentwegt klickende Kamera zu einem Nebengeräusch wurde und ich sie schließlich fast vergaß. Am Ende sehen bei ihm allerdings alle Fotografierten ausnahmslos wie Rockstars aus.
Mir fällt gerade ein – weil die „Aufsicht“ mich doch hemmt –, dass wir durchaus auch mit Schwärzungen arbeiten könnten, also mit Stellen, die wir vor der Veröffentlichung streichen. Dafür müssten wir nur ein paar Seiten mehr produzieren.
Ich habe keinen Konzeptvorschlag für uns – oder nur insofern einen, dass Du aufgrund Deiner Herkunft und Deines Landes Erfahrungen besitzt, die mir am Anfang unseres Kennenlernens – vor zehn Jahren? – als historisch erschienen, also als eine Art von Erfahrung, die nur andere machen, aber nicht ich als jemand mit deutschem Pass im 21. Jahrhundert. Dabei war mir vom Verstand her immer klar gewesen, dass es nicht so ist, dass sich alles jederzeit auf abgewandelte Weise oder ähnlich oder neu und schlimmer ereignen kann. Aber dieses Grundgefühl der Sicherheit – Weltvertrauen ist, glaube ich, schon auf dem Weg, ein Modewort zu werden – sitzt tief in mir und stammt wohl noch aus ddr-Zeiten. Ich dachte früher, der Staat müsste eigentlich das Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz verbieten. Darin lag ein zu großes Risiko für die Kletterer. Denn mein Sicherheitsgefühl war überspitzt gesagt so, dass man selbst dann, wenn man etwas Verbotenes tat, noch immer nicht in Lebensgefahr geriet, weil doch noch irgendwo ein Netz gespannt war.
Vor drei Wochen las ich an einem Ampelmast für einen Fußgängerüberweg in Berlin-Wilmersdorf eine handschriftliche Anzeige. Es ging um eine Dreizimmerwohnung in der Nähe, eine Preisobergrenze gab es auch – und dann kam als dritte oder vierte Zeile: „von dt. Paar gesucht“. In dem Moment war ich so vor den Kopf geschlagen, dass ich es versäumte, mir so ein Schnipselchen mit der Telefonnummer abzureißen. Und als ich nach einigen Tagen wieder hinging, klebte das Blatt nicht mehr da.
Ich bin mir sicher: Ein solche Formulierung in einem Wohnungsgesuch wäre vor einem Jahr noch undenkbar gewesen. Da hätte man sich vielleicht als gut verdienendes Paar oder gar als Paar ohne Kinder und Haustiere dargestellt, wäre aber nicht auf die Idee gekommen, mit „dt.“ als Qualitätskennzeichen hausieren zu gehen. Oder? Das eigentliche Elend beginnt natürlich schon mit dem „gut verdienend“ und „kinderlos“ oder Ähnlichem, aber das ist der gewohnte Kommerz, an dem man sich aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit im Alltag kaum noch leisten kann zu stoßen. Aber das „deutsch“ fährt wie ein Messer dazwischen. Dabei bin ich mir ziemlich sicher: Jenes „dt.“ Paar fand nichts dabei, so im Sinne von: „Aber so ist es doch, wir sind doch deutsch.“
In der derzeitigen Stimmung wird eine derartige Selbstbeschreibung, wie sie in Dresden und anderswo zelebriert wird (deutsch, national, europäisch, abendländisch), nicht mehr als Möglichkeit und Begrenzung, als Erbschaft wie als Verantwortung, als Glück und Unglück, sondern als Entgegensetzung, als Ausschlusskriterium verstanden.
Glaub mir, das Nationalistische habe ich immer als etwas Überwundenes angesehen, jedenfalls überwunden auf einer Ebene von gesellschaftlicher Relevanz. Dass es in einigen Dösköppen noch weiterbrabbelte, war eher deren Problem. Und jetzt hat es nur weniger Monate bedurft – jedenfalls weniger als zwei Jahre –, es als Argumentationsebene auf Augenhöhe zu etablieren (wie zur Illustration: heute, Sonntagabend, Wahlabend in Österreich, genau 50/50 zeigen die Prognosen für die Bundespräsidentenstichwahl) – und bei Euch und in Polen sitzt es bereits auf dem Thron.
Sobald ich zu argumentieren beginne, rollen mir erst mal wieder all die Brocken vor die Füße, also die Sünden der Vergangenheit, über die zu reden wäre. Von Kolonialismus und Neokolonialismus, Kriegen – heißen wie kalten – und dem schönen westlichen Alltag, der seine Leichen vorsorglich in fernen Ländern entsorgt und die Demolierungen hier an die Ränder schiebt. Oder anders: Wer jahrzehntelang gegen das Wohl des Gemeinwesens arbeitet, in dem die soziale Polarisierung der Gesellschaft von Jahr zu Jahr zunimmt, eine politische Führung, die bei jeder Gelegenheit von Werten spricht, aber letztlich nur Wachstum, Privatisierung, Effizienz huldigt, stellt sich selbst ins Abseits. Dabei sind die Reaktionen auf die Finanzkrise, die daraus folgende Staatsschuldenkrise, die Griechenlandkrise, TTIP, CETA … nur die letzten Spitzen des Eisbergs.
Diese Entdeckung des vermeintlich Eigenen (patriotisch, deutscheuropäisch, abendländisch) ist für viele offenbar ein Glück, das ich mir nur mit einer tiefen Verunsicherung und Sinn-Leere erklären kann. Für die Kernbelegschaft der Pegida-Demonstrationen sprudelt aus den montäglichen Zusammenkünften ein überraschender neuer Lebenssinn, der sich persönlich wie gesellschaftlich ausdrückt. Plötzlich hat man etwas, wo vorher nichts oder nur wenig war und das bestenfalls in den eigenen vier Wänden oder am Stammtisch existierte. Wer nicht mehr für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit kämpft oder kämpfen kann (und wie leicht sind diese Forderungen zu diskreditieren, da sie ja schon von ihren ersten Verkündern im Terror erstickt wurden), wenn sich also der Widerstand gegen die Zumutungen der Globalisierung nicht mehr durch politische, soziale, ökonomische Argumente in Parlamenten zeigt oder sich dort gar durchzusetzen vermag, dann wird das Nationale, dann wird jenes „Wir sind das Volk“ zum Notnagel. Und dann kann es ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen jene nationalen Protestierer geben – und die eigentlichen Fragen bleiben auf der Strecke. Die große Falle für alle Gegner des Pegida-AfD-Spuks wäre eine Verteidigung des Status quo. Als gäbe es jetzt nur noch ein Für oder Wider. Merkels Satz vom „Wir schaffen das“ hat mich irritiert, weil mir nicht sofort klar wurde, woher mein Unbehagen kam. Für einen Moment hielt ich es sogar für mein Ressentiment ihr gegenüber – bis mir klar wurde: Dieser Ansatz ist falsch, er muss scheitern. Denn so wunderbar verständlich und einfach und zupackend dieses „Wir schaffen das“ klingt, so impliziert es doch auch die Zeit danach, also das Geschafft-Haben, das Es-Hinter-Sich-Bringen, den Feierabend, den Urlaub – um dann das nächste Problem anzugehen. Die Situation der Ungleichheit unserer Welt ist aber nichts, das sich mit einem zupackenden Hauruck bis zum übernächsten Quartal schaffen lässt. Von Merkel ist offenbar – und nicht ganz überraschend – nicht mehr als ihr „Wir schaffen das“ zu erwarten. Und man sieht ja, welch Wutgeheul selbst das noch zur Folge hat. Im Endeffekt, und das zeigt sich ebenso schnell, ändert es nichts an der Situation. Den Aufgenommenen steht das Drama der anderen gegenüber, die jetzt chancenloser denn je zwischen den Staaten und Gesetzen zerrieben werden. Eine Alternative wäre es gewesen zu sagen: Lasst uns endlich damit beginnen, die Ungleichheit dieser Welt zu bekämpfen. In der Notsituation können wir viele aufnehmen. Aber es geht doch darum, das Erforderliche, das Notwendige zu tun, also die tatsächlichen Fluchtursachen zu bekämpfen. Zu den Fluchtursachen gehören nicht die Schlepper und Schleuser, sondern das Elend, auch das Elend, das Europa über Jahrhunderte bis heute angerichtet hat und anrichtet. Aus dem Auswärtigen Amt (also dem deutschen Außenministerium) kommt jetzt endlich und richtigerweise ein Entwurf, der vorsieht, dass bis 2020 die Hälfte aller deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten die „menschliche Sorgfalt“ bei ihren Handelsbeziehungen gewährleisten soll. Selbst wenn dieser Entwurf ohne Einschränkungen auf den Tisch käme und man beginnen würde, ihn durchzusetzen – der Ist-Zustand, der damit indirekt eingestanden wird, macht Schaudern.
Ich weiß nicht, ob das jetzt ein gescheiter Brief geworden ist oder überhaupt ein Brief. Aber ich dachte, ich müsste Dir von diesen Dingen schreiben, um auch über anderes schreiben zu können.
Sei und seid beide herzlichst gegrüßt von mir und uns
Dein Ingo
P.S. Ich weiß nicht, ob es den Roman von Uwe Timm Morenga auf Ungarisch gibt. Ein in jeder Hinsicht wunderbares Buch. Der Hintergrund der Handlung ist der Völkermord Anfang des 20. Jahrhundert an den Namas und Hereros, begangen durch die Truppen des deutschen Kaiserreichs im sogenannten „Deutsch-Südwestafrika“. Ich wünsche mir eine deutsche Regierung, die diesen Völkermord anerkennt, sich entschuldigt und die Nachfahren finanziell in einem Maße unterstützt, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Das wäre auch Ursachenbekämpfung.
16. Juni 2016 – Antwortbrief nach Berlin versendet (Győri an Schulze)
Lieber Ingo,
mir ist ein wenig bange, wenn ich Dir diesen meinen ersten Brief schreibe, denn eine Korrespondenz ist etwas ganz anderes als das, wie wir bisher kommuniziert haben. Im Gespräch sind wir ganz gut, aber Briefe – und zwar auch für die Öffentlichkeit gedachte Briefe – haben wir uns noch nicht geschrieben. Ich weiß auch nicht, ob der Inhalt, den ich nun „erstelle“, auch fürs Publikum interessant genug sein wird. („Inhaltsersteller“, so etwa heißt es auf Ungarisch, ist eines jener Worte, von denen mir die paar restlichen Haare zu Berge stehen. Vor etwa zehn Jahren haben die neuen Chefs im Rundfunk angefangen, es für uns anzuwenden. Ich, einfältig, wie ich bin, hatte über drei Jahrzehnte lang im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschuftet, und erst kurz vor meinem Rausschmiss erfahren, dass ich kein Redakteur, kein Journalist, kein Moderator, Rundfunkmann oder so Ähnliches war, sondern eben ein „Inhaltsersteller“. Überall neue Kategorien, neue Termini, die man sich nach x-Jahren schwer und ungern merkt, und durch deren Gebrauch eine neue Generation ihre Distanz zu den Fossilien – wie mir – zum Ausdruck bringt. Ich lebe jetzt in einer Welt, deren Sprachgebrauch, Worte und Begriffe mir nicht mehr bekannt und heimisch klingen. Eine merkwürdige Situation: Ich lebe seit 62 Jahren im selben Land, in derselben Stadt, seit etwa 37 Jahren sogar in derselben Wohnung – und habe Heimweh.)
Das letzte Mal, als wir bei Dir in Berlin zu Besuch waren, sprachen wir viel über die Lage in Ungarn. Sollte ich dieses Gespräch fortsetzen, und zwar nicht nur zwischen uns, sondern auch für unsere potenziellen Leser, so müsste ich ernsthaft nachdenken, wo ich denn anfangen sollte, und würde mir vorkommen wie die Verwandten in einer Fernsehserie meiner Kindheit, in der der schwerhörige Großvater immer wieder fragte, worum es eigentlich gehe, erhielte aber immer wieder die Antwort: „Es ist zu lang, Opa!“ Es ist also zu lang, aber ich versuche es, lieber Opa.
Meine 26-jährige Tochter lebt seit Januar dieses Jahres in London, wo sie das Kapital ihrer auf der Budapester Universität erworbenen Kenntnisse in einem Café verzinsen lässt, d.h. sie kellnert, kocht Kaffee – und hoffentlich bald wird sie auch weiterstudieren. Sie ist bei Weitem nicht die einzige junge Ungarin, die in den großen europäischen Großstädten ihr Glück sucht. Seit 2010 haben über eine halbe Million meiner jungen, qualifizierten Landsleute Ungarn verlassen, viele von ihnen auf Nimmerwiedersehen. In einem Land von nicht einmal zehn Millionen Einwohnern ist das nicht wenig. Ob sie dann irgendwann wiederkommen, ist sehr fraglich, denn sie werden sich aller Voraussicht nach an die dortige Gesellschaft anpassen, heiraten, Kinder bekommen usw.
(Wie Du siehst, habe ich auf „Onkel-Pepin-Modus“ umgeschaltet. Onkel Pepin ist eine meiner Lieblingsfiguren in der Weltliteratur, er ist der Onkel von Bohumil Hrabal. Laut wikipedia.de: „Hrabal war kein besonders guter Schüler. Wesentlich mehr als für die Schule interessierte er sich für das bunte Geschehen in der Brauerei und für Josef, genannt Onkel Pepin, den Bruder seines Stiefvaters Francin, der ‚zu Besuch kam und bis zum Tode blieb‘. Anhand des Redeflusses von Onkel Pepin hatte Hrabal seinen literarischen Stil geschult, für den er das Phantasiewort ‚Bafeln‘ (tschechisch ‚pabit‘) erfand.“
Nun geht es weiter mit dem Bafeln: Meine oben erwähnte Tochter wurde in dem Café von einem jungen Italiener angesprochen und gefragt, aus welchem Land sie gekommen sei. Alíz antwortete darauf wahrheitsgemäß, dass sie Ungarin sei. Der junge Mann entgegnete: „Kein Problem, du kannst trotzdem ein anständiger Mensch sein …“
Wo sind die Zeiten hin, als ich 1990 auf einem Empfang in Cannes war? Wir waren zu dritt, ungarische Journalisten, und ein Westdeutscher mit einem Glas Champagner in der Hand kam auf uns zu und sagte, er wolle sich bei uns, Ungarn, für den historischen Dienst bedanken, den wir im Jahr davor, d.h. 1989, Deutschland geleistet hatten. Nach einer Sekunde betretenen Schweigens sagte ich ihm, dass ich es auch für „nett“ hielt, was Ungarn tat, ich sei aber damals gerade auf Urlaub gewesen, und der ganze Verdienst gehöre meinem neben mir stehenden Chef, Herrn Doktor Sós, er war zuständig für alles, was mit den Leuten aus der DDR passierte, allein bei ihm solle er sich bedanken. Der Mann mit dem Champagner lachte mit uns.
Aber Spaß beiseite, in den neunziger Jahren war es nicht unangenehm, im Ausland Ungar zu sein, man wurde überall mit viel Sympathie aufgenommen. Diese Sympathie reichte mehr oder weniger bis 2010. Etwa ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt Orbán Viktors fing es an, dass ich von meinen ausländischen Freunden und Bekannten immer häufiger zur Seite gezogen und leise, manchmal sogar mitleidsvoll gefragt wurde, was eigentlich bei uns vor sich ginge. Heute wird man nicht mehr gefragt, entweder sind den Freunden die Fragen ausgegangen, oder sie denken, es ist taktvoller, überhaupt nichts zu fragen. Oder man nimmt einfach zur Kenntnis, dass die Ungarn halt so seien. Aber, wie das der bereits zitierte junge Italiener so treffend feststellte, es gibt auch unter uns anständige Leute.
Was Du über die Anzeige und die darin stehende Formulierung „vom dt. Paar gesucht“ schreibst, ist traurig, kommt mir aber überhaupt nicht unbekannt vor. Der alltägliche Rassismus ist und war schon immer Teil des ungarischen Lebens. Was den Rassismus anbelangt, in diesem Bereich ist das heutige Ungarn unschlagbar, Deutschland kann uns in dieser Hinsicht nicht das Wasser reichen. Erschreckend ist natürlich der Vordrängen der AfD, mich ekelt die Pegida an, und auch der Ausgang der Präsidentschaftswahl in Österreich macht mich nicht richtig glücklich. Beinahe wurde ein hartgesottener Populist zum Präsidenten gewählt. Österreich war mir übrigens nie ganz koscher. Nicht nur das alte Bonmot, nach dem aus Hitler ein Deutscher und aus Beethoven ein Österreicher gemacht wurde, aber auch die Waldheim-Affäre und Haiders Aufstieg mahnen uns: Auch bei unserem Nachbar ist vieles möglich. Demokratien, die wir als funktionstüchtig erachteten, zeigen plötzlich, wie empfänglich sie für Ideen sind, die sie früher oder später zerstören. Europa ist zurzeit ratlos und ähnelt mehr und mehr dem Europa der 30er Jahre. Vor unseren Augen zeichnen sich diverse, einander verstärkende Tendenzen ab. Darunter eine braune Revolution, die in Ungarn und Polen bereits gesiegt hat, anderswo ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie siegt, wenn man nicht aufpasst. Und diese braune Revolution wird von der Europäischen Union, u.a. aus deutschen Steuergeldern, mitfinanziert. Orbán könnte beispielsweise ohne die finanzielle Unterstützung Brüssels keinen „Freiheitskampf“ gegen Brüssel führen.
Die braune Revolution baut neben dem traditionellen Antiziganismus und Antisemitismus auch auf die zunehmende und von Orbán geschürte und benutzte Xenophobie, die sich vor allem in seiner Flüchtlingspolitik zeigt. Gäbe es keinen Flüchtlingsstrom, müsste man ihn erfinden! Orbán kommen die Flüchtlinge sehr gelegen. In seinem „Freiheitskampf“, in dem er unser von überall her bedrohtes und von Feinden (Hauptfeind: Brüssel) umzingeltes Land bisher tapfer und heldenhaft verteidigen konnte, gibt es noch einen weiteren ernstzunehmenden Feind, den „Migranten“, wie die Flüchtlinge im „Neusprech“ (Orwell) genannt werden. Die wollten alle nach Ungarn, damit sie den anständigen Ungarn die Arbeit nehmen, die Frauen und Töchter vergewaltigen, sich an den Kindern vergreifen können – das will die Regierung suggerieren. Seit Anfang des Vorjahres sind überall in Ungarn Riesenplakate zu sehen, auf blauem Hintergrund sind weiße Buchstaben, die die „Migranten“ warnen, sie sollten nicht den Ungarn Arbeitsplätze wegnehmen, sie sollten unsere Kultur respektieren, wenn sie nach Ungarn wollen, usw. Fraglich ist es natürlich, was die Flüchtlinge, die Paschtu oder Arabisch als Muttersprache haben, von all diesen ungarischen Aufschriften verstehen … Natürlich nichts, und es ist auch gut so, denn die Message gilt den Ungarn und schürt auf eine sehr primitive Art den Fremdenhass. Hinter den „Migranten“ stünden – laut der Orbánschen Propaganda – „Hintermächte“, über die der Ministerpräsident in seinen allfreitäglichen Rundfunkappellen zu dozieren pflegt, und an deren Spitze György (George) Soros steht. Soros, der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und auch noch in den frühen 90ern mit seinen großzügigen Stipendien zu den Studien aller Fidesz-Funktionäre beigetragen hatte (Orbán selbst genoss damals ein Soros-Stipendium in Oxford), ist heute der Feind Nr. 1, der den Flüchtlingsstrom höchstselbst organisiert, um dadurch Europa zu destabilisieren und zu zerstören. In der Regierungspropaganda ist Soros die Verkörperung des Bösen. Der heimliche Antisemitismus der Fidesz-Propaganda fand ein ideales Feindbild: ein reicher, liberaler Jude, ein „Wir-wissen-schon-wer“, der hinter den Geschehnissen der Weltpolitik steht, eine ständige Bedrohung für die anständigen Nationen darstellt und vor dem sich die Welt verteidigt werden muss. Wer den Kampf gegen Soros führt, wirst Du erraten, lieber Ingo.
Aber lass uns auf die Wilmersdorfer Wohnungssuche des „dt. Paares“ zurückkommen. Vor zwei Jahren habe ich meiner schon zitierten Tochter eine kleine Wohnung in Budapest gekauft. Sie besichtigte aus diesem Anlass sehr viele Wohnungen, traf Eigentümer und Immobilienmakler. Was sie darüber berichtete, kam einer soziologischen Feldstudie gleich. Ein sich immer wiederholender Moment der Wohnungsbesichtigungen war, als die Schilderung der Vorzüge des zu verkaufenden Wohnobjektes mit dem Satz begann, das Haus sei zigeunerfrei. Meine Tochter mit ihrem hellen Teint und honigblonden Haar antwortete darauf jedes Mal, wie schade das sei, denn sie selber sei Roma. Mit dieser Produktion gastierte sie in den inneren Bezirken von Budapest. Aber Budapest ist noch einigermaßen Ok. Der Rassismus zeigt sein brutalstes Gesicht auf dem Land, wo die Roma-Bevölkerung aussichtslos ihrem Schicksal ausgeliefert ist, ohne Arbeit und ohne jegliches Einkommen, wo auf den unasphaltierten Straßen uniformierte, rechtsradikale Schlägertruppen grassieren, und „für Ordnung“ sorgen, und wo 2008/09 eine beispiellose Mordserie an Roma-Familien verübt wurde. (Der Dokumentarfilm Urteil in Ungarn, der über den Prozess der Mörder berichtet, wurde auch in Deutschland gezeigt.) Was mich damals schockierte (und bis heute schockiert), war die totale Gleichgültigkeit der Mehrheitsgesellschaft. Unter den Opfern gab es auch einen fünfjährigen Jungen, der mit seinem Vater aus ihrem vorher angezündeten und bereits brennenden Haus flüchtete, als ihn die Kugeln der Attentäter in den Rücken trafen. In einem normalen Land fände nach so einem Fall ein Massenprotest statt, geleitet vom Staatschef und mit Teilnahme aller Kirchen und demokratischen Parteien. Bei uns gab es eine mickrige Kundgebung, an der nicht einmal ein paar Dutzend Leute teilnahmen. Wie schön wäre es, wenn ich die gehässigen Kommentare im Internet vergessen könnte.
Es gibt mehrere Versuche für eine Definition des heutigen Ungarns. Einige Definitionen scheinen sehr zutreffend zu sein. Der Soziologe Bálint Magyar, ein prominenter Vertreter der demokratischen Opposition vor 1989, später Abgeordneter der Liberalen Partei SZDSZ, Minister für Kultur und Unterrichtswesen der linksliberalen Regierungen, gab bereits drei Studienbände über den ungarischen „Mafiastaat“ heraus. Mafiastaat ist eine genaue Benennung für Orbanistan. Es ist ein Führerstaat, ein autoritäres Regime mit charakteristischen Zügen auch des Feudalismus, gesteuert von einer engen Mafia, mit einem Paten an der Spitze. Ohne den Segen des Paten kann keine Entscheidung getroffen werden, er sichert seine Macht dadurch, dass er die miteinander rivalisierenden, auf ihn eingeschworenen Machtgruppierungen gegeneinander ausspielt. Sollte ihm eines Tages etwas zustoßen, würde sich herausstellen, dass der Staat inzwischen aufgehört hat zu existieren. Alle Kontrollsysteme sind ausgeschaltet, der demokratische Rechtsstaat, das System der „Checks and Balances“ funktioniert nicht mehr, alle Schlüsselfunktionen sind durch Orbáns Vasallen besetzt, seine Leute sitzen im Verfassungsgericht, in der Staatsanwaltschaft, in der Medienbehörde, die alle Rundfunk- und Fernsehstationen kontrolliert und gleichschaltet. Orbán herrscht über alle Bereiche des Lebens, von der Wirtschaft bis hin zur Öffentlichkeit.
Genau heute vor 26 Jahren, am 16. Juni 1989, wurden der 1958 an selben Tag hingerichtete Ministerpräsident Imre Nagy und die anderen Märtyrer der Vergeltungsjustiz nach der Niederschlagung der Revolution von 1956 feierlich neu bestattet. Es war der katarthischste und erhabenste Augenblick in der jüngsten ungarischen Geschichte, eine Zäsur, ein Moment des Neubeginns. Es gab eine große Menschenmenge auf dem Budapester Heldenplatz, in fünf Särgen lagen die Leichname der vor 32 Jahren hingerichteten Politiker, der sechste Sarg war leer. Der junge Redner, der im Namen der jungen Generationen sprach, hieß Viktor Orbán. Er sagte, im leeren Sarg sei die Jugend begraben. Wie ein Freund von mir neulich feststellte, konnte man damals noch nicht wissen, dass es nicht nur seine Meinung, sondern sein späteres Regierungsprogramm gewesen ist.
Lieber Ingo, ich weiß nicht, ob ich Dir etwas Neues sagen konnte …
Es soll genug sein, so viel für heute, den 16. Juni.
Liebe Grüße von uns beiden,
Dein László
Brief nach Budapest versendet (Schulze an Győri)
Lieber László,
hab Dank für Deinen Brief. Ich sitze gerade auf dem Köln-Bonner Flughafen, draußen regnet es Strippen und kalt ist es auch. In Klagenfurt (wo es gestern um die 35 Grad Celsius waren, wie zuvor schon in Berlin) hielt ich eine Laudatio auf Marcelo Backes, den brasilianischen Kollegen und Übersetzer, der den österreichischen Staatspreis für seine Musil-, Schnitzler-, Ransmayer-Übersetzungen bekam. Schon kurios, über jemanden zu sprechen, dessen Arbeit, für die er den „Orden“ erhält, ich gar nicht beurteilen kann. So habe ich versucht, Geschichten vom Übersetzen und von unseren Begegnungen und gemeinsamen Reisen (vor allem an den Amazonas) zu erzählen. Für Neue Leben, das ja viele Fußnoten hat, in denen der zweifelhafte Herausgeber namens Ingo Schulze das Geschehen kommentiert, hat Marcelo nicht nur sachlich-hilfreiche Anmerkungen für brasilianische Leser eingefügt, sondern die Gelegenheit genutzt und eigene Geschichten hinzugefügt, so dass ich jetzt ein Buch habe (zumindest auf Brasilianisch), in dem ich nicht alle Episoden und Geschichten kenne. Mir gefällt dieser Zustand (ich kannte auch lange das Nachwort von Péter Esterházy zu Simple Storys nicht). Marcelo muss wohl unter anderem Analogien zwischen meiner Figur Enrico Türmer und seinen eigenen Erlebnissen als Junge vom Lande gefunden haben. Mit 16 Jahren kommt er zum ersten Mal in die Stadt und weiß nicht, wie ein Fahrstuhl funktioniert, weshalb er seinen Koffer die Treppen hinaufschleppt und später darauf lauert, dass jemand kommt, der die Bedienung so eines Fahrstuhls schon beherrscht. Als ihm das endlich gelingt, ist er im nächsten Moment bereits erbittert über die Simplizität des Vorgangs. Das wiederum ist auch mir vertraut. Als Kind habe ich mir Rolltreppen als etwas sehr Wunderbehaftetes imaginiert und wollte später gar nicht glauben, dass diese Dinger so einfach und logisch nachvollziehbar gemacht sind.
Der nächste Termin, auf den ich mich vorzubereiten habe, ist sagenhafterweise erst Ende August in Weimar, also liegen ganz unglaubliche zwei Monate zum Arbeiten vor mir – wenn auch mit familiärem Allerlei bestückt, das Schönste darunter: 8 Tage Ende Juli in St. Petersburg mit Jutta und den drei Kindern. Ich habe dieser Stadt so viel zu verdanken. Als ich jetzt im Mai für drei Tage wieder dort war (das erste Mal seit 2003!), erschien sie mir „normalisiert“, zum Glück! Früher fand alles auf der Straße statt, das Elend und die Ganoven und der ganze Handel und Wandel zeigten sich öffentlich. Jetzt ist das auch hier hinter die Fassaden gedrängt worden. Schockiert war ich nur von den Erzählungen, wie rapide bergab es in den letzten zwei, drei Jahren gegangen ist. Die Inflation hat die Gelder halbiert. Als ich meine Freunde fragte, ob wir uns im Juli wiedersehen könnten, lachten sie. Natürlich seien sie da. Niemand habe mehr Geld, um in Urlaub zu fahren – bestenfalls auf die Datscha. Ich bin neugierig, wie die Kinder auf Russland reagieren werden (Jutta kennt nur Moskau). Deren Sehnsüchte gehen (ganz wie bei mir damals) natürlich gen New York etc. (nur Franziska wollte eine Zeit lang unbedingt nach China, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass man dort – im Gegensatz zu hier, bitteschön!! – beim Essen Schlürfen, Schmatzen und Kleckern dürfe). Es ist für mich immer wieder verblüffend, mit welcher Selbstverständlichkeit die westliche Erzählung die östliche Erzählung dominiert.
Die Veranstaltung Ende August in Weimar, vom Nationaltheater initiiert, soll mit Jugendlichen sein. Ich bin eingeladen, um über unsere Beschäftigung mit der Ästhetik des Widerstands Mitte der Achtziger in Jena zu sprechen – und natürlich über das Buch selbst (in jener Zeit entstand ja auch die Freundschaft zwischen Dietmar und mir! Ihr kennt Euch noch länger, oder?). Ich wunderte mich bereits freudig ungläubig, dass die Jugendlichen das Buch tatsächlich gelesen haben sollen, aber die Nachfrage ergab, dass dem nicht so ist, das heißt sie wissen nicht, wer da kommen wird, nur meistens seien es halt Jugendliche. Aha. Es geht allgemein um „Widerstand“ – und nun stelle ich mir vor, wie ich da vor ihnen auf einer Art Nebenbühne stehe … Und was mache ich, um vor ihnen nicht zur lächerlichen Figur zu werden? Geschichten erzählen. Weil sich an Geschichten am besten zeigen lässt, dass Widerstand immer mit Wahrnehmung zu tun hat, mit einem Sich-Wundern, einem Unwohlsein. Und dass man sich selbst und seine Wahrnehmung ernst nehmen muss, um zu widersprechen, um anders zu handeln. Und dass es allein nicht geht oder schier unmöglich ist. Es braucht zumindest einen Zweiten, einen Zeugen, der für den Zeugen zeugt. Das wird einem sehr klar, wenn man das Andersen-Märchen von Des Kaisers neue Kleider liest. Da geht ja am Ende auch erst mal alles so weiter wie zuvor. Vorerst.
Immerhin gibt es die 89er-Erfahrung, aber eben auch die 90er etc. etc. Merkwürdigerweise sind die schnellen Veränderungen leichter zu begreifen als jene, die sich allmählich vollziehen, jene, die hinter unserem Rücken, unter unseren Füßen geschehen. Heute bin ich schon fassungslos, wenn sich innerhalb eines Jahres Selbstverständlichkeiten verschieben. Ich kann gar nicht sagen, dass ich heute unbedingt neue Einsichten gewänne. Eher scheint es mir so, als würde ich längst Bekanntes (Binsenweisheiten!) endlich begreifen, körperlich begreifen. Eigentlich geht es immer um die falschen Selbstverständlichkeiten, die weiter und weiter transportiert werden. Die halte ich immer schlechter aus, ob im Kino oder Fernsehen, Radionachrichten … Ich erlebe es als Last, als Be-Lastung, als Schwere, die sich auf mich senkt oder in mir ausbreitet. Die Macht der Tradition ließe es sich auch nennen. Ich muss daran denken, was Marcelo gestern über Rousseff, die brasilianische Präsidentin, sagte: Ja, sie und Lula waren korrupt, sie mussten krumme Geschäfte machen, um an der Macht zu bleiben, aber sie haben damit erreicht, dass dreißig Millionen Brasilianer über die Armutsschwelle kamen. Diejenigen, die jetzt an der Macht sind, betrügen seit fünfhundert Jahren und regen sich darüber auf, wenn von der winzigen Sozialhilfe in den Favelas plötzlich Kühlschränke gekauft werden oder die Reichen statt fünfzehn Hausangestellten nur noch fünf Angestellte für einen Drei-Personen-Haushalt beschäftigen können. Es sind diese „500 Jahre“, die mir immer drückender erscheinen. Man könnte es auch das römische Recht nennen.
Und was mache ich? Mitunter erscheint mir das eigene Schreiben rückblickend als zu harmlos. Ich hoffe natürlich, dass es das nicht ist. Glücklicherweise ist der Text immer klüger als der Schreiber, und es gab immer mal Leser, die das auch bemerkten (und natürlich gibt’s auch die anderen, bei denen ich denke, was haben sie bloß für ein Buch gelesen!).
Das Schreiben am Roman-Manuskript ist für mich diesmal wie eine Art Forschungsarbeit (oder mehr denn je wie eine Forschungsarbeit). Der Antrieb dazu kommt von der Erfahrung her, dass wir heute viel zu vieles für selbstverständlich nehmen, weshalb unser Denken und Fühlen und Handeln beängstigend eingeengt wird. Schelmenroman oder Picaro-Roman beschreibt vielleicht noch am besten das, was ich gerade versuche, wobei das Spektrum zwischen dem Idiot von Dostojewski und dem Simplicius von Grimmelshausen hin und her schwankt – gerade vor Letzterem gehe ich als Leser nach jeder Seite förmlich auf die Knie!
Ich lasse meinen Helden als sozialistisch-kommunistisches Waisenkind im Alter von 12 Jahren 1974 vor die Augen des Lesers treten. Die Handlung sollte sich bis in unsere Tage erstrecken. Jetzt merke ich aber, dass Ende der Neunziger eigentlich bereits alles klar wird.
Weil mein Held Peter den Sozialismus und den Kapitalismus ernst nimmt, erfährt sein Lebensweg merkwürdige Wendungen.
Was mich interessiert, ist nicht das Scheitern im deutschen Osten aufgrund falscher Politik etc. Mein Held wird insbesondere nach ’89 ausschließlich Erfolg haben, das Geld und das Kapital fliegen ihm nur so zu. Sein Problem ist gerade der Erfolg. Denn ihn befriedigt eine Arbeit nur dann, wenn sie dem Wohle der Gemeinschaft dient. Die private Mehrung des Besitzes ist eine Kategorie, bei der er nichts empfindet, aber anerkennen muss, dass das bei anderen Menschen anders ist. Nur mühsam hat er sich von einem Schlitzohr überzeugen lassen, dass eine Gesellschaft, die auf Privateigentum an Produktionsmitteln setzt, eher einen Weg in die glückliche Zukunft verspricht als der bisherige real existierende Sozialismus. Nun beschreitet er diesen Weg voller Engagement und hofft, seinen Beitrag für die Gesellschaft dadurch zu leisten, dass er viel Geld verdient und viel Geld ausgibt.
(Jetzt schon wieder in Berlin, auf dem Lande, herrliche Hitze, im Radio und überall der Brexit – dass ausgerechnet die neoliberalen Vorreiter USA und Großbritannien mit ihren Konservativen jetzt neue Mauern bauen, um sich gegen das zu schützen, was sie angerichtet haben.)
Große Probleme hat Peter, außerhalb der geltenden Ökonomie Gutes zu tun, also durch Spenden verschiedener Art, weil er merkt, dass dies in aller Regel nur notdürftig die unguten Auswirkungen zu lindern versucht, die von der Art und Weise der Produktion verursacht werden. Eine Frage für ihn wird sein: Ist eine Aktie etwas Gutes? Unter welchen Bedingungen oder wie lange ist sie das? Oder liegt der Fehler schon in der Grundkonstruktion Aktie. (Bei Esterházy fand ich in der Markus-Version den lapidaren, alles zusammenfassenden Satz: „Nützlich ist, was für jemanden gut ist. Oder für alle?“) Früher dachte er, der Betrieb müsste den Beschäftigten gehören. Diesen Gedanken verbietet er sich jetzt, aufgrund der DDR-Erfahrungen (obwohl er dort ja gerade nicht den Beschäftigten gehörte). Seine Haltung ist: Wenn das jetzige System scheitert, dann scheitern wir überhaupt. Er wird in dem vielen Geld, das in privaten Händen liegt und auf der Suche nach einer maximal gewinnbringenden Anlage ist, das Grundübel erkennen. Das Geld als Henker aller Dinge. Am Ende gibt es verschiedene Feuer, verschiedene Scheiterhaufen. Er wird sein Geld verbrennen.
Lieber László, ich breche hier erst mal ab, ein vielleicht etwas diffuser Brief, dem das Unterwegssein anzumerken ist.
Sei umarmt und kurz vor dem Sprung in den See herzlichst gegrüßt,
Dein Ingo
Brief nach Berlin versendet (Győri an Schulze)
Lieber Ingo,
danke für Deinen Brief. Du hast mir ziemlichen Appetit auf Dein neues Buch gemacht. Dein Protagonist, Peter, ist offensichtlich einer von uns, die in einer anderen Welt aufgewachsen ist, als in der wir später zu leben und zu arbeiten das Glück hatten, und deshalb einen neuen Sozialisationsprozess durchmachen musste. Ich bin sehr gespannt.
Zufällig habe ich heute früh im Schwimmbad einen ehemaligen Schulkameraden getroffen, den ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Er ist Mathematiker geworden und lebt seit vielen Jahrzehnten in den USA. Sein Vater war Professor für Geschichte, ein großer Name damals. Wir haben über Gott und die Welt geredet und über unsere Klassenkameraden geplaudert. Einer, damals ein sehr engagierter KISz-ler (KISz hieß der kommunistische Jugendverband, die ungarische Entsprechung zur FDJ), ist ein glühender Nationalist und Kommunistenfresser geworden, ein anderer, der auch ein glühender Jungkommunist war, ist heute ein frustrierter Altkommunist. Er selbst, dessen Vater Marxist war, sagte, er habe heute noch viel von seiner damaligen Sichtweise, er suche im Hintergrund überall Wirtschaftsinteressen, denke in den in jungen Jahren erlernten Kategorien und habe Zweifel, wenn er von der Bedeutung historischer Persönlichkeiten hört. Während ich nachher im Wasser in meinem onkelhaften Tempo mein Pensum absolvierte, grübelte ich darüber, wie ich selbst in meiner Gymnasiastenzeit gewesen bin. Ich glaube, zu der Zeit war ich sehr unreif. Weltanschauliche Fragen interessierten mich zwar, aber während einige (in der Tat nicht viele) Klassenkameraden sehr aktiv in der KISz waren, verhielt ich mich ziemlich passiv auf diesem Gebiet. Da ich atheistisch erzogen war, bedeutete mir die Religion gar nichts. Zu Hause haben wir manchmal über unser Judentum gesprochen, allzu jüdisch waren wir aber nicht, wir lebten, wie andere assimilierte jüdische Familien in einer weder allzu offensichtlich antisemitischen, noch sehr freundlichen Umwelt. Meine Eltern waren links und hielten Solidarität für wichtig, was bei einer Familie von Holocaust-Überlebenden normal ist. Trotz aller Kritik, die ich meinen Eltern gegenüber hatte, waren diese Einstellungen auch für mich grundlegend. Ich kann mich einfach nicht erinnern, was ich damals über die Welt gedacht habe. Während meines Studiums habe ich nicht allzu viel Schaden im Marxismus angerichtet, was vermutlich an meiner geistigen Einfalt (manche würden es ’Behinderung’ nennen) lag und liegt: ich hatte schon immer einen unterdurchschnittlichen Sinn und ein sehr beschränktes Interesse für die damals an der Uni gelehrten theoretischen Fächer, und ich bin dagegen einfach immun geblieben. Theoretisch indoktriniert war ich also nicht, habe ich beim Schwimmen und später in der Sauna festgestellt.
Es ist hochinteressant, was Du über Marcelo Backes‘ Fußnoten zu Neue Leben geschrieben hast. Für mich bleibt es ein ewiges Problem, ob man das darf oder nicht. Die Mehrheit Deiner Kollegen ist gegen Fußnoten (diese Meinung verstehe ich übrigens auch), es ist dennoch sehr oft unumgänglich, dass man zum übersetzten Text Fußnoten schreibt. Das letzte Mal habe ich zu Lutz Seilers Kruso vorgeschlagen, uns einiger zu bedienen, denn es gibt einige Stellen, die ohne sie unverständlich wären. Ein Beispiel: der Stasi-Mann verhört den Protagonisten und sagt: „Sicher haben Sie gehört von unserem Mikroprozessor, 32-Bit! Ochs und Esel!” Der deutsche Leser, der das Privileg hatte, im Sommer 1989 in der DDR als Erwachsener leben zu dürfen, wird sich wohl an diesen Ochs und Esel-Satz Erich Honeckers erinnern, laut dem den Sozialismus in seinem Lauf weder Ochs noch Esel aufhalte. Was soll aber damit der Übersetzer machen? Ich selbst habe um die Erlaubnis des Autors gebeten, den ganzen Satz zu zitieren und dazu eine Fußnote zu schreiben. In Kruso habe ich mir auch an anderen Stellen die Freiheit genommen, Fußnoten zu schreiben, wie auch in anderen Übersetzungen, hie und da sogar bei Grass, der für Fußnoten nicht viel übrig hatte. Ich wusste von seiner Abneigung1, und doch brachte ich einige2 in meinen Übersetzungen unter. Übrigens fällt mir zu diesem Problem ein Rundfunkinterview mit Péter Esterházy ein. Er antwortete auf meine Frage, ob es für ihn kein Problem sei, dass die spanischen oder japanischen Leser seine sehr vielen und sehr feinen Pointen und Anspielungen ohne kommentierende Fußnoten nicht verstehen würden, er antwortete also, dass es ihm nichts ausmache, die verstünden dafür andere Pointen und Allusionen. Es war für mich auch als Übersetzer ein einleuchtender Satz, einerseits für seine Denkweise und Generosität, andererseits dafür, wie Literatur funktioniert. Er sagte ein anderes Mal auf die Frage, wie die ideale Übersetzung seiner Texte sei, in einer idealen Übersetzung würden ausschließlich ungarische Worte vorkommen, und zwar in derselben Reihenfolge, in der er sie aufs Papier gebracht hatte. (Ein ermutigender Satz für seine Übersetzer…)
Esterházy fällt mir aber nicht etwa zufällig ein. Ich denke in letzter Zeit ununterbrochen an ihn. Die Reaktionen auf seinen Tod zeigen, dass er nicht nur für mich oder für meine Freunde und Bekannten vielleicht die wichtigste (nicht nur schriftstellerische) Gestalt in Ungarn gewesen ist. Er war für sehr viele von uns der Orientierungspunkt. Eine One-Man-Institution. Unser kluger, älterer Bruder. (Als Vater-Ersatz taugte er nicht, die Rolle hätte er sicherlich zurückgegeben.)
Am Abend nach seinem Tod gab es im Petőfi Literaturmuseum einen Gedenkabend. Hunderte sind gekommen mit Kerzen und Blumen, Du kennst das Museum, es war total voll, alle Säle waren geöffnet, und sogar im Treppenhaus saßen Leute. Freunde, Kollegen und Verehrer lasen von sieben Uhr bis Mitternacht im fünf-Minuten Takt selbstausgewählte Esterházy-Seiten. Wie ich am nächsten Tag las, gab es auch anderswo – unter anderem auch in Siebenbürgen – spontane Lesungen. Was ich nicht wusste: er schrieb eine Zeit lang regelmäßig Restaurantkritiken für eine gastronomische Zeitschrift. Die Redakteurin des Blattes las eine der Kritiken für uns vor. Es war alles witzig und sehr essentiell, was er seinen Lesern mitteilte. Die meisten aber lasen aus dem Opus magnum, der Harmonia caelestis vor.
Man wusste, wie krank er war, sein letztes Buch, Bauchspeicheldrüsentagebuch erschien etwa einen Monat vor seinem Tod, Mitte Juni eröffnete er noch die „Buchwoche” mit einer sehr schönen Rede für zwei Stimmen. Die andere Stimme war die seines langjährigen Freundes, des Komponisten und Saxophonisten, László Dés, der es sehr gut vermag, über literarische Texte zu improvisieren. Es war eine rührende Szene, eine Art Abschied, als sich die beiden nach der Rede umarmten. Es war auch Esterházys Wunsch, dass Dés bei seiner Beerdigung spielen würde. Ansonsten setzte er mit dem oben erwähnten Bauchspeicheldrüsentagbuch etwas fort, das man mit einiger Übertreibung Tradition nennen kann. Allerdings ist das Schreiben eines Krankheitstagebuchs nicht neu, Karinthy schrieb über seine Hirnoperation ein großartiges Buch mit dem Titel Reise um meinen Schädel, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. Ihm folgte der Lyriker Ottó Orbán, der seine Gehirnoperation „besang”.
Wir wussten also von seiner Krankheit, es war dennoch ein Schock, von seinem Tod zu hören. Ich selbst brach in Tränen aus, und wie ich nachher erfuhr, war ich damit nicht alleine. Dann folgte ein Tsunami von Facebook-Posts, tausende Erinnerungen an ihn. Was mir zuerst einfiel und ich meiner Frau gegenüber gleich erwähnte, war der erste Satz aus dem Produktionsroman: „Wir finden keine Worte.” Auch damit war ich nicht allein, das Facebook war voll von Esterházy-Zitaten. Am nächsten Tag brachte „Népszabadság” eine ganze Seite voll von Zitaten, lauter bekannte, von vielen von uns täglich gebrauchten Sätze für alle Lebenssituationen. Wir sprechen (vor allem meine Generation, die auch die seine ist) in Esterházy-Sätzen. Das sind unübertreffbar geistreiche, aphoristische Formulierungen. In den späten 80-er Jahren schrieb er in einem kleinen Feuilleton einen Satz, in dem er das politische kommunistische System zusammenfasste. In der zweiten Szene des zweiten Aufzugs von Hamlet sagt Polonius über Hamlets Benehmen: „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.” In der klassischen ungarischen Übersetzung von János Arany heisst es etwa: „Verrückte Rede, aber es enthält ein System (im Sinne von ‚Methode‘) drin. Esterházy machte eine klitzekleine Modifizierung: „Ein verrücktes System, aber es ist Rede drin” – so beschrieb er das Wesen des real existierenden Sozialismus. Ein viel zitierter Satz, der mit seiner Ironie das Regime genau beschrieb und zugleich lächerlich machte. Oder ein leiser Satz in der Zeit um die Wende: als sich die Politiker, und nicht nur die Politiker neu orientierten,kommentierte er die plötzlichen und unreflektierten Wandlungen, mit einer ironischen Bemerkung. Er vermeldete den „Stoßverkehr auf dem Weg nach Damaskus…”.
Esterházys Verhalten war vorbildlich, klug, witzig und elegant. Von einem Kollegen beim Rundfunk, dem ehemaligen Kameraden Péters in der Armee, habe ich einen frühen Fall hierzu gehört. (Zu unserer Zeit war es üblich, junge Männer, die nach dem Abitur und der gelungenen Aufnahmeprüfung einen Studienplatz bekamen, noch vor Beginn der Studien für elf Monate in die Armee einzuberufen. Es gab einige Kasernen, in denen man sich hauptberuflich mit dem Schikanieren der künftigen Intelligenz befasste. Mathematiker, Physiker, Philosophen, Literaten, Historiker, Sprachlehrer, Übersetzer, u.s.w. in spe absolvierten den Militärdienst in der süd-ostungarischen Stadt, Hódmezővásárhely.) Dort gab es regelmässigen politischen Unterricht, in dem unsere Politoffiziere uns über die Überlegenheit des Sozialismus dem Kapitalismus gegenüber aufklärten. In einer solchen Stunde war von der unerhörten gesellschaftlichen Mobilität im sozialistischen Ungarn die Rede. Um dies zu veranschaulichen, soll der Offizier auf Péter gezeigt und gefragt haben:
„Sagen Sie mal, Genosse Esterházy, was hat Ihr Vater vor 1945 gemacht?”
Worauf Péter geantwortet haben soll:
„Na ja, er hatte ein paar Acker Boden.”
„Und was macht er jetzt?”
„Er ist Übersetzer geworden.”
Der Politoffizier fühlte sich bestätigt und sagte:
„Na, sehen Sie, Genossen, der Vater des Genossen Esterházy war armer Bauer, und jetzt verrichtet er geistige Arbeit.”
Oder ein Satz, vielleicht aus dem Jahr 1990, oder kurz danach, als man im ersten frei gewählten Parlament über die möglichen Restitutionsgesetze diskutierte: der Sproß der größten Aristokraten- und Grundbesitzerfamilie paraphrasierte die Losung der Bauern nach der Bodenreform von 1945, nach der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Bodenverteilung: „Wir geben keinen Boden zurück!” Esterházy ließ in einem geistreichen Feuilleton wissen: „Wir nehmen keinen Boden zurück! (Zur Esterházy-Legende gehört auch, dass ihn seine Geschwister nachher gewarnt haben sollen: er solle bitteschön nur in seinem eigenen Namen sprechen…).
Was Ihr, lieber Ingo, die Ihr ihn nur als einen der größten postmodernen Schriftsteller gekannt habt, nicht habt mitverfolgen können, war seine Publizistik: er schrieb mit ziemlicher Regelmäßigkeit Artikel auch zu politischen Themen, wobei er irgendwie einen unfehlbaren Sinn dafür hatte, wie man auf bestimmte Sachen reagieren oder nicht reagieren, und worüber man sich hinwegsetzen oder nicht hinwegsetzen sollte. Eine fantastische Gabe. Immer ruhig bleiben, Humor, Würde und Contenance bewahren. Vor Kurzem, als er, selbst schwer krank, vom Tode gezeichnet, am Grab von Imre Kertész sprach, hatte er eine spitze Bemerkung fallen lassen wegen der großen Anzahl von Neuankömmlingen um das Sterbebett von Kertész. Es war ein einziger, eleganter und ironischer Halbsatz, ein Seitenhieb, gerichtet gegen die Regierungsmitglieder, die sich durch ihre Anwesenheit an der Beerdigung legitimeren wollten. (Eine andere Frage, ob daran auch Kertész selbst schuld war, der 2014 anlässlich des Nationalfeiertages am 20. August den Szent-István-Orden entgegennahm. Dies ist eine Auszeichnung, die 1946 abgeschafft und 2011 auf Vorschlag Viktor Orbáns wieder eingeführt wurde. Unter den letzten Trägern des Ordens befanden sich Reichsmarschall Göring, die beiden Aussenminister Ribbentrop und Ciano. Kertész, als Holocaust-Überlebender, hätte – glaube ich – diese Auszeichnung und von diesem Regime nicht entgegennehmen dürfen.)
Aber zurück zu Esterházy: Er war der Mensch, dem wir ähnlich sein wollten. In moralischen Fragen hatte er einen untrüglichen Kompass, der ihn zu großem Ansehen verhalf. Als Anfänger war er in vieler Hinsicht ein Außenseiter, der nichts mit dem bestehenden System zu tun hatte. Wie in einer der vielen Nachrufe steht, der Unterschied zwischen ihm und den anderen Schriftstellern sei, „dass er als Künstler nicht im Dialog mit dem System stand”. Er wollte es nicht stürzen, nicht verbessern, korrigieren, nein, er lebte in seiner eigenen Welt, als ob es das System nicht gäbe. Er war ein absolut freier Mensch.
Dies alles wäre aber ohne sein Œuvre natürlich total uninteressant, denn auch als Autor war er sozusagen ganz unser Mann. Es gibt in der ungarischen Literatur sehr große Schriftsteller und Dichter, aber keinen, der für mich und sehr viele andere so wichtig gewesen wäre, wie er. Ich weiß nicht, wie man in hundert Jahren darüber denken wird, aber ich bin nicht der einzige, der ihn zu den allergrößten Gestalten der ungarischen Literatur zählt. Und zwar von Anfang an. Ich kann mich genau erinnern, wie mich die erste Begegnung schockierte. Das erste, was ich von ihm las, war sein Produktionsroman. Es tat sich eine völlig neue Welt auf. Dieser Witz, diese Ironie, ja, diese Frechheit war damals, am Ende der 70-er Jahre völlig neu. Er hat einen ungewöhnlichen, neuen Stil gebracht, eine Stimme in einer Zeit, die man rückblickend als Anfang einer kulturellen Blütezeit betrachten kann, und zu deren wichtigsten Gestalten er gehörte. Es war irgendwie eine Befreiung, die die ganze Literatur umkrempelte. Lajos Parti Nagy, der virtuose Sprachkünstler der gegenwärtigen ungarischen Literatur sagte einmal, ohne Esterházy wäre sein Œuvre undenkbar, es soll Péter gewesen sein, der ihn und seine Kollegen befreite.
Sein Werk kennt Ihr, bis auf seine Publizistik ist alles auf Deutsch zugänglich. Es gibt aber noch etwas, was ich für sehr wichtig halte: seine selbstlose Hilfsbereitschaft und Kollegialität. Er machte schöne und originelle Gesten. Zu den berühmtesten gehört, als er zum 70. Geburtstag von Géza Ottlik den Roman, Schule an der Grenze auf ein Stück 57×77 Zentimeter großes Zeichenpapier abschrieb. Zeile für Zeile, Seite für Seite aufeinander. Eine Transkription nannte er das. Es war einerseits eine Hommage an Ottlik, andererseits eine Inbesitznahme der Tradition. Ich bin sehr stolz darauf, dass ich mit ihm auch neben den zahlreichen Interviews an einem grösserem Projekt arbeiten konnte. Anlässlich der Budapester Buchpremiere von P.O. Enquists Lewis Reise wurde an der schwedischen Botschaft eine Dinner Party veranstaltet. Ich führte an dem Tag ein langes Rundfunkinterview mit Enquist, wurde zu diesem Ereignis eingeladen und saß in der Nähe von Enquist und Esterházy, die sich offensichtlich sehr gut verstanden. Als dann das Kinderbuch Großvater und die Wölfe von Enquist erschien, ist mir dieser Abend eingefallen, und ich habe Péter angerufen, ob er Lust hätte, das Buch im Ungarischen Rundfunk vorzulesen. Die Idee gefiel ihm, und er sagte, er wolle schauen, ob er es „rampensaumässig” machen kann. Er las den Text und war Feuer und Flamme dafür. Wir haben die Aufnahmen an einigen Abenden gemacht (der Vormittag war ihm heilig, morgens setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb.) Er kam immer sehr pünktlich an, war sehr gut vorbereitet, und las mit großer Begeisterung und Einfühlungsgabe vor. Er schauspielerte nicht, vielmehr entdeckte er den Text zusammen mit seinen imaginären Hörern, die – wie es sich herausstellte – überhaupt nicht imaginär waren, denn die Sendung war ein großer Erfolg, Kinder und Erwachsene saßen an 18 aufeinanderfolgenden Abenden am Apparat, er selbst hörte es sich jedes Mal an und freute sich, wie ein Kind, denn – wie er mir sagte – seine Stimme kam in dem Kontext, der ihm als Kind so wichtig gewesen war: er hörte sich, als er ein Kind war, regelmäßig das Gute-Nacht-Märchen im Rundfunk an. Jetzt bekam er Gratulationen, Telefonate und Mails. Und es war für ihn sehr wichtig, dass er etwas für Enquist tun konnte. Zurückblickend auf die dreißig Jahre, die ich beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbrachte, war dies eines der schönsten Erlebnisse. Es wurde seitdem mehrmals wiederholt, und wird jetzt – wie ich höre – wieder aufs Programm gesetzt. Aber Esterházy hat sich nicht nur für Enquist eingesetzt. Er wusste um jeden, half jedem, nutzte sein Ansehen und seinen Einfluss, den Weg für weniger bekannte Kollegen zu ebnen.
Er wird uns fehlen. Die Welt ist seit dem 14. Juli 2016 noch beschissener.
Lieber Ingo, so viel für heute
Liebe Grüße,
Dein László
Brief nach Budapest versendet (Schulze an Győri)
Lieber László,
jetzt liegt die Beerdigung von Péter in Ganna schon über zwei Wochen zurück und ich könnte schwören, obwohl es recht unwahrscheinlich ist, dass ich ihn einmal sagen hörte: „Eine schöne Beerdigung“. Auf Deutsch gelesen sagt dieser Satz nichts, man muss ihn in seiner Stimme hören, also auch mit diesem, für uns Deutsche so angenehmen ungarischen Akzent, vor allem aber in dem Esterházy-Tonfall, der ein Lächeln nach sich zieht und mitunter ein Lachen, aus dem beinah folgerichtig noch ein liebenswürdiger Sarkasmus hervorspringt. Diese Unangemessenheit, die ein Tod immer mit sich bringt, erscheint mir in seinem Fall besonders groß. Wir dürfen weiter schreiben, er nicht.
Ich hätte gern den jungen Péter gekannt, den Jugendlichen, als er noch nicht ausgereift und fertig gewesen ist, wie er mir als Leser von seinem ersten Buch an gegenübertritt. Ich kann mir allerdings Péter Esterházy immer nur als Péter Esterházy vorstellen.
Gemessen an meinen literarischen Kriterien hat er die Quadratur des Kreises geschafft. Auf ihn trifft es zu, was für viele der „großen Stilisten“ gilt, der Stil ist der Mensch und umgekehrt. Aber er ist der darin liegenden Gefahr entgangen, nämlich zu erstarren und sich auf eine bestimmte historische Zeit und ein bestimmtes Milieu festzulegen (Thomas Mann war der Erfolg seines Felix Krull, den er ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende schrieb, peinlich, was ihn in meinen Augen ehrt). Die Bücher des Péter Esterházy sind immer unverkennbar Esterházy und zugleich grundverschieden. Seinen Stil nachzuahmen oder gar zu parodieren, gelingt wahrscheinlich nicht mal oberflächlich – und selbst wenn, am Ende denunzierte sich dieser Versuch selbst. Warum das so ist, kann ich nicht erklären – oder es endet in Allerweltsformeln wie frei, klug, artistisch, verzweifelt, mutig, unfertig, selbstbewusst, neugierig usw. usf. Im Grunde hat er die Prosa wie Lyrik behandelt. Ein Satz kann bei ihm eine ganze Geschichte oder ein Kapitel sein. Man kann ihn nicht überfliegen, etwas auslassen, schon gar nicht nacherzählen. Ich will nicht behaupten, dass es in seinem ganzen Werk nicht einen Satz gäbe, der sich nicht streichen ließe – obwohl man den erst mal finden muss. Doch bei ihm enthält jeder Satz auch die Anlage zum Ganzen, wie diese Stammzellen, aus denen alles werden kann. Seine Arbeitsweise, auch wenn ich nichts darüber weiß, muss ihn glücklich gemacht haben. Ich kann ihn mir nicht als Text-Arbeiter vorstellen, der für sein Pensum schuftet, eher als jemanden, der, wenn er unzufrieden beim Schreiben gewesen ist, den Eindruck hatte, noch nicht genug Freude, nicht genug „Gaudi“ aus dieser oder jener Passage für sich gewonnen zu haben – und damit für die Leser.
Glücklich muss er auch deshalb gewesen sein, weil es ihm leicht fiel, von Buch zu Buch zu kommen. Er bezeichnete das rücksichtsvoll gegenüber Kollegen als „Ich habe Glück gehabt, ich bin gleich ins nächste Buch reingerutscht.“
Überhaupt fällt mir, denke ich an ihn, sehr oft das Wort „Glück“ ein – so wie in der Rede des Erzabtes das Wort „Liebe“ offenbar sehr häufig vorgekommen sein muss. Das Glück (die Liebe), das er mit Gitta fand und letztlich wohl überhaupt mit seiner Familie hatte. Das Glück, früh schreiben zu können, früh gedruckt zu werden, früh Leser zu finden, viele und gute Leser zu finden und gute Kollegen, gute Verleger, gute Übersetzer. Wenn ich ihn inmitten von Euch, inmitten der ungarischen Kollegen und Freunde sah, erschien er mir als ein warmherzig-strenger primus inter pares. Was Du schreibst, trifft es aber besser, ein älterer Bruder, „der große Bruder“ (leider eine für die Ostdeutschen besetzte Redewendung in Bezug auf die „große Soffjetunion“). Ein großer Bruder, der die Geschwister auch gegenüber den „Eltern“ vertrat und eben auch von diesen her eine Brücke schlug, als stellte er eine Generation für sich dar. Aber jetzt schwadroniere ich von Dingen, die Du besser beurteilen kannst.
Ich habe es zuerst bedauert, dass László Dés nur ein Mal gespielt hat (an einer Tankstelle, an der, wie überhaupt auf dem gesamten Weg nach Ganna, die Trauergäste in ihrem Schwarz erkennbar waren wie Fußballfans, hatte wir uns die Hand gegeben, nur wusste ich nicht, dass er eben jener Saxophonist ist). Ich fürchte, der Autoren-Bus kam etwas zu spät, hast Du ihn gehört? Die Übertragung aus der Kapelle war ja sehr gut, so dass die Saxophon-Stimme ortlos unter dem blauen Himmel, über den Bäumen und der Wiese lag. Dieses Spiel im Freien zu hören verband alles miteinander. Aber es ist wohl gerade diese Strenge und Sparsamkeit, die seine Trauerfeier so gut werden ließ. Ich hatte viele Reden erwartet und mich schon ein wenig davor gefürchtet. Als zum Abschluss Janis Joplin kam mit ihrem „Mercedes-Benz“ und am Ende ihr „That’s it“ und dann ihr Lachen … Ihm ging es ja vor allem um das Lachen. Er wolle schreiben wie dieses Lachen – so frech, so frei, so verzweifelt, so schön – ich hoffe, ich habe die richtigen Worte in Erinnerung.
Als wir dann in der Gruft standen und ich auf die kleine graue Marmorplatte in der Wand sah, die sich so leicht übersehen lässt, doch auch den Platz des Pförtners für die große Sarkophag-Rotunde inne hat, überfiel mich beim Anblick des zarten goldenen Kreuzes über seinem Namen die blasphemische Assoziation zu Bunuels „Letztem Seufzer“. Ob er es zumindest ein bisschen gewollt hat, dass wir uns wundern? Oder? Dieser wunderbare Esterházy-Satz: „Wir nehmen keinen Boden zurück“ ließe sich in Bezug auf die Grabplatte auch als Verzicht auf das Horizontale deuten, nun ganz der Vertikalen verpflichtet.
Mir fällt, wie könnte es anders sein, das Versäumte ein. Er sagte mal, er sei neugierig zu hören, was ich von dem „Produktionsroman“ halte, der erst einige Jahre nach Harmonia Caelestis in Deutschland erschienen ist. Er liegt seit Jahren da, um gelesen zu werden. Nach allem, was ich darüber weiß (und etwas habe ich natürlich gelesen), interessiert mich kaum ein anderes Vor-89er-Buch so sehr wie dieses, und doch …
Einen wie ihn hatten und haben wir nicht unter den deutschen Schriftstellern. Unvorstellbar, was anders gewesen wäre, hätte es einen DDR-Esterházy gegeben. Man kommt gar nicht auf die Idee, dass es ihn hätte geben können. Er hätte das ganze Land verändert – zumindest für sehr viele. Du beschreibst es ja besser, als ich es kann: Diese Freiheit und Eleganz, diese Unabhängigkeit und diese scheinbar selbstvergessene Zurückweisung der Ja-Nein-Konstellationen und und und – dagegen erscheint mir das (Ost)Deutsche von pubertärer Ernsthaftigkeit, auch wenn mir vieles daran lieb und teuer ist und ich meine Tradition nicht verleugnen kann und will. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre so ein „Produktionsroman“ nicht bei uns erschienen, aber er ist eben auch nicht geschrieben worden.
Aber auch mich hat er durch seine Lesart befreit. Allein die Überschrift zu seinem Nachwort: „Ein Ostfranzose zum Fressen“. Ich bin so gern ein Ostfranzose gewesen! Und jetzt?
Du weißt ja, dass ich vor zwei Jahren in Budapest traurig war über das „ins Wasser gefallene“ Treffen mit ihm und ich auch etwas murrte, weil ich ihn in der Diskussion zu zurückhaltend fand. Heute ärgere ich mich über mich. Denn was für den Ausländer auf einen Schlag empörend ist – Du hattest mir gerade das famose Denkmal der ungarischen Unschuld gezeigt, das ein tatsächlich überzeugendes Gegen-Denkmal hervorgerufen hat –, muss ein Einheimischer nicht bei jeder Gelegenheit und immer und wieder tadeln.
Ich schreibe diese Zeilen in Prieros, was sich so anhört wie eine griechische Insel, aber nur 45 Auto-Minuten von unserer Wohnungstür entfernt unter märkischen Kiefern in der Nähe eines klaren Sees liegt. Nicht nur wenn die Péter-Trauer in der Kehle sitzt, denke ich oft an eine Esterházy-Szene hier – erzählte ich Dir davon? Er besuchte uns hier zusammen mit Gitta. Und sie und ich drangen darauf, endlich baden zu gehen. Gitta sprang sofort vom Steg ins Wasser und schwamm auf und davon. Er stand in Badehose und Brille, noch vollkommen ungebräunt im flachen Wasser und fror. Er wirkte etwas verloren wie ein Johannes der Täufer ohne Täuflinge. Die Kinder waren noch klein und planschten im Flachen herum. Da er merkte, dass auch ich gern schwimmen würde, wandte er sich ihnen zu und fragte die Jüngste, die damals vielleicht fünf Jahre alt war: „Na, was sagst du, wie sehe ich aus?“ Sie sah ihn an und antwortete: „Wie eine Kuh mit Perücke.“ Das ist das einzige Mal gewesen, dass ich ihn für ein paar Augenblicke überrascht und nicht schlagfertig erlebte. Ich hätte ihm sagen sollen, dass Franziska tatsächlich Kühe liebt, ein Phänomen, das bis heute anhält. Sein Tod ist auch bei uns eine „Familienangelegenheit“. Meine Mutter versäumte keine Lesung von ihm und war auch im April da. Er malte ihr immer Herzchen ins Buch. Und auch die Kinder fragten jetzt mehrmals nach, als ich aus Ganna zurückkam. Denen habe ich vor ein paar Jahren das Enquist-Buch vorgelesen. Unglaublich, dass er auch dafür Lust und Zeit hatte. Und wie lange wird es dauern, bis wir auf Deutsch seine Restaurantrezensionen lesen können?
Als er am 7. April das letzte Mal in Berlin las, war der Raum in der Akademie der Künste überfüllt. Er hat es allen so leicht gemacht, mit ihm umzugehen, ohne etwas zu beschönigen. Es gab ein kleines „Gruppenfoto“ auf dem Balkon der Akademie. Der Fotograf meinte, es sei ja schön, dass alle so guter Stimmung wären. „Nur dass einer von ihnen Krebs hat“, sagte er und lachte. Die Markus-Version ist ein weises Buch. Ich lese darin wie in einem Brevier. Wir hatten versucht, die Veranstaltung möglichst kurz zu halten. Aber die Schlange derer, die sich ein Buch (oder mehrere) signieren lassen wollte, war beängstigend. Doch er wollte niemanden zurückschicken. Das Signieren dauerte länger als die Veranstaltung, als habe er jeder und jedem noch ein Wort mit auf den Weg zu geben.
Lieber László, damit gut für heute, jetzt gehe ich Schwimmen. Auch wenn wir wohl schon übers Limit sind, kann ich Dir ja doch noch zum ersten Teil Deines Briefes später schreiben.
Herzliche Grüße Dir und Zsuszi,
Dein Ingo
Brief nach Berlin versendet (Győri an Schulze)
Lieber Ingo,
danke für Deinen Brief nach Péter Esterházys Beerdigung. Es war tatsächlich sehr schön. Das Gelächter von Janis Joplin am Ende der Zeremonie werde ich nie vergessen. Und es gab noch etwas: wie das Kreuz auf der Kuppel in der Sonne glänzte. Ein Storch saß darauf, und auf einmal hob er ab und flog weg. Wenn das Bild Teil der Regie gewesen wäre, wäre es zu viel gewesen. Da es aber ganz spontan geschah (Störche lassen sich bekanntlich schwer instruieren), war es so schön…
Der August und September waren ein bisschen chaotisch. Wir waren auch verreist: Seit fünfzehn Jahren verbringen wir im August immer mindestens zwei Wochen in Dalmatien, auf der Insel Ciovo, (neben Trogir). Jetzt durften es drei Wochen sein. Ich habe Arbeit mitgenommen, aber wir schlugen die Zeit hauptsächlich mit hedonistischem Lesen tot. Wegen meiner geringen Arbeitsintensität hatte ich umso intensivere Gewissensbisse, konnte mich aber einigermassen beruhigen, als ich eine etwas ernüchternde Version der Geschichte der Grille und der Ameise gelesen habe. Darin heißt es, die Grille habe den ganzen Sommer musiziert, während die Ameise sich unablässig abgerackert habe. Es kam der Herbst und beide krepierten…
Die letzten paar Tage habe ich mit Büchern von Saša Stanišić verbracht. Als er den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hatte, habe ich im EÜK in Straelen in seinen Roman Vor dem Fest hineingeschaut. Er hat mir sehr gut gefallen, und ich habe mir vorgenommen, ihn zu lesen, wozu ich bisher keine Zeit hatte. Jetzt aber habe ich mir die Zeit genommen, und es nicht bereut. Er ist so originell, und diese Lust am Erzählen! Und was er mit der Sprache kann, kommt vielleicht daher, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist, und er deshalb eine ganz andere Perspektive zur Sprache hat, vielleicht kommt ausser seinem innovativen Geist auch die Denkweise seiner Muttersprache in seinem Deutsch durch (ich weiß es nicht), allerdings ist er eine große Entdeckung für mich. Nun kommt dieser junge Mann nach Budapest, um im Goethe Institut zu lesen. Aus diesem Anlass habe ich mit ihm einen Interviewtermin vereinbart, und ich habe gleichzetig angefangen, ihn emsig zu lesen. Das Thema, was ich mit ihm besprechen möchte, ist jedoch in erster Linie kein literarisches, sondern der Integrationsprozess, den er in Deutschland erfahren hat. Ein bosnischer „Fluchtlingsjunge” (‚Fluchtling‘ war neben ‚Lothar Matthäus‘ und ‚Schokolade‘ ein Drittel seines deutschen Wortschatzes, als er in Heidelberg ankam), aus dem ein deutscher Schriftsteller wurde. Ich nehme an, er hat die Nase voll mit der Geschichte, über die er bereits x-mal interviewt wurde. Es tut mir leid, auch ich werde ihm diesbezüglich Fragen stellen. Bei uns findet am Sonntag das Referendum statt, worüber auch die ausländische Presse berichtete, und worauf stolz zu sein, wir, Ungarn wenig Grund haben. Schon die Fragestellung, für oder gegen die man zu den Urnen geht, ist falsch. „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des (ungarischen) Parlaments die Ansiedlung nichtungarischer Staatsbürger in Ungarn vorschreibt?” So wird die ungarische Bevölkerung gefragt. Im Zeichen der Volksabstimmung findet eine (in Ungarn) vielleicht seit den 1950-er Jahren nicht gesehene, aus Steuergeldern finanzierte, institutionalisierte Hasskampagne statt, deren Früchte wir Tag für Tag genießen können. Gedroht wird auf den landesweit platzierten Riesenplakaten mit den Migranten (nicht Flüchtlingen), in den von Orbán kontrollierten Medien (es gibt kaum einige, die unabhängig sind), Orbán und seine Paladine sprechen über die auf uns lauernden Gefahren, wobei selbst die Frage sinnlos ist, denn die EU will keine nichtungarischen Staatsbürger in Ungarn ansiedeln.
Ich male mir aus, was Šascha Stanišić heute passieren würde, wenn er gezwungen wäre, sich in seiner zerstörten Heimat auf den Weg zu machen. Nach Ungarn könnte er nicht kommen. Die ungarische Grenze ist zu, mit speziellem, spitzem Drahtzaun gesichert. (Ich habe gelesen, dass er im Gefängnis von Vác von Gefangenen hergestellt wird, was in meinen Augen ein schönes Symbol für die ungarische Wirklichkeit unter Orbán ist). Vor dem Grenzzaun herrschen infernalische Zustände, die Flüchtlinge, die um Einlass bitten, werden in den sogenannten Transitzonen festgehalten, wo sie ohne ausreichende medizinische Versorgung leben. Kinder, Frauen, ganze Familien. Alleinreisende Männer werden ohne Grund für Wochen eingesperrt. Es handelt sich offensichtlich um eine gezielte Politik, um Flüchtlinge abzuschrecken. Gelingt es einem doch, unbemerkt durch den Zaun auf ungarisches Territorium zu gelangen, wird er abgeschoben, zurück nach Serbien. Man wird – so die Berichte – geschlagen, getreten und von Hunden gehetzt und gebissen. (Da ist zweifellos eine äußerst wirksame Art, Menschen zu überzeugen.) Jüngsten Nachrichten zufolge organisiert der Staat eine 3000 Mann starke Grenzjägertruppe, die die Abwehr der Flüchtlinge zur Aufgabe haben wird. Nun, wollte also die Familie Stanišić aus Bosnien vor den Serben nach Ungarn und weiter in die EU flüchten, würde sie schon an der Grenze aufgehalten und nicht reingelassen. Wenn es an Viktor Orbán läge, wäre aus Saša nie ein deutscher Schriftsteller geworden…
Hier habe ich mit dem Briefschreiben aufgehört. Inzwischen ist es der 2. Oktober, ich habe das Interview mit Saša Stanišić übersetzt und an die Redaktion abgeschickt. Es war ein Vergnügen, ihn kennenzulernen.
Wie ich einleitend erwähnt habe, findet heute dieses durch und durch verlogene Referendum statt. Orbán erklärte heute früh, dass er das Grundgesetz modifizieren wird, und zwar unabhängig davon, ob die Abstimmung die Gültigkeitsgrenze erreicht. Man fragt sich, wozu der ganze Scheiß, wenn er mit den Stimmen von Fidesz und Jobbik sowieso macht, was er will? Allerdings scheint es, dass er sich verkalkuliert hat, die giftige Rhetorik der Kampage war etwas übertrieben, und sehr viele gehen einfach nicht hin. Die meisten kleinen linken oppositionellen Parteien mobilisieren für den Boykott (die linke Opposition ist zersplittert), Jobbik mahnt zur Teilnahme und für „Nein”, die Liberalen für „Ja”. Von einer potenten Opposition zeigt sich keine Spur, es gibt aber einige originelle Antworten auf die Initiative des Geliebten Führers. Die Spaßpartei MKKP („Die Partei des Hundes mit den zwei Schwänzen”) und einige Zivilorgansationen mobilisieren für die Teilnahme und für das Hacken, das heißt eine ungültige Stimme, damit man nicht zu Hause bleibt, aktiv an der Abstimmung teilnimmt, und dadurch seine Meinung äussert: „Ihr könnt mich mal”. MKKP machte eine sehr geistreiche Kampagne mit witzigen Plakaten und Facebook-Posten, mit dem Slogan: „Auf eine blöde Frage eine blöde Antwort”. Auf den abgegebenen Stimmzetteln wurde sowohl das Ja und das Nein durchkreuzt, oder ausgeschnitten, die Zettel wurden mit witzigen Botschaften und Zeichnungen versehen. Viele fotografierten und posteten ihr Votum auf Facebook, und ein bekannter Ethnograf bat schon jene, die so verfuhren, ihm Fotos zu schicken, damit er sie für seine Forschungen verwenden kann.
Nun siehst Du, lieber Ingo, so leben wir im Becken der Karpaten, in diesem Kanaan, in dem Honig und Milch fließen.
Es gab noch lange vor der Wende den schönen Witz, in dem die Kinder einen Aufsatz über die Schönheit des Kommunismus schreiben sollten. Der eine schreibt: Der Kommunismus ist wie ein großer Teller voll von Wiener Schnitzel, rundherum mit Pommes. Jeder bekommt davon und jeder wird satt. Ein anderer Schüler schreibt, der Kommunismus ist wie eine riesige Schokotorte mit Sahne und Erdbeeren. Schmeckt süß, und jeder wird satt davon. Dann liest der kleine Moritz seine Version vor: Der Kommunismus ist wie ein Segelboot auf offenem Meer, es fährt geschwind auf sein Ziel zu und teilt die schäumenden Wellen.
Die Lehrerin sagt, aber kleiner Moritz, das ist wunderschön, sehr poetisch, worauf der kleine Moritz antwortet: Lassen Sie mich doch zu Ende lesen: Und an Bord kotzen alle, und man kann nicht aussteigen.
Ich war nach der Wende ein bisschen traurig, denn die Witze, über die wir in der Kádár-Ära so viel gelacht haben, hatten ihre Aktualität verloren, und meine Kinder würden sie nicht verstehen. Jetzt sehe ich, wie aktuell sie wieder sind.
Inzwischen ist das Referendum zu Ende, Orbán feiert in Funk und Fernsehen sein Fiasko als einen großen Sieg. Die Kampagne wird weitergeführt, und der Hass, den sie geschürt haben, bleibt bei uns. Das Segelboot fährt geschwind weiter, teilt die Wellen, die immer noch schäumen, wir schäumen mit und kotzen unablässig. Wann wird dieser Albtraum enden? Und wie?
Übrigens darf man einen Brief mit einer Frage abschließen?
Liebe Grüße:
László