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Jan Wagner Nikola Madzirov

Brief nach Mazedonien versendet (Wagner an Madzirov)

Lieber Nikola,

bei unserer letzten Begegnung, Du wirst Dich erinnern, saßen wir in einem lauschigen Biergarten im Westen Berlins, irgendwo zwischen Nollendorfplatz und Landwehrkanal, und genossen einen der letzten prachtvollen Tage des Sommers, ganz so wie die Wespen, die ihr nahendes Ende schon ahnten und wie angeschlagene Samurai um unsere Gläser torkelten. Wir waren zu dritt, denn ein gemeinsamer Freund aus China, der jedoch schon lange nicht mehr in seiner Heimat lebt, saß mit uns am Tisch, und irgendwie, wohl aus aktuellem Anlaß, weil also einer von uns dreien bei einem Konsulat vorstellig zu werden hatte, begann unser Gespräch sich ums Reisen zu drehen, um die Beschaffung von Visa und sonstigen Dokumenten, und ich gestand, welchen Zauber seit jeher die Einträge in Reisepässen auf mich ausgeübt hatten, schon jene im ersatzweise ausgestellten Kinderpass mit dem labberigen gelblichen Papier und dieser kleinen mintgrünen Gebührenmarke in der Ecke, auf der man den Kopf des Freiherrn von Stein erkannte. Ich war, Du hast es sicher bemerkt, kurz davor, meiner Begeisterung die Zügel schießen zu lassen: Für diese seltsame Bürokratenmagie der Stempel in all den Pässen, die man jemals besessen hat, für die Vermerke, die Formen und Farben und Sprachen, die nüchternen grauen Vierecke einer frühen Spanienreise im Jahre 1983, die allerdings durch ein Wort wie „fronteras“ und die Zusätze „entrada“ und „salida“ an Feuer gewannen, dem Amtlichen einen Hauch Flamenco beizumischen schienen; für die peniblen Rechtecke und Ovale, diese seltsame Geometrielehre des Grenzverkehrs, mal meerblau, mal teerschwarz, mal blasser und gelegentlich kaum noch lesbar, hier für einen Rhombus von Beamtenhand, der wie ein Kinderdrachen an der krakeligen Unterschrift zerrt und den es über die Seite hinwegzufliegen drängt, dort für ein winziges gleichschenkeliges Dreieck, das 1978 irgendein „Immigration Officer“, ich vermute: aus England, in die untere linke Ecke gesetzt hat, ein überaus korrekt aufgeschlagenes kleines Pfadfinderzelt nach dem Musterbuch Baden-Powells; auf einer anderen Seite, in einem späteren Pass, ein Alpha, ein Epsilon, ein Rho, die, aber ja, auf einen griechischen Flughafen hinauslaufen, und das Feld dieser attischen Einreiseerlaubnis ist so wohlproportioniert wie der Grundriß eines Tempels, steht selbst seit Jahrzehnten beharrlich da wie ein Miniaturtempel, ruht auf den Säulen seiner griechischen Buchstaben. Auch ein Visum für die Vereinigten Staaten gibt es, auf den Seiten vor ihm und nach ihm umschwirrt von zahlreichen kleineren Stempeln der Deutschen Demokratischen Republik, die faltergleich zwischen Dunkelblau und Violett changieren, was entweder auf extravagante zweifarbige Stempelkissen oder auf qualitativ minderwertige Tinte schließen läßt, Stempeln von den Grenzübergängen Zarrentin und Staaken, von Griebnitzsee und Stolpe, vom Bahnhof Friedrichstraße und vom Brandenburger Tor. Dabei sind es, je näher das Ausstellungsdatum der Pässe ans Heute rückt, immer weniger europäische Länder, die auftauchen. Ein Stempel des Grenzübergangs Zgorzelec anläßlich einer weihnachtlichen Reise nach Polen, dann hier und da Einreisegenehmigungen aus Übersee, aus Australien und Kolumbien, aus Indien und Nicaragua, gelegentlich ein Stempel für Bosnien-Herzegowina, für Israel oder für die Ukraine sowie ein frostfarbener Visumsaufkleber aus Weißrußland. Am erstaunlichsten aber ist wirklich zu sehen, wie rar Europa sich in den letzten meiner Dokumente macht, festzustellen, daß der Pass trotz zunehmender Reisetätigkeit  durch ein nunmehr grenzenloses Europa der Unionsstaaten geradezu unberührt wirkt, fast gänzlich frei ist von Farben, Formen, Kürzeln, Daten – und das, obwohl ich mich regelmäßig in Amsterdam und Kopenhagen, Dublin und London, Barcelona und Athen aufgehalten habe. Und eben deshalb, weil all diese Grenzüberschreitungen unsichtbar geworden sind, viele Grenzen ja keine mehr sind, bremste ich mich in just dem Augenblick, als ich am Biergartentisch zu schwärmen beginnen wollte – schwante mir doch, daß Du und unser chinesischer Freund dieses amtliche Dokument, den Reisepass, mit weniger Begeisterung, weit nüchterner, skeptischer betrachten könntet, daß die Stempel, die Bewilligungen, die Visa nur für mich verhätschelten Westeuropäer nostalgischen Zauber und die Anmutung von Fremde und Abenteuer haben, für so viele andere hingegen und, wer weiß, vielleicht auch für euch weniger Freiheit denn Restriktion, ja Willkür bedeuten. Wirklich, lieber Nikola: Wenn wir beide gebeten würden, eine „Ode auf den Reisepass“ zu verfassen, einen „Versuch über Pässe“ – wir würden wohl zwangsläufig zu grundverschiedenen Ergebnissen kommen, jedes Detail aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten müssen, das mißtrauische oder mürrische Mustern hinter der Glasscheibe, die haarige Hand, die das Dokument entgegennimmt, die Beamtin, die im Reisepass blättert, kurz aufschaut, blättert, sodann den unregelmäßigen Doppelschlag des Stempels zwischen Stempelkissen und Pass, während die Schlange langsam weiterrückt, und wieder, und wieder, und wieder, ta—tam, wie das Humpeln eines Holzbeinigen auf dem Oberdeck.

Wie leicht es doch ist, sich an unwahrscheinlichste Freiheiten zu gewöhnen, sie gar als selbstverständlich zu erachten. Mit welchem Recht also könnte man auf Leute herabblicken, die, jünger noch als man selbst, nie ein Europa mit Grenzen erlebt haben und das Fehlen jeder Kontrolle als Normalität empfinden? Eine europäische Union (ich sage ausdrücklich nicht: Europa) ohne Schlagbäume – welch ein Wunder das angesichts der Geschichte unseres Kontinents ist, muß man sich wohl immer wieder bewußt machen, darf sich dabei auch ruhig in den Arm kneifen. Ein heute Zwanzigjähriger hat nie in der Autoschlange am Brenner darauf gewartet, nach Italien weiterfahren zu dürfen, hat nie sein Schulfranzösisch bemühen und kurz hinter Offenburg ein paar Worte mit dem elsässischen Grenzbeamten wechseln müssen, um den Rhein zu überqueren, ganz zu schweigen von der deutsch-deutschen Grenze, die unüberwindbar und nicht wegdenkbar war und doch irgendwann zu bröckeln begann. An eben jenem Zarrentiner Übergang, der noch als Stempel in meinem Pass überdauert, hatte ich kurz zuvor bei meinem um zehn Jahre älteren und furchtlosen Schwager im Auto gesessen, der den säuerlichen Uniformierten, der uns mit der erhobenen linken Hand zu halten befahl und die Rechte großkaiserlich in die Jacke geschoben hatte, mit einem jovialen „Guten Morgen, Napoleon“ begrüßte, was uns Stunden des Wartens und größtmögliche Aufmerksamkeit und Gewissenhaftigkeit bei der Demontage unseres Wagens bescherte.

Seltsam, dieses deutsche und fast nicht mehr gebrauchte, völlig aus der Mode gekommene Wort „Schlagbaum“, für das es auch im Mazedonischen eine Entsprechung geben muß, das im Französischen schlicht „barrière“ und im Italienischen „barriera“ heißt, im Englischen auch „turnpike“, wobei das „pike“, das ja auch „Hecht“ bedeuten kann, nicht mit dem Fisch verwechselt werden darf; es handelt sich also nicht um einen zu wendenden oder sich windenden Hecht, sondern um einen Spieß oder zugespitzten Pfahl, „pike“, der sich beiseitedrehen oder anheben läßt. Das genau ist auch der Sinn des deutschen Worts, wobei die erste Silbe sich vom mittelhochdeutschen Verb „slahen“ herleitet und hier so viel wie „zuschlagen, sich herabsenken, schließen“ heißt. Natürlich findet man den Schlagbaum auch im Wörterbuch der Brüder Grimm, diesem unentbehrlichen Werk, in dem auf abertausenden von Seiten die Geschichte und der Reichtum der deutschen Sprache bewahrt wird, das aber zugleich die Wandlungsfähigkeit dieser Sprache zeigt, auch die Einflüsse anderer Sprachen kenntlich macht, die Bereicherung und den steten Wandel, dem jede Sprache unterworfen ist und der sie doch erst lebendig macht, ob es sich um Anleihen aus dem Lateinischen, Französischen oder Niederländischen handelt. Wie immer bringt der Grimm schöne Beispiele, zitiert aus Schillers Tell, führt Hebbel an und Musäus, der die Liebe wunderbarerweise über den Schlagbaum hinwegspringen läßt wie über einen bloßen Strohhalm. Aber die Gewalt des Wortes „slahen“ ist schon noch spürbar, die physische Drohung des Erschlagenwerdens, und das Wörterbuch merkt an, daß der Schlagbaum noch eine zweite Sache bezeichnet, nämlich auch „eine Falle für Raubthiere“ sein kann, „ein schwerer Baumstamm, der auf einer Stütze ruht und den darunter durchpassierenden Thieren auf den Rücken schlägt und sie zermalmt“, Füchse zum Beispiel oder Dachse. So daß also die Versehrungen, die eine Begegnung mit dem Schlagbaum nach sich ziehen kann, auch in der sich senkenden Schranke noch anklingen. Und wirklich: Welche Gefahren mit dem Überschreiten von Grenzen verbunden sind, ob sie nun unsichtbar in einem Meer verlaufen oder sich als Zaun manifestieren, können wir Abend für Abend in den Nachrichten sehen.

Wir schreiben einander ja Briefe zu einer Zeit, da Nationalismus und Engstirnigkeit plötzlich so en vogue scheinen wie lange nicht mehr, da auch in meinem Land eine Partei an Zulauf gewinnt, in deren Anfangsbuchstaben schon ein Schlagbaum querliegt und aus deren Reihen vor kurzem unter anderem gefordert wurde, das Wort „völkisch“ wieder in den Alltagsgebrauch zu überführen. Nur wenige Tage vor Beginn dieser Diskussion hatte ich, weil seit Wochen und Monaten derart belastete Wörter von interessierter Seite wiederholt werden und Eingang finden in die politischen Debatten, ins Feuilleton und ganz ohne Zweifel auch in die privaten Gespräche an den Küchen- und den Stammtischen, abermals Victor Klemperers LTI gelesen, seine Betrachtungen der Lingua Tertii Imperii, also der „Sprache des Dritten Reiches“. „’Volk’ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen“, beobachtet Klemperer 1933, „an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt…“. Ich weiß nicht, wie sehr der Name Victor Klemperers außerhalb Deutschlands ein Begriff ist, lieber Nikola – er war Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft in Dresden, wurde 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, die Universität zu verlassen, und überlebte nur dank seiner nichtjüdischen Ehefrau, die sich weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, und die alle folgenden Schikanen und Demütigungen mit ihm durchzustehen bereit war. Vielleicht sind seine berühmten Tagebücher, in denen er diese zwölf lebensbedrohlichen Jahre beschreibt, sogar ins Mazedonische übersetzt worden? In seinen Texten zur LTI jedenfalls setzt sich Klemperer damit auseinander, welcher Art die Sprache war, die solche Taten vorzubereiten im Stande war. „Und wenn nun“, fragt er, „die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Schwer vorstellbar, daß nicht auch heute der Haß und die Verachtung, die in die Wörter getröpfelt werden, ihren Ausdruck in häßlichen und verachtenswerten Taten finden. Die Brandanschläge jedenfalls sind so alltäglich geworden, daß sie fast nicht mehr zu zählen sind. Bei einem der letzten, ausgerechnet in Berlin, hatte der Täter vor dem Anreißen des Streichholzes die Aufforderung „Go to Home“ auf die Wand der Flüchtlingsunterkunft geschmiert – im Grunde natürlich ein wunderbarer germanism und bizarr mit seinem Willen, weltläufig, jedenfalls international verständlich zu wirken, dabei aber auf fast rührende Weise falsch zu sein. Aber kann man von einem Brandstifter verlangen, korrektes Englisch zu verwenden? Und darf man darüber lachen? Sollte man vielleicht darüber lachen, damit einem das Lachen nicht vergeht?

Daß Worte weit mehr als eine simple Bedeutung, den Hinweis auf einen Sachverhalt oder Ding enthalten – wer wüßte das besser als Lyriker, die ja für gewöhnlich wenige Wörter benutzen, dafür jedoch mit allen Bedeutungsebenen dieser Wörter spielen, mit den Klängen und Anklängen, den Brüchen und Brücken, die also der Etymologie nachforschen, die geschichtlichen Ebenen des Wortes freizulegen versuchen, all die verborgenen Echokammern, deren Metier also das Abwägen, Feineinstellen, die Nuance ist. Freuden und Schwierigkeiten ohne Ende, die sich noch multiplizieren, wenn man Gedichte übersetzt, ein Gedicht von einer in die andere Sprache trägt, ihm sprachliche Grenzen zu überwinden hilft und dafür sorgt, daß ein fremdsprachiges Gedicht in der eigenen Muttersprache heimisch wird. Eine unserer ersten Begegnungen fand in Deiner Heimat statt, im mazedonischen Struga, und ich habe sehr deutlich vor Augen, wie wir eines warmen Abends zu sechst, mit nahezu allen jüngeren Teilnehmern des gerade dort stattfindenden Poesiefestivals, am gewaltigen Ohridsee saßen und die Sonne untergehen sahen, als irgendjemand, vielleicht warst sogar Du es, beiläufig erwähnte, er übersetze gerade die Gedichte des israelischen Dichters Jehuda Amichai – worauf eine Dichterin einwarf, sie ebenfalls, und ein Dritter sich einmischte, und plötzlich wurden Gedichte Amichais, den, wie sich herausstellte, alle gleichermaßen bewunderten, auf Mazedonisch, Deutsch, Englisch und Ukrainisch zitiert, daß es eine vielstimmige Freude war. Auf der anderen Seite des Sees, in der Ferne, begann Albanien, doch saßen wir natürlich auch wenig mehr als einen herkuleischen Steinwurf entfernt von Griechenland, wo Hölderlin seinen Hyperion als Eremit leben und auf sein Leben zurückblicken läßt, das er, übrigens in Briefen, wir mir jetzt einfällt, seinem Freund in Deutschland schildert: „O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk‘ und gerne mag der Fremde sich verweilen.“ Fast wie ein Kommentar zur Stunde liest sich das, auch wenn man von Helden heute kaum noch reden wollen wird, die besser im Epos oder einer vergangenen Epoche aufgehoben sind. Als ich vor Kurzem bei polnischen Freunden zu Besuch war und sie mir nachmittags ihre Stadt zeigten, begannen wir, was natürlich reiner Zufall war, auf dem „Platz der Helden“, spazierten über den „Platz der Freiheit“ bis hin zum „Platz der Freundschaft“, wo unser Stadtrundgang endete, und so hatten wir ganz nebenbei einen Gang durch die europäische Geschichte und die Entwicklung unseres Kontinents unternommen, bis hin zum glücklichen Ende. So schien es mir jedenfalls an diesem Tag.

Dabei habe ich wirklich allzu leicht leben, reisen, reden und schreiben, denn Krieg und Diktatur blieben mir erspart, und aufgewachsen bin ich in einer der seltenen glücklichen, windstillen Phasen der Historie. Ein Grund mehr vielleicht, das Reisen nicht nur als Vergnügen, sondern auch als Verpflichtung zu begreifen – zum Lernen, zum Wertschätzen. Und so lehrreich wie heilsam ist es ja, aus der Distanz auf Europa zurückzuschauen, von den nachts wie Leuchtalgen funkelnden Hängen Medellíns oder vom riesigen Shanghai, in dem allein ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung Platz fände. Am liebsten aber reiste man natürlich mit Seamus Heaney, den Du sicherlich genauso verehrst wie ich, in die „Republik des Gewissens“, der er ein langes, wunderbares Gedicht gewidmet hat, „From the Republic of Conscience“, in dem nach der Landung ein Brachhuhn zu hören ist, der alte Mann am Schalter verblüffenderweise Fotos von den Ahnen des Reisenden aus dem Mantel zieht, die Dame vom Zoll darum bittet, die traditionellen irischen Zaubersprüche gegen Stummheit und gegen den bösen Blick zu hören. Der dritte und letzte Teil des Gedichts klingt so:

I came back from that frugal republic
with my two arms the one length, the customs woman
having insisted my allowance was myself.

The old man rose and gazed into my face
and said that was official recognition
that I was now a dual citizen.

He therefore desired me when I got home
to consider myself a representative
and to speak on their behalf in my own tongue.

Their embassies, he said, were everywhere
but operated independently
and no ambassador would ever be relieved.

Da „relieve“ ja beides bedeuten kann, „ablösen“, aber auch „erleichtern“, ahnt man: Dieses Amt ist durchaus eine Bürde. Noch schwieriger aber dürfte es sein, fürchte ich, sich überhaupt erst als Botschafter dieser erstaunlichen und notwendigen Republik zu qualifizieren. Man müßte vielleicht damit anfangen, selber Formeln gegen die Stummheit zu finden, auch die eigene, sich dem bösen Blick zu verweigern.

Nicht zuletzt zeigt ein Gedicht wie dieses natürlich, daß die herrlichsten, unvergeßlichsten Reisen im Kopf stattfinden. Und für die benötigt man nicht einmal einen Pass.

Sei herzlichst gegrüßt:
Dein Jan

Brief nach Berlin versendet (Madzirov an Wagner)

Lieber Jan,

sobald ich Deinen Brief erhielt, schlug ich meinen neuen Pass auf und betrachtete mein eigenes Gesicht mit anderen Augen, nicht jenen der Fotos auf Bucheinbänden oder im Familienalbum, die die Beständigkeit des Erbguts bestätigen sollen. Das Auge bleibt auch nach dem Tod geöffnet, auf dem Passfoto aber muss der Mund geschlossen sein, obwohl du gern schreien würdest, die Augen jedoch müssen weit geöffnet sein, als stünde man vor einem Gemälde von Bruegel. Das latente Lächeln auf dem Passbild sollte vor den Augen des Grenzpolizeioffiziers auf dem Flughafen meine Unschuld aggressiv betonen. Ich musste das erstarrte Gesicht des Hirsches vor den dynamischen Augen des Jägers sein. Passfotos waren Museen des Bemitleidens. Ich bin in einem Land geboren, wo das Bemitleiden eine Art zu lieben ist, wo man auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ mit „Gott bewahre uns vor Schlimmerem!“ antwortet. Ich wuchs in einer Stadt an einem Grenzübergang zwischen drei Staaten und vom Wind und dem ererbten Hass zerrissenen Flaggen auf. Die Stille der Angst war an den Grenzen am stärksten, wo Luftkrieg zwischen den verschiedenen staatlichen Radiosendern geführt wurde, und der Raum, der vom Rauschen zwischen zwei Radiosendern erfüllt war, war mein Zuhause. Ich wollte, dass mich niemand versteht, wünschte mir, die Sprachen nicht zu verstehen, wenn ich vor einem Grenzübergang stand oder vor der Stille an Brodskys Grab, nahe dem Wasser und der Zeit, die verfloss. Bei meiner ersten Reise nach Venedig verneigte ich mich vor der Lebendigkeit des Wassers und seiner Erinnerung, ich suchte Tizian in den Straßen und auf den Mauern der Kirchen, obwohl sein „Raub der Europa“ längst auf die andere Seite des Atlantischen Ozeans übersiedelt war. Bevor ich mit dem mythologischen und später auch mit dem geopolitischen europäischen Narrativ konfrontiert wurde, war Europa für mich nur der Name der einzigen Schokoladenfabrik in Skopje vor dem Zerfall Jugoslawiens. Etwas Süßes. Später erzählte mir mein Großvater, der berühmteste Konditor und Kontrabassist der Stadt (andere gab es nicht), dass es dort in Europa auch bittere Schokolade gebe – ein Oxymoron, das uns Kindern fremd war, die wir mit dem Puritanismus der staatlichen sozialistischen Ideologie aufgewachsen waren, dass Suppe nur salzig, Käse nur weiß und der Dichter nur herrlich sein kann wie auch der Staat. Seit bereits fünfzehn Jahren lebe ich außerhalb der Kontexte eines dauerhaften Zuhauses und der Geographien der Zugehörigkeit. Mein Zuhause waren die Flughäfen mit dem immer gleichen Geruch nach den Parfums aus den Duty-free-Shops; die Wartehäuschen an Bushaltestellen voller Obdachloser und Tauben; die sauberen, aber sterilen Hotelzimmer mit Balkons, die gerade groß genug für einen Vogel sind; die Zimmer für Writers in Residence voller Bücher, die den Geruch von Zigaretten und angebranntem Öl der vorhergehenden Schriftsteller aufgesogen haben; die Krankenhäuser, in denen die Stille Angst bedeutete und das Sprechen Schmerz … Auf den Wegen der Poetik der Ungewissheit traf ich Menschen, die um Brot und Aufmerksamkeit baten, doch auch reiche Fahnenträger des Übergangs vom Sozialismus zum Kapitalismus, die sich zwar Aufmerksamkeit erarbeiteten, aber in ihren Büros vor den improvisierten Altären mit kitschigen Ikonen um dauerhafte Wahrheit beteten. Ich wurde am helllichten Tag unerwartet und unerbittlich von ausländerfeindlichen jungen Leuten in Vilnius angegriffen, die den scharfen Geruch der Kriege nicht kennen; etwa zehn Tage lebte ich umringt von Paramilitärs und wohlgesonnenen Leguanen im Dschungel an der Grenze zwischen Kolumbien und Panama; einige Tage flohen wir vor den Kidnappern durch die Straßen von Bagdad, um uns herum junge Soldaten, deren Gesichter hinter den im Anschlag gehaltenen Sturmgewehren nicht zu sehen waren; ich wanderte durch die Dörfer in den Gelben Bergen Chinas, sah die Häuser mit kleinen Fenstern und offenen Dachböden; ich blickte auf die tiefen Himmel über Berlin und New York – Städte, in denen die Zeit nicht stirbt und nicht tötet; ich sprach mit den Imamen in Indonesien, die es liebten, sich mit Dichtern und Offizieren fotografieren zu lassen; ich ging durch die Straßen an der unsichtbaren Grenze im israelischen Haifa, wo der Staub auf den Schuhen für Israelis und Palästinenser gleichermaßen mythisch war; ich pflückte Granatäpfel am Checkpoint von Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, während ich die Reflexion vom Fernglas des Soldaten im Wachturm betrachtete; auf dem Platz der Verfassung in Mexico City las ich Gedichte über die Vergänglichkeit der Rückkehr, während auf der anderen Straßenseite tausende von Menschen mit Kerzen in den Händen die Kidnapper darum anflehten, ihnen die verschwundenen Studenten zurückzugeben; in Istanbul lasen wir in einer unterirdischen byzantinischen Zisterne Lyrik, während die Touristen das Mundstück einer Wasserpfeife zwischen die Lippen nahmen und auf das Klicken des Fotoapparats warteten, bevor sie husten müssten; wir sagten Verse auf im Licht der aktiven Vulkane Nicaraguas und einige hundert Meter von den Vierteln in Mumbai entfernt, wo sowohl die Kinder als auch der Tod Hunger leiden. Aber immer kehrte ich nach Hause zurück, um zu sehen, wie mein Sohn schneller wuchs als meine Sehnsucht nach einem sicheren Heim, ich kehrte zurück in die Sprache meiner Kindheit, in die Wörter, die es mir erlaubten, durch die Zwischenräume und die verschiedenen Stillen zu reisen – die beiden Dinge, die mich erschaffen, während ich erschaffe. „Die Stille ist meine majestätischste, meine friedlichste, aber auch meine deutlichste Kriegserklärung oder Bekundung von Verachtung“, schrieb Derrida. In der Stille fühle ich mich sicher, trotz des lauten Geräuschs beim Stempeln des Passes als zivilisatorischem Zeichen, dass jetzt die Grenzen überquert werden können, die nach den Kriegen gezogen wurden. Vor ungefähr zwanzig Jahren streifte ich die Uniform über, weil der Staat sagte, ich müsse es tun. Ich war Soldat zwischen zwei Kriegen auf dem Balkan. Es ist einfacher, es so auszudrücken, als zu sagen, dass ich Soldat in Friedenszeiten war. Jetzt ist die Zerbrechlichkeit meine einzige Waffe. Lange Zeit war das Wort FRAGILE für mich ein Aufkleber auf den Pappkartons, in denen mein Vater Fernseher verkaufte oder Glasvitrinen, die die Leute mit haufenweise Tellern und Gläsern füllten, die sie nur verwendeten, wenn zu Hause Hochzeiten und Beerdigungen anstanden. Bevor ich mir das Alphabet der Bedeutungen aneignete, war FRAGILE für mich ein Zeichen für Unberührbarkeit, ein Synonym für Gefahr statt für Zerbrechlichkeit. Die Zerbrechlichkeit Europas ist gefährlich, lieber Jan, weil man sie nicht sehen kann, wie einen geborstenen Stein in einem Mosaik, das sich der Zeit und den Raubgräbern widersetzt. Ich liebe Europa wegen seiner imaginativen und wirklichen Weite, die es mir erlaubt, allein zu sein, wenn ich nicht in das Zimmer der engen geographischen oder literarischen Definiertheit zurückkehren will. Ich reise mit der Sprache dorthin, wo ich mir wünschen würde, dass wir uns mit einem Blick verständigen könnten, dem Blick auf die Schönheit oder den Himmel als Tiefe oder Symbol, diesen Himmelkontrapunkt aller Aggressionen, wie die Himmel Kurosawas in Rashomon. Europa ist aus Sprachen gebaut, und vielleicht ist es deshalb zerbrechlich, organisch, unbezähmbar. Vielleicht klinge ich romantisch naiv, doch ich denke, dass wir reisen, um Wörter, Steine, Staub, Hoffnungen zu transportieren. Der Tourist kommt oft in die Stadt, um zu übernachten, der Reisende, um wach zu bleiben. Ich begegne Dir in Städten mit Flüssen, in Städten mit Seen und Regen. Wie ist es, über die Dynamik des Wassers in den unbekannten Städten und in unseren Körpern zu sprechen? Wie ist es, die abgenutzten Metaphern über Brücken zu leben, wenn immer noch Mauern gebaut werden als vorübergehende Tätowierungen der Angst und Unsicherheit? Wir leben schon länger das Zuhause als dynamische Realität, als Baum, der die Wurzeln in die Luft streckt. In Paris war mein Zuhause der Gebäudekomplex „Récollets“, einst Unterkünfte eines Klosters, später umgebaut zu einem Militärkrankenhaus – ein Raum, der durch die Zeiten den Widerstreit zwischen der Stille der Mönche und den Schreien der verwundeten Soldaten konserviert hat. In welcher Sprache haben die Mönche in „Récollets“ wohl ihr Schweigegelübde abgelegt, in welcher Sprache haben die verwundeten Soldaten die Ärzte oder Gott beschworen? Stille ist nicht die Abwesenheit von Worten, sondern ein langandauernder Versuch, etwas zu sagen. Mandelstam schrieb, dass die Exkommunikation aus der Sprache eine Exkommunikation aus der Geschichte sei. In diesen Zwischenräumen der Sprachen sind die Geschichten Totems trügerischer Anwesenheiten. Nomaden glauben nicht an Monumente, obwohl meine Flüchtlingsvorfahren den Schlüssel jedes verlorenen Zuhauses aufbewahrten, jeder Leere des Lebens. Doch die Leere hat keinen Anfang und kein Ende, so wie die wahren Helden keine Denkmäler haben, sondern nur Erinnerungen. Das Wasser erinnert mehr als die Museen, lieber Jan. In Paris lebte ich am Kanal Saint-Martin, der dazu vorbereitet wurde, um ein Mal in fünfzehn Jahren gereinigt zu werden. Man hatte ihn abgelassen, und das Fehlen des Palimpsests des Wassers deckte viele Gegenstände am Grund des Kanals auf: Fahrräder, Uhren, Fernseher, die in dem Kanal ohne Wasser nur wertlose Denkmäler des Alltäglichen waren. Die Uhr maß die Zeit nicht, der Fernseher übertrug die offenen Kriege nicht, das Fahrrad bewahrte die alte Luft zwischen den Speichen der Räder. In diesem neuen, um es wie Baudrillard zu sagen, „System der Dinge“ verbarg sich die alternative Sprache der Stadt, jene außerhalb der Fotoapparate des kurzen touristischen Gedächtnisses. Die Seine sprach im Namen der Straßen und abgelassenen Kanäle, sie war die Träne in einem großen Auge der Menschlichkeit. Ich kehrte einige Male nach Paris zurück, um die Angst vor der vollkommenen Balance zwischen der Symmetrie der Monumente und der gezähmten Natur, zwischen den lächelnden Touristen vor dem Grab Jim Morrisons und den Blumen, die vor dem Bataclan niedergelegt wurden, zu überwinden. Wenn ich von Mazedonien aus reise, lande ich wegen der Vormachtstellung der Billigfluglinien in meinem Heimatland auf den abgelegensten Flughäfen Europas, und das brachte mich dazu, mir zu überlegen, dass das Entfernt-Sein billig ist, wenngleich schwer zu erreichen, vielleicht noch schwerer als das Nahe-Sein. Ich füllte meinen Pass mit Stempeln von Flughäfen, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren, und die keine Namen großer Helden tragen, noch weniger solche von Literaten. Gleichwohl stand ich einmal vor einem riesigen Porträt von Rubén Darío an den Wänden des Flughafens in Managua, und der brasilianische Flughafen in Belo Horizonte trägt das semantische Gewicht des Namens von Carlos Drummond de Andrade. Ich kann mir vorstellen, wie die Struktur der Flughäfen, die Kafkas oder Borges Namen tragen, aussehen müsste, obwohl manchmal die Flughäfen selbst die Spannungen von beleuchteten Labyrinthen mit sich bringen, deren Wächtern weder Fragen noch Antworten haben. In mir hallt noch immer das Geräusch des Stempelns in den Pass wider wie die Faust eines Generals, der auf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte schlägt. Mallarmé nannte das weiße Feld rund um die Verse „umgebende Stille“, etwas, was auf den gefüllten Seiten meiner Pässe mit halb ausgebleichten Stempeln nicht existiert. Ich reise schon lang nicht mehr, um den Durst auf zu Hause zu vergrößern. Nostalgie wurde in Europa lange Zeit wie eine Krankheit behandelt, aber es gibt keinen Raum mehr, um krank zu sein, weil die Rückkehr nach Hause schneller ist als die Melancholie der Dislozierung. Die Nähe und Entfernung der Städte, in denen wir gelebt haben, wird nicht nur darin gemessen, wie oft wir sie verlassen haben und wie viele Fahrscheine wir verwendet haben, sondern auch darin, wie oft unsere Rückkehr unvollendet geblieben ist. Berlin ist eine Stadt, in die ich nach jeder Reise nach Mazedonien zurückkehre, erschöpft von der idealisierten Kindheit und der aufgedrängten Schuld, die mich wie ein verwundetes Tier verfolgt. Berlin ist eine Stadt, in die man öfter zurückkehrt als man aus ihr fortgeht. Das abgeschlossene Fahrrad am Zaun eines Gebäudes, das seine Gestalt ändert, oder die vergessenen Fotos in den Fotoautomaten am Straßenrand erzählen, dass vielleicht jemand zurückkehren wird, während die Metallspitzen auf den Fensterbrettern die Tauben dazu zwingen, lange zu fliegen wie Engel ohne Fresken. Im Augenblick bin ich immer noch unterwegs zwischen Venedig und Berlin – so verkündet es die uniformierte Stimme der Stewardess, die sich die Stille für ihren Geliebten aufhebt. Aber vielleicht befinde ich mich zwischen zwei Kriegen, zwischen zwei Kolonnen von Migranten. Bevor ich reise, öffne ich den Koffer immer schnell, und mein Schatten ist schon eingepackt. Wenn ich nach Hause zurückkehre, erfolgt das Öffnen des Koffers langsam, so wie man den versiegelten Sarg eines Kriegsopfers öffnet. Und alles ist darin. Sogar der Schatten.

Dein Nikola

Brief nach Mazedonien versendet (Wagner an Madzirov)

Lieber Nikola,

so sehr ich das betrübliche Thema im ersten Brief vermieden habe, will ich nun doch noch einmal leise über Großbritanniens Abschied jammern – auch deshalb, weil vielerorts jenes niederschmetternde britische Referendum vom Juni bereits als Selbstverständlichkeit, als schicksalhafte Gegebenheit gesehen und schulterzuckend akzeptiert wird, ich hingegen immer noch einen Stich verspüre, wenn mir einmal mehr bewußt wird, daß die schöne Insel sich plötzlich um ein paar hundert gefühlte Seemeilen von uns anderen Europäern entfernt hat, daß sie weit in den Atlantik hinaustreibt und unser Kontinent ein bißchen einsamer scheint; auch will ich mich nicht zu jenen gesellen, die mit kaum verhohlener Häme die ersten üblen Vorzeichen begrüßen und den wirtschaftlichen Niedergang des Königreiches herbeisehnen, um sagen zu können: seht her, das habt ihr davon. Nein, mir ist einfach nur traurig zumute, auch wenn es ja wahr ist, daß ich nie in Großbritannien gelebt habe, lediglich auf der anderen Seite der irischen See, in Dublin nämlich, daß es sich also, denke ich darüber nach, vor allem um eine literarische Liebe handelt, um die eines Lesers und Übersetzers. Für mich setzt sich die britische Landschaft aus dem London von Charles Dickens, dem Yorkshire von Ted Hughes und dem Wales von Dylan Thomas zusammen, sie erhebt sich aus dem Lake District der Romantiker Wordsworth und Coleridge, wohin ich es nie geschafft habe, doch vielleicht, wer weiß, macht die Tatsache, daß ich eher poetische denn wirkliche Landschaften durchstreift habe, diese tiefe Zuneigung nur umso beständiger. Vor wenigen Tagen erst war ich in Winchester, im wirklichen Winchester, meine ich, in der Grafschaft Hampshire südlich von London zu Gast, und schon bei der Ankunft am Flughafen Heathrow, beim ersten Gewahrwerden englischer Dialekte und während der ganzen dann folgenden Bahnfahrt stieg etwas Wehmut ins Herz. Wie erst also mußte es den Freunden in Winchester gehen, den alten und den neu gewonnenen, von denen nicht ein Einziger für den Austritt votiert hatte, die allesamt noch immer unter Schock zu stehen schienen, es nicht wahrhaben wollten. Das Thema ließ uns den ganzen Abend nicht los und begleitete uns über die Tage hinweg.

Auch Winchester ist, das weißt Du so gut wie ich, lieber Nikola, in literarischer Hinsicht nicht unbedeutend. Keats hat hier eine Zeitlang gelebt (Keats, der angesichts seines kurzen Lebens und seines allzu frühen Todes fast als Verkörperung von „fragility“, von Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit gelten könnte – „Here lies one whose name was writ in water“, lautet die berühmte und berührende Inschrift auf seinem römischen Grabstein unter Pinien), und auch Jane Austen hat in Winchester ihre letzten Jahre verbracht. Sie wohnte in einem Haus unweit der imposanten Kathedrale, in der noch heute ihr Grab zu betrachten ist, eine Platte im Boden, die sich von einem zu eiligen Besucher übersehen ließe und in der Austens Romankunst mit keiner Silbe erwähnt wird. Ich pilgerte früh am Sonntagmorgen dorthin, noch vor dem ersten Gottesdienst, und der Küster war so freundlich, mir trotz der noch unbesetzten Kasse Einlaß zu gewähren, so daß ich ganz allein mit den Gräbern, mit dem jungen Licht in den Buntglasfenstern und den steinernen Heiligen im gewaltigsten aller englischen Kirchenschiffe stand.

Daß Winchester ausgerechnet die Stadt von Keats und Austen ist, war auch deshalb nicht unpassend, weil ich beider Namen mit meiner vorangegangenen Reise nach England verband, einer Reise nach Cambridge nämlich, wo ich anderthalb Jahre zuvor das hübsche Fitzwilliam Museum besucht und unter dem bordeauxroten Samt einer Vitrine vollkommen unvermutet zwei Handschriften entdeckt hatte. Eine davon war erschütternderweise das Blatt Papier, auf dem Keats, offenbar wirklich in einem Durchgang und ohne größere Korrekturen, mit nur wenigen Streichungen, seine Ode to a Nightingale niedergeschrieben hatte, unter einem Baum sitzend und dem Gesang eben jenes Vogels lauschend. Der andere Bogen war um einiges größer und, wie die zahlreichen Knickspuren zeigten, offenbar so oft gefaltet worden, bis er als winziges, viellagiges Papierpaket mit Wachs versiegelt werden konnte. Es handelte sich um einen Brief Jane Austens an ihre Schwester, verfaßt während einer Rast auf einer Kutschfahrt durch England, ein langer, überbordender Brief mit einer insektenhaft zarten Handschrift, in dem, so weit ich sie zu entziffern vermochte, mit Eloquenz und Ausdauer lediglich zwei Themen verhandelt wurden – Austens Hut und die Tatsache, daß er die mühevolle Reise bislang ohne Fleck und Delle überstanden hatte, sowie das ausgezeichnete Roastbeef, das man während der besagten Pause verzehrte und dessen Qualität und Beschaffenheit mit vielen Worten beschrieben und gepriesen wurde. Kurzum: Es war ein herrliches Beispiel für die altehrwürdige Kunst des Briefeschreibens, die wir ja mit unserem kleinen Austausch wieder aufzugreifen versuchen – und der man sich vielleicht ganz allgemein wieder mit mehr Verve widmen sollte, tritt doch der Briefeschreiber, ganz wie der Dichter, einen Schritt zurück von der rasenden Hast und den weitereilenden Massen und hält für einen Augenblick die Zeit an, betrachtet, reflektiert, resümiert und wählt seine Worte mit so viel Bedacht, daß sogar das Flüchtigste Gewicht und Dauer erhält, selbst Hutmoden und Roastbeef zu Trägern einer Botschaft werden, weil sich dem Empfänger durch sie und ihre Beschreibung etwas mitteilt vom flüchtigen Moment und vom Gemüt des Absenders. Sollten wir nicht alle wieder mehr Briefe quer durch Europa schicken, mittels solcher Augenblickskapseln, über die Grenzen hin- und zurückgetragen, das Verständnis für einander und das Wissen umeinander derart vertiefen, daß ein Mißverstehen kaum noch möglich wäre? Und wer weiß, ob nicht die Entwicklung so oder so, nach all den technischen Fortschritten, in einer gewaltigen, ironischen Kreisbewegung schon bald zurückführt zu einem längst vergessenen Nachrichtenwesen, zu den Brieftauben, deren leere Türme in ganz Europa, ich denke etwa an die schönen gemauerten pigeonniers im Süden Frankreichs, sich dann erneut mit Leben füllen? All die urzeitlichen Techniken sind ja gerade mal ein paar Jahre alt, und so sollte man aus der Mode gekommene Verfahren vielleicht nicht voreilig verlachen und vergessen. Ich jedenfalls habe vor ein paar Wochen, denn sicher ist sicher, meine alte Remington-Schreibmaschine aus der Kammer geholt und zum letzten verbliebenen Reparateur Berlins gebracht, einem älteren Herrn im Stadtteil Kreuzberg, dessen kleine Werkstatt voller Olivettis und Underwoods, Triumph-Adlers und Optimas steht, lauter gewichtige, eiserne, schweigende Geräte, die den gesamten Raum mit der bleiernen Schwere eines Lokschuppens füllen. Noch könne er mir ein paar Farbbänder anbieten, noch ließen sie sich bestellen, murmelte er durch seinen gewaltigen Schnurrbart und versprach, die verhärtete und unbrauchbar gewordene Gummiwalze schleunigst durch eine frisch gegossene zu ersetzen.

Und während er meine Remington entstaubte, die Mechanik und die Tausendfüßlertastatur mit Liebe und einem profunden Wissen neu justierte, war ich bereits von Winchester zum riesigen Flughafen Heathrow zurückgekehrt und fest entschlossen, noch eine Dose von jenem hervorragenden Earl Grey zu erwerben, eine Dose Schwarztee als Souvenir aus dem noch nicht ganz abtrünnig gewordenen Königreich, erhältlich in einem speziellen und mir schon bekannten Geschäft, das sich allerdings, wie ich wußte, in Terminal 4 und nicht wie ich in Terminal 1 befand. Zum Glück hatte man mir mitgeteilt, daß der hochmoderne Flughafenzug mich trotz der äußerst knappen Zeit sicher zum Teegeschäft und wieder zurück zu meinem Abfluggate bringen werde – nur stellte sich heraus, als ich beschwingt mit meinem Tee aus dem Laden trat, daß nicht ein einziger Wegweiser den Weg zurück zu meinem Abflugterminal wies, daß der hochmoderne Zug vielmehr nur in eine einzige Richtung zu reisen erlaubte und man mit dem Betreten seiner Waggons alle Brücken hinter sich abbrach. Ein Flughafenangestellter, der ein Herz aus Gold hatte, doch ebenso ratlos war wie ich („It’s my first day here, so sorry“), suchte mit mir nach möglichen Fuß- und Schleichwegen, erwog sogar, mir seine wertvolle Schlüsselkarte zu leihen, um mich auf unterirdischen Pfaden rechtzeitig zu meinem Flugzeug zu bringen, womit sein erster Arbeitstag jedoch auch sein letzter geworden wäre – und so blieb nur, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, den Flughafen ganz zu verlassen und noch einmal mit der leidigen Kontroll- und Filzprozedur zu beginnen, in der Gewißheit, daß ich das Flugzeug angesichts der langen Schlangen nicht mehr erreichen und mein Koffer ohne mich nach Berlin zurückfliegen würde. Aber, oh, Albion! – wie durch ein Wunder öffnete mir mein Päckchen Tee, das ich als eine Reliquie vor mir hertrug, alle Schranken, teilte der Earl Grey die Massen, nickte man anerkennend, sobald ich die Packung hob und zu erklären versuchte, warum ich ein zweites Mal durch die Sicherheitsschleusen eilte, lächelte, sagte, „Oh, you’ve bought some tea, haven’t you?“ und „Just go ahead, that’s a very fine one you’ve got there“, gingen alle Türen wie von Zauberhand auf, und das zu meinem Glück just in time.

Man spricht so oft abschätzig von Flughäfen, bezeichnet sie als kalt und glatt und bar jeder Identität, als reine, limbushafte Nichtorte – dabei offenbarte sich mir in ihnen mehr als einmal die ganze Schönheit Europas mit seinen nationalen und regionalen Eigenheiten. Ich rede dabei noch gar nicht von der sprachlichen Vielfalt, der sich an jedem europäischen Großflughafen lauschen läßt – neben jener immerwährenden, universalen, blutdrucksenkenden Saxophonmusik im Hintergrund. Ich denke weniger an den erstaunlichen, überraschenden Einbruch des Literarischen in die banale Wirklichkeit, als ich hörte, wie am Pariser Flughafen Charles de Gaulle plötzlich ein Monsieur Godot ausgerufen und gebeten wurde, sich am Schalter zu melden, was mich um ein Haar auf den Weiterflug nach Südamerika verzichten ließ, denke schon eher an die Sicherheitsbeamten in Tegel, die kaum auf die Durchleuchtung des Handgepäcks zu achten schienen, die vielmehr, offenbar alle Besitzer eines Schrebergartens der Kolonien „Freundschaft“ und „Gute Zeit“, gestenreich, lautstark und überaus dialektal und mit icke und ditte in den  Austausch von Ratschlägen zur Pflege und Zucht von Strauchtomaten vertieft waren. Vor allem aber kommt mir jene Situation am Flughafen von Toulouse in den Sinn, nachdem ich Freunde in ihrem Landhaus bei Verfeil-sur-Seye besucht und gemeinsam mit ihnen einen zu Recht gerühmten Käseladen aufgesucht hatte, so daß in meinem Handgepäck vier prachtvolle Stücke von Reblochon, Èpoisses, Vieux Boulogne und Pont l’Eveque ruhten, dazu ein Roquefort sowie ein normannischer Camembert. „Öffnen Sie bitte Ihre Tasche, Monsieur“, sagte der kahlköpfige Beamte an der Sicherheitskontrolle, der streng war, aber doch weit weniger streng als mein Käse. „Parbleu!“, rief er aus und zuckte zurück, „das können Sie unmöglich mit an Bord nehmen“, worauf ich die Situation erklärte und auf den hohen Wert und die überragende Qualität meiner Einkäufe hinwies. „Lassen Sie mal sehen“, sagte er, schon freundlicher, und nahm alle sechs Stücke aus meiner Tasche heraus, während sich schon zwei weitere Beamte, ein junger und ein älterer, molliger, neugierig zu uns gestellt hatten, um zu sehen, was um Himmelswillen da vor sich ging. Und nun wechselte der Reblochon von der Hand des Kahlen in die Hand des Molligen, nahm der Junge erst den Èpoisses und dann den Vieux Boulogne, um an ihnen zu schnuppern, bevor er den Èpoisses an den Kahlen und den Vieux Boulogne an den Molligen weiterreichte, der unterdessen am Pont L’Eveque herumdrückte und „très bon, très bon“ murmelte; der kahlköpfige Beamte wog seinerseits den Roquefort in der Linken und den normannischen Camembert in der Rechten und ließ den Camembert zum molligen und den Roquefort zum jungen Beamten weiterwandern, der noch mit geschlossenen Augen den Duft des Reblochon tief in sich aufnahm; der Mollige wickelte inzwischen den Vieux Boulogne aus und der Kahle führte den Èpoisses zur Nase und rief so voller Inbrunst „Mon dieu!“, daß die anderen Reisenden sich nach uns umzudrehen begannen, und der Mollige schürzte anerkennend die Unterlippe und hob den normannischen Camembert ins gleißende Licht der Neonröhren, während der Junge den Kahlen bat, ein weiteres Mal am Èpoisses riechen zu dürfen und im Gegenzug den Reblochon anbot; der Kahle schnalzte mit der Zunge, schien den Vieux Boulogne mit dem Roquefort oder den Camembert mit dem Reblochon zu vergleichen, der Mollige gab seufzend den Pont l’Eveque an den Jungen weiter und der Junge rollte mit den Augen und rief „mais c’est formidable“ und drängte schwer atmend dem Kahlen den normannischen Camembert auf, bis Reblochon und Èpoisses vielfach die Hände gewechselt hatten, alles zu einer einzigen, streng duftenden Choreographie geworden war, zu einem Käseballett, bis der Vieux Boulogne und der Pont l’Eveque alle drei Repräsentanten des französischen Staates zu spitzen Schreien des Entzückens hingerissen, in eine wahre Käseekstase hineingetrieben hatten, bis schließlich der Kahle, der Mollige und der Junge mit Reblochon, Èpoisses, Vieux Boulogne, Pont l’Eveque, Roquefort und normannischem Camembert in den bebenden Händen, mit vor Glück leuchtenden Augen, seltsam entrückt verstummten. „Monsieur“, sagte der Grenzbeamte entschlossen und gab mir meine Tasche zurück, „Sie fliegen“ – und wie ich flog, lieber Nikola, von Europa nach Europa.

Ich grüße Dich herzlich,
Dein Jan

12. Dezember 2016 – Brief nach Berlin versendet (Madzirov an Wagner)

Lieber Jan,

in dem Augenblick, als mich Dein Brief erreichte, mit Worten wie versetzten Edelsteinen von den Inseln, lief mein Visum für Großbritannien ab. In den langen Gutenachtgeschichten beschrieben meine Großeltern Inseln immer als Augen des Meeres und der Stille. Deshalb war die erste Reise nach England für mich eine Wallfahrt zur eigenen Entfremdung vom lauten Balkanerbe und der Auferstehung der Geschichten, die Tod brachten ohne Recht auf Auferstehung. Vielleicht sind wir am Flughafen aneinander vorbeigegangen, in der Schlange vor der Passkontrolle, die die Reisenden in solche aus der EU und die übrigen einteilt, so natürlich wie die Ikonographie der Grabsteine die Gebeine einteilt in katholisch, protestantisch, muslimisch, heldenhaft, vergessen … Vielleicht haben wir am selben Tag Keats’ Manuskripte eingesehen im Versuch, die Bewegungen seiner Hand zu rekonstruieren, so wie wir an der Passkontrolle versuchen, unsere Unterschrift so gut wie möglich auf den Scannern mit den grünen und roten Leuchten zu imitieren. Großbritannien ist meine Insel der Ruhe, ein Ort, an dem ich meine Angst vor großen Gewässern und ebensolchen Ideen zähme. Dieses Auge des Meeres, über das viele zu gehen versucht haben. Ob Europa mit dem Weggang Großbritanniens einen Teil seines Horizonts verloren hat? Ist der zerbrechliche Spiegel Europas beschlagen, als die Insel wie ein Schiff zu den Koordinaten der Nichtzugehörigkeit davonsegelte. Oft stelle ich mir die Frage nach dem Wesen des modernen und modifizierten Nomadentums, das sich mehr auf eine statistische Veränderung der „Readymade“-Räume reduziert als auf das Schaffen von Räumen und ihr Verlassen. Mein archäologisches Bewusstsein erkennt Europa als ein Mosaik wieder, geschützt vor atmosphärischen Einflüssen, und das nomadische Bewusstsein sieht in allem einen Raum, der geschaffen werden muss. All diese Fragen werden durch die Nachttischlampe in meinem vorübergehenden Zuhause in Berlin beleuchtet – einer Stadt, in der Raum eine weite Erinnerung ist. Auch wenn ich ständig reise, antreffe und verlasse, kann ich nicht über tatsächliches Nomadentum sprechen, denn echte Nomaden nehmen nichts mit sich, wenn sie einen Raum gegen einen anderen eintauschen, doch ich nehme das Geschriebene mit – das, was ich außerhalb der Zeit und Orte der Kindheit schreibe. Aber der Rahmen der Kindheit ist zerbrechlich, lieber Jan, zerbrechlicher als rekonstruierte Amphoren oder geflickte Geschichten. Wenders wünschte sich, dass nur die Kinder die Engel in Berlin sehen könnten, doch in der Kindheit sind die ersten Dinge, die man lernt, die üblichen Konstanten der Zugehörigkeit: die Namen der Eltern, den Namen der Straße und der Stadt, damit man uns zurückbringen kann, falls wir verlorengehen (ein Verb, mit dem die Erwachsenen all unsere Fluchten benennen). Und danach lernen wir ein Leben lang, von neuem einzig der Kindheit anzugehören. Meine Kindheit war voller Ansichtskarten mit fremden Handschriften auf der Rückseite und Briefmarken aus Staaten, die nicht mehr existieren. Die Briefmarkensammler waren Minotauren im geopolitisch dynamischen Labyrinth. Manchmal fuhren wir zum Dojransee, nur einige Kilometer von meiner Geburtsstadt Strumica entfernt, bloß um jemandem eine Ansichtskarte zu schicken, um den Raum der täglichen Vorhersehbarkeit auszuweiten. Heute gehen meine Schubladen über von nicht abgeschickten Ansichtskarten aus Städten, die ich besucht habe, und von eingelagerten Kühlschrankmagneten, die aneinander kleben wie Tauben in einer Dezembernacht. Ich denke dabei nicht an jene weiße Taube mit dem Ölzweig im Schnabel, die die Kinder immer noch neben die müde Sonne in der oberen Ecke zeichnen, eine Taube, an die mein Sohn zu glauben aufhörte, bevor er aufhörte an den Weihnachtsmann zu glauben oder den Beteuerungen in meinen Briefen, dass ich eines Tages für immer zurückkehren würde. Ich wuchs in einem Viertel auf, in dem es mehr Taubenzüchter als Menschen mit Pässen gab. Leidenschaftlich sprachen sie von ihren Brieftauben, die stundenlang über verschiedene Länder fliegen konnten und trotzdem in ihren Schlag zurückfanden. Das war ihr Europa – vielleicht das realste und sicherste aller Europas später im Leben. Wir lebten in einer Stadt nahe einer Grenze, und ihnen war die Idee von Grenzenlosigkeit so fern wie ein Horizont ohne Staatsflagge. Nach dem Fall des Kommunismus wurden ihre Zweifel ersetzt durch die metaphysischen Grenzen der eisernen Religionen. Ich weiß nicht, wohin die Tauben gehen, wenn ihr Züchter stirbt, ich weiß nicht, wohin die Worte dessen, der schreibt, gehen, wenn er aufhört, Briefe zu senden. Lotman sagt, der künstlerische Text strebe danach, sich dem Leben maximal anzunähern, weil er selbst nicht das Leben ist. Doch Briefe sind Leben, lieber Jan, Narben der Zeitschärfe, Reisende verspäteter Gefühle, Museen paralleler Geschichten. Briefe währen weniger lang als das, was sie in sich tragen, wie ein Schiff, das von der kostbaren Ladung, die es transportiert, überlebt wird. Die Museumswärter lehren uns, dass man Dinge erst wirklich erleben kann, wenn man sie aus der Ferne betrachtet, und ich weiß nicht, ob sie das predigen, um die Artefakte vor Beschädigung zu schützen, oder wirklich wegen der Intensität der Wahrnehmung. Das Schweigen nach jeder Reise war der einzige Brief, den ich mir selbst schickte. In der Armee zerriss man vor meinen Augen die Briefe, die an mich gerichtet waren. Das war eine ideale Übung, die dich lehrt, nicht länger an die Welt jenseits der Uniform zu glauben, alles zu hassen, was keine Waffe trägt. Hass ist Nahrung für Mauern, so wie sich Visa von Zweifel ernähren. An den Flughäfen ziehen die Beamten meinen Balkanpass noch immer zweimal durch den Scanner, so wie Verkäuferinnen im Einkaufszentrum die 100 Euro Banknote argwöhnisch durch den Geldscheinprüfer neben der Kasse laufen lassen. Immer öfter nehme ich am Gepäckband meine Koffer mit einem roten Aufkleber darauf entgegen, der anzeigt, dass sie durch alle möglichen Sicherheitskontrollen gegangen sind. Ich würde mir wünschen, in diesen Augenblicken des Durchsuchens fremder Alltäglichkeit auf der anderen Seite der Wand zu stehen, um zu sehen, was es ist, das die Kontrolleure für verdächtig erachten, und was für sie normal ist. Ich bin mir sicher, sie hätten verschiedene Ansichten beim Definieren von Bedeutung und Funktionalität der Gegenstände. Danilo Kiš sagt, Literatur trachte nach dem Besonderen, um zum Allgemeinen zu gelangen. Welcher ist dieser besondere Gegenstand, der dich allgemein gefährlich macht? Flughäfen sind der Blutkreislauf unserer Erwartungen, sie sind Orte der Erholung für unseren Hunger nach Veränderung in der Welt. Leute, die verloren zwischen persönlichen und staatlichen Zeitzonen umherirren; Menschen, die wie Monumente dastehen, den Blick zu Anzeigetafeln mit Abflügen und Ankünften erhoben, als warteten sie auf ein Zeichen Gottes, dass das Flugzeug nicht abstürzen wird; schlafende Reisende, wie Embryos zusammengekauert auf dem Boden rund um die Steckdosen und die Ladegeräte ihrer Mobiltelefone – der Beginn einer neuen Heimatlosigkeit in den Zwischenorten, jenseits der selektiven Mechanismen der Stadt. Letzten Monat verpasste ich den Flug von Istanbul nach Kuala Lumpur wegen eines Chaos in der Zeitrechnung. Dies Jahr entschied die Türkei, zum ersten Mal nicht der europäischen Umstellung von Sommer- auf Winterzeit zu folgen, obwohl auf dem Telefon die automatische Umstellung der Zeitzone anzeigte, dass der Unterschied zwischen der zentraleuropäischen und der türkischen Zeit noch immer lediglich eine Stunde betrug, in Wirklichkeit aber waren es bereits zwei. Wir waren Opfer der staatlichen Zeitrechnung, nicht der Zeit selbst. Wir waren Sklaven der sich automatisch umstellenden Uhren, der triviale Beginn eines Gesprächs mit einem Unbekannten war uns fremd geworden: Wie viel Uhr ist es? Die Türkei entfernte sich symbolisch um eine Stunde von Europa, ohne die Satelliten davon zu unterrichten. Von Berlin aus reiste ich auch nach Barcelona, Vilnius, Riga und Venedig, doch ich habe nicht einen einzigen Stempel im Pass als Beweis für diese Flüge. Interne Flüge bekommen keine Stempel. Interne Welten hinterlassen keine Spuren. Wir brauchen Narben von außen, und was sind die staatlichen Stempel, wenn nicht Narben kanonisierter Geschichten und Erzählungen über mythische Besonderheit. Europa war und bleibt für mich immer ein natürliches Zuhause nach den Fluchten vor den großen Balkannarrativen über den Anfang der Welt und der Zeit, Fluchten vor der Monumentalität des Selbstmitleids, die in den Räumen, in denen ich aufwuchs, immer anwesend ist. Europa war eine Konstante der literarischen Sicherheit, in ihm fanden viele Autoren ihr Zuhause, die vor dem Schatten ihrer Kindheit flohen. Eroberer tauschen die Namen von Staaten und Städten aus, nicht aber von Kontinenten. Ich wurde in einem Staat geboren, wuchs in einem anderen auf, wer weiß, in welchem ich sterben werde, ohne mich je vom Fenster des Hauses der Kindheit wegbewegt zu haben. Darwisch erklärte von Paris aus, dass er nicht wisse, ob die Namen der Städte nach so vielen Eroberungen und Umbenennungen Teil der Geographie oder Teil der Sprachen seien. Mein Nachname Madzirov bedeutet „Heimatloser“, und es hat sich so ergeben, dass ich ständig reise, dass ich in Städten mit anderem Staub erwache, diesem Körper der Zeit, wie Brodsky schreiben würde. Wegen aller Kriege und der großen Armut, die den Balkan zu Zeiten des Osmanischen Reichs wie auch in der Periode der Balkankriege erfasste, blieben die persönlichen Namen das einzige Erbe. Der Name blieb eine Quelle für die Gestaltung des Bewusstseins und der Sehnsüchte. Mönche ändern ihre Namen, wenn sie in die Gemeinschaft eintreten, und hier ändert jeder Besatzer die Namen von Flüssen und Straßen, doch die Leute leisten Widerstand, indem sie die Straßen bei ihren alten Namen nennen. Hast Du einmal Gedichte in einem Flugzeug geschrieben, lieber Jan, das Dich an Orte bringt, die Du nicht auszusprechen vermagst? Oder schweigst Du, so wie ich jedes Mal schweige, wenn ich an die Leichtigkeit denke, mit der wir in der Luft die Räume der Sprachen durchqueren, die wir nicht sprechen, die Kulturen, die wir nicht kennen. Juarroz schreibt in seiner Vertikalen Poesie, dass es gut sei, wenn der Schöpfer sich manchmal von seinem Werk erholt und auch das Werk von ihm, so wie die Rose sich von ihrem Gärtner erholt oder der Erlöser von seinem Kreuz. Die kreative Stille ist ein langer Dialog mit der Zerbrechlichkeit der Welt. Arvo Pärt erwähnte mir gegenüber in Tallin, das er „Für Alina“ in einer Periode nach einem drei Jahre andauernden kompletten Schweigen als Autor geschaffen habe, vielleicht um mich über meine schöpferische Stille hinwegzutrösten, die ich gegen Übersetzungen oder Spaziergänge durch fremde Schriften eintauschte. Ich möchte schweigen, wenn es laut ist, fliehen, wenn die Kontrolleure nach Hause zurückkehren, reisen, wenn die Piloten schlafen, Falten auf den Laken der ordentlichen Hotelzimmer hinterlassen oder Krümel unter nur einem Stuhl. Solche freiwilligen Übersiedlungen sind meist verbunden mit dem Zustand erzwungener Einsamkeit. Inwieweit ist es möglich, allein zu bleiben, lieber Jan, wenn man von den historischen und politischen Kontexten unseres Europas spricht? Was ist das für eine Idee von kollektiver Einsamkeit, die vor unseren Augen geboren und mit Mauern und Zäunen verteidigt wird? Wir wollen uns bewegen, gleichzeitig aber die Grenzen bewahren oder sie wie Ketten der Sicherheit um den Hals tragen. Wir wollen Briefe schicken, aber nicht zu Hause sein, wenn einer für uns kommt. Ich fühle mich heimischer in der Phonetik der Phrase „europäischer Dichter“ als in der der Phrase „mazedonischer Dichter“, weil Europa mehr als nur Geographie bedeutet oder eine historische Zelle, die Mutationen ausgesetzt ist. Bei der Rückreise von Mazedonien nach Berlin ließ ich meinen Laptop im Autobus der Linie 171 liegen, auf der Fahrt vom Flughafen Schönefeld zu meinem Zuhause in Kreuzberg. Eine halbe Stunde später hatte jemand den Computer gefunden, und er wurde mir zusammen mit allen Passwörtern und nicht veröffentlichten Gedichten und Essays darin zurückgegeben. Ich weiß nicht, wem ich für diese stille Menschlichkeit danken soll. So wie ich nicht weiß, wem ich vergeben soll, wenn eines Tages jemand beladen mit einigen Kilogramm Sprengstoff an mir vorbeigeht. In Zeiten von Sicherheitskameras ist Unsichtbarkeit Status einer privilegierten Identität – sowohl wenn man hilft als auch wenn man tötet. Wir leben in Zwischenwelten, in denen die einzige Art, die Kontrollen zu umgehen, ist, selbst zum Kontrolleur zu werden. Oder den Pass für immer zu verlieren.

Dein Nikola

Brief nach Berlin versendet (Madzirov an Wagner)

Lieber Nikola,

ich schreibe Dir kurz vor Weihnachten und kurz nach dem Anschlag auf Berlin, die Stadt, in der wir beide leben, Du seit kurzem, ich seit nunmehr über zwanzig Jahren. Was soll man sagen? Vielleicht, denke ich, muß man in Zukunft versuchen, noch ein bißchen freundlicher zu sein, all dem Grauenerregenden zum Trotz, sollte man sich bemühen, dem ganz und gar Unsäglichen mit beharrlicher Offenheit und Zugewandtheit zu begegnen. Wenn ich durch die Berliner Straßen gehe, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahre, so scheint mir, daß eben diese Mischung aus Trotz und Freundlichkeit, ein sich Besinnen auf Nachsicht und Güte von sehr vielen Mitmenschen als das Mittel der Wahl empfunden wird. In Neukölln trägt ein junger Mann einer älteren türkischen Dame ihren rotbraun karierten Hackenporsche eine Treppe hinunter. In der U-Bahn bieten gleich drei ausgekochte Neuköllner Tattoo-Gören der jungen Mutter, der eine Flasche Milch im Rucksack ausgelaufen ist, ein Päckchen mit Papiertaschentüchern an. Gerüchte von lächelnden Busfahrern machen die Runde. Und gestern nacht auf der Geburtstagsfeier eines Freundes sangen achtzig Gäste ohne zu Murren und mit leuchtenden Augen Leonard Cohens „Hallelujah“. Mir selbst geht derweil ohne Unterlaß Peter Rühmkorfs Zeile „Bleib erschütterbar und widersteh“ im Kopf herum.

Es war, blickt man auf all die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zurück, wahrlich kein gesegnetes Jahr; nein, man muß schon sehr gründlich suchen, um einen Glanz, etwas Erfreuliches auszumachen. All das wird zweifellos in die kommenden Gedichte Eingang finden – auch in solche, die den direkten Kommentar zu aktuellen Geschehnissen vermeiden, und ich gebe gern zu, daß ich das Gedicht, das eine Antwort geben will, einen Rat zu wissen behauptet, das auf einen Anlaß und einen politischen Umstand gemünzte Gedicht, immer mit Skepsis betrachtet habe, so sehr auch mir die großen und gelungenen politischen Gedichte vertraut sind, die es in allen Sprachen und zu allen Zeiten gegeben hat. Ein Gedicht ist kein Leitartikel, doch bedeutet das keinesfalls, daß es weltabgewandt wäre, seiner Zeit ganz bewußt den Rücken kehrte. „I think that the poet is a sensitive instrument designed to record anything which interests his mind or effects his emotions. If a gasometer, for instance, affects his emotions, or if the Marxian dialectic, let us say, interests his mind, then let them come into his poetry. He will be fulfilling his function as a poet if he records these things with integrity and with as much music as he can compass or as is appropriate to the subject“, sagte Louis MacNeice, der nordirische Dichter, den ich während meiner Zeit in Dublin las und übersetzte, in einem Gespräch. Als dieses empfindliche Instrument, das er ist, wird ein Dichter alles um sich herum aufnehmen, die Schönheiten wie die Schäbigkeiten, die Niedertracht und die Größe, all die Schrecken, die wir Tag für Tag in der Zeitung zur Kenntnis nehmen müssen, doch verarbeitet ein Gedicht all das auf gänzlich andere Art und Weise als ein Kommentar. Ein Gedicht über Waldbeeren muß mitnichten einem Rückzug in Waldeseinsamkeit gleichkommen; es signalisiert lediglich, daß dem Kleinen und Unscheinbaren zugetraut wird, das große Ganze in sich zu bergen, es im sinnlichen Detail zu verankern. Ein gelungenes Gedicht über, sagen wir, ein Glas Wasser, wird dem Glas Wasser mit allen Sinnen gerecht zu werden versuchen, es mit allen poetischen Mitteln und Geduld zu erkunden wissen, doch zwangsläufig immer über das Glas Wasser hinausgehen – so daß ein Gedicht über ein Glas Wasser mehr von unserer Zeit und ihrer Zerrissenheit, mehr von unseren Ängsten und Hoffnungen enthalten kann als eine noch so gelungene und lesenwerte politische Analyse, die es, als hochkonzentrierte bildliche und gedankliche Essenz, überdauern wird, um Jahre oder gar Jahrhunderte später einem Leser als Schlüssel zu seiner Zeit zu erscheinen.

Verzeih die Abschweifungen, lieber Nikola, und laß mich stattdessen anmerken, daß das ablaufende Jahr auch jenes war, in dem meine angeheiratete schwäbische Großmutter ihr Haus, in dem sie über Jahrzehnte gewohnt und zu sommerlichen Geburtstagsrunden mit Kaffee und Bienenstich geladen hatte, verließ und in ein Pflegeheim zog, an dem sie, eine beruhigende Meldung immerhin dies, Gefallen findet. Man hatte zuvor ihren Keller ausgeräumt und hunderte, aberhunderte von Weckgläsern beseitigen müssen, war doch das Einmachen und Gelieren von Obst und Gemüse eine der Konstanten im Leben der Großmutter – Apfelmus und Rhabarberkompott, Gurken in Essig und mit Senfkörnern und Dill, eingelegte Mirabellen und Johannisbeergelee, Brombeermarmelade und marinierte Pilze, alles akkurat versehen mit Etikette und Jahrgangsvermerk, mit Schnörkelchen und Blümchen und Schleifen, auf jedem bauchigen Glas ein sorgfältig mit der Hand beschrifteter Aufkleber, wobei die meisten Schätze ihr Verfallsdatum wohl schon vor Äonen überschritten hatten und ungenießbar geworden waren. Ich selbst habe diese sagenhaften Gewölbe nie betreten, doch stelle ich mir den Keller unter diesem schwäbischen Großmutterhaus als ein riesiges, als ein schier unermeßliches Archiv von geradezu Borges’schen Dimensionen vor, als ein weitläufiges Labyrinth aus Eingewecktem und voller mysteriöser Kanopenkrüge. Und es ist ja so, jedenfalls möchte ich das glauben, daß die Großmutter neben und mit all den Pfirsichen und Pflaumen, den sauren Kürbissen und dem Spitzkohl, auch Jahr um Jahr mit Geduld und Umsicht konserviert hat, mit jedem Glas ein Stück ihrer eigenen Geschichte und ein Stück deutscher Zeitgeschichte in die unendlichen Regale im Schummerlicht ihres Kellers gestellt hat: Die Jahre nach der Flucht, nach dem Kriegsende, die Geburt der ersten Tochter, die Hochzeit und den Tod des Ehemannes, die ersten Schritte der Enkel. Luftdicht abgeschlossen und nur für wahre Kenner herauszuschmecken: Brandts Kniefall in Warschau, das Aufbegehren der 1968er, der Bau der Mauer und ein Stockwerk höher und viele Regale später der Fall der Mauer; der Deutsche Herbst wird eine verblüffende Schärfe im Nachschmecken gehabt haben, die friedliche Revolution ein Arom, das man noch lange am Gaumen spürte, die radioaktive Wolke Tschernobyls wird matt und giftig im Quittengelee des Jahres 1986 geleuchtet haben. Und das Jahr, das nun zuende geht? Es hätte, vermute ich, die Farbe von schwarzen Johannesbeeren und Kirschen und wäre doch ohne jede Süße. Man muß auf die nächste Saison und eine hellere, schönere Ernte hoffen – Dir jedenfalls wünsche ich ein gesundes und gutes neues Jahr, erschütterbar, aber nicht fragil.

Ich grüße dich herzlich:
Dein Jan