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Ruth Schweikert Cécile Wajsbrot

24. Juli 2016 – Brief nach Paris versendet (Schweikert an Wajsbrot)

Zürich, 7., 9., 14., 15., 18., 19., 22., 24. Juli 2016

Liebe Cécile,
Unser Projekt nennt sich „Fragile“ – und ein zerbrechliches, fragiles, brüchiges Gebilde ist bekanntlich nicht nur Europa, sondern immer wieder auch das Leben selbst, das Leben des Einzelnen zumindest, eines einzelnen Menschen –
Wie, wozu noch fünfundzwanzig oder gar dreissig Jahre lang Ressourcen verbrauchen?, dieser Satz schoss mir gestern Abend durch den Kopf, nachdem ich mich durch ein paar online-Kommentare geklickt hatte zum Vorschlag der UNO, den Fleischkonsum zu besteuern, damit wir die Klimaerwärmung begrenzen und dennoch die wachsende Anzahl Menschen auf diesem Planeten ernähren und mit Energie versorgen können. „Man sollte stattdessen eine Baby-Steuer einführen“, schrieb einer, „um dieser gigantischen Fleischproduktion einen Riegel vorzuschieben.“
Die Zeugung, die Geburt eines Menschen als „Fleischproduktion“ zu bezeichnen, stösst in der dieser Gemeinde offenbar niemandem auf. „Fleischproduktion“ – korrespondiert das Wort in seinem Realismus?, Zynismus?, Pragmatismus?, in seiner Menschenverachtung und Lebensverneinung nicht mit jener Meinung, die kürzlich in einem anderen online-Forum abgesondert (und vom Administrator bald gelöscht) wurde?: „Wenn ein Schiff mit Migranten im Mittelmeer versinkt, dann finde ich das eine gute Sache.“ Urheber dieser Mitteilung war ein 45-jähriger Schweizer Informatiker, der sich später der linken Wochenzeitung „WoZ“ als Interviewpartner zur Verfügung stellte (anonym selbstverständlich), damit die Schweiz endlich erführe, was ein echter „Rechtsaussen“ denkt, dem noch die SVP (die dir sicher ein Begriff ist) in vielem zu lasch ist.

Liebe Cécile,
Dieser Brief kommt nicht vom Fleck; er stockt, wie mir der Atem zuweilen; kaum will ich weiterschreiben, anknüpfen an das, was ich in den letzten Tagen notiert habe – Auszüge etwa aus Hannah Arendts Lessingpreisrede 1959 in Hamburg, „Das dauernde Sprechen miteinander vereinigt erst die Bürger zu einer Polis. Denn menschlich wird die Welt erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist“ – brechen mir die Sätze weg. „Schon wieder ein Attentat“, begrüsst mich unser achtzehnjähriger Sohn Ruben heute Morgen (15. Juli), bevor er mir Happy Birthday wünscht –

„liebe ruth“, schreibt unsere gemeinsame Freundin Katharina Hacker später an diesem Tag aus Berlin, „es soll was sein? ein tag, einfach nur ein tag… und was noch? ein heller tag gewesen! und was noch? eine zuversichtliche nacht. und was noch? daß wir noch neue fäden knüpfen, wo andauernd etwas zerreißt.
und was soll es sein? ein geburtstag in einem jahr, das jedenfalls nicht langweilig.
und das auch mit allerlei und allerlei glück!
sei umarmt.
allmählich müssen wir einander immer – coraggio! sagen oder derlei?“

Womöglich findet der Schweizer Informatiker auch die bislang 84 Opfer von Nizza „eine gute Sache“ ? Ich könnte mir vorstellen, dass dem so ist, auch wenn es sich bei diesen Ermordeten wohl vorwiegend um EU-BürgerInnen handelt, und der Informatiker den Islam/den Islamismus/den islamistischen Terror (er differenziert nur bedingt) als grösste Bedrohung überhaupt empfindet. Denn teilen der Attentäter von Nizza und der Schweizer Informatiker nicht vielleicht dieselbe Angst, und setzen sie nicht auf dieselbe „Lösung“, um dieser Angst Herr zu werden?: Die Angst, unterzugehen in einer wachsenden Menschenmasse. Es leben zu viele Menschen auf dieser Welt. Davon sind sie überzeugt. Genauer gesagt: Es leben zu viele Menschen der falschen Art auf unserem Planeten. Je nach Sichtweise handelt es sich dabei um zu viele Arme/ perspektivlose junge Männer/Kriegsgeschädigte/geistig Minderbemittelte, oder um zu viele Reiche/Dekadente/Profiteure/Privilegierte – und die „Lösung“ besteht darin, möglichst viele von ihnen zu töten, bzw. sie verhungern/an behandelbaren Krankheiten/auf der Flucht sterben zu lassen (oder sie zumindest daran zu hindern, „zu viele“ Kinder zu bekommen).
Was der Informatiker erzählt – das Interview ist nachzulesen unter www.woz.ch/-6f26 – zeigt einmal mehr, wie eigentlich inkompatible Gedanken- und Gefühlswelten in einer Person scheinbar mühelos koexistieren. Denn dieser Mann hasst und hetzt im Internet, er verfasst üble sexistische Kommentare – und ist „glücklich“ verheiratet mit einer gebürtigen Ukrainerin, ein „Wirtschaftsflüchtling“, wie er selber sagt, die allerdings nicht den Schweizer Steuerzahlenden „auf der Tasche liegt.“ Der Mann bereitet sich gar ernsthaft darauf vor, in die Ukraine auszuwandern, sobald die Houellebecqsche Unterwerfung des Landes unter die (von den StimmbürgerInnen gewählte) islamistische Regierung auch in der Schweiz Tatsache geworden ist. („Soumission“ übrigens aus meiner Sicht auch die Darstellung einer Männerphantasie; so beschneidet die Islamisierung zwar die Lehrfreiheit an den Universitäten, verschafft dafür aber so manchem in die Jahre gekommenen Professor sexuelle Erfüllung: Vielweiberei, fraglos fügsame, schöne junge Ehefrauen…).
„Der Mensch ist extrem anfällig dafür, unbewusst nicht existierende Verbindungen herzustellen“, schreiben die beiden „WoZ“-Journalisten in einem Kommentar zum besagten Interview, und beziehen sich dabei auf den israelischen Psychologen Daniel Kahnemann und sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“. „Wir müssen uns die Welt in unserem Kopf immer als stimmige Erzählung zurechtlegen.“, fahren sie fort „Wir können nicht anders. Wo etwas nicht aufgeht, macht jeder und jede es für sich persönlich logisch. Eine für uns unlogische Welt halten wir nicht aus. Das langsame Denken erlaubt es aber immer, unsere eigene Erzählung zu überprüfen. Doch das ist aufwendig. Politisch betrachtet ist Kahnemans Analyse hoch brisant: «Es ist anstrengender, Zweifel aufrechtzuerhalten, als in Gewissheit zu verfallen.»“
Wieder denke ich an Hannah Arendts Lessingpreisrede „Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. Denn mir scheint, dass viel, sehr viel!, gewonnen wäre, wenn die Welt auf Arendtsche Weise wieder Gegenstand des Gesprächs würde; Gegenstand eines vielstimmigen, vielfältigen Gesprächs, das sich eben deshalb niemals erschöpft, weil es den Sprechenden weniger darum geht, „die Wahrheit“ zu eruieren, recht zu haben oder recht zu bekommen – denn damit wäre jedes Gespräch beendet -, als eben darum, dieses Gespräch nicht abreissen zu lassen.

Liebe Cécile,
Bülent ist dreissig; er kam vor zwei Jahren aus Izmir, wo er Biologie studiert hatte, mit einem Stipendium nach Zürich, um an der ETH ein Nachdiplomstudium in Molekularbiologie zu absolvieren. Aus mir nicht bekannten Gründen (er hat sich bislang nicht konkret dazu geäussert) wurde er aus dem Förderprogramm gekippt und musste in der Folge auch sein hübsches kleines Appartement räumen. In die Türkei zurückzukehren kam für ihn aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Seine beiden Geschwister wissen, dass er schwul ist; seinen Eltern hat er es bis heute nicht zu sagen gewagt. Ein Jahr lang schlug Bülent sich durch, indem er spätabends und frühmorgens in verschiedenen Zürcher Restaurants putzte. Seit kurzem arbeitet er in einem kleinen Start-Up-Unternehmen, kann endlich seine Fähigkeiten einbringen und verdient einigermassen. Er wohnt weiterhin in einem besetzten Haus. Davon gibt es in Zürich mehr als man es vermuten möchte; meistens ist alles geregelt mit Zwischennutzungsverträgen, die „Besetzer“ zahlen für Wasser und Strom und räumen die Häuser zum vereinbarten Zeitpunkt. Gar nicht so wenige von ihnen könnten sich eine reguläre Wohnung oder ein WG-Zimmer leisten; sie leben aus Prinzip in besetzten Häusern, glauben, damit zu protestieren gegen die Profitgier der Immobilienbesitzer, die mit einem Neubau mehr Rendite erzielen – und profitieren in der Zwischenzeit selber von äusserst niedrigen Wohnkosten. Deutsch spricht Bülent kaum, aber exzellent englisch – und hängt sich auf offener Strasse an seinen neuen Freund Nils, einen 37-jährigen Schweizer, was diesen verblüfft, hätte er doch erwartet, dass Bülent – ja was genau?, die Vorstellungen seiner Eltern internalisiert hat und sich deshalb in der Offenlegung seiner Homosexualität in Zürich weniger frei fühlt als Nils?; dass Bülent als Muslim einen akzentuierteren inneren Konflikt durchlebt als der Agnostiker Nils?; dass Bülents jahrelanges, erzwungenes Versteckspiel sich notgedrungen für alle Zukunft fortsetzt?
Was Nils aber am meisten beschäftigt, ist nicht Bülents Verhalten oder die Infragestellung seiner eigenen Vorstellungen, sondern der Verdacht, dass er selber weniger frei ist als er glaubte.
Ob das eine Geschichte ist? (Der obige Absatz entstand vor dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei, und damit auch vor allem, was auf ihn folgte und noch folgen wird).
Dass der einzelne Mensch zählt – nicht nur als Unit, die am Tag X hinzu- und am Tag Y wieder weggezählt wird – dafür könnte „Europa“ trotz allem auch stehen. Trotz Holocaust, und obwohl zur Zeit fast nur Zahlen noch verhandelt werden: wieviel kostet es, wie viele Flüchtlinge können wir „verkraften“, wie viele „integrieren“; er-zählt werden in den Medien seit längerem fast nur noch die Geschichten der Attentäter und Amokläufer. Oder diejenigen von Fussballstars mit „kosovarischen/tunesischen/kamerunischen Wurzeln“. Von Ruth Klügers Buch „weiter leben“ ist mir unter anderem geblieben, dass Menschen keine Bäume sind, und deshalb zum Glück nicht „absterben“, wenn man sie „entwurzelt“.
Sprache zeigt die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie sie Menschen vorkommt. Deshalb fällt mir auf, dass die Rede von den Wurzeln (zum Beispiel in der NZZ) wieder zunimmt; als kämen den Schreibenden die beschriebenen Menschen zunehmend wie Bäume vor. Um in diesem Bild zu bleiben: Wo viele Bäume sind, verschwinden sie als einzelne; sie werden vom Wald, den sie alle zusammen bilden, gleichsam verschluckt. „Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen“, sagt die Redensart. „Wahre Sätze“, so schreibt in einem Essay Adolf Muschg, „erkennt man daran, dass ihr Gegenteil ebenso wahr ist.“ Und so denke ich immer wieder daran, dass die einzelnen Teile mehr bedeuten könnten als ihre Summe, „das Ganze“ somit weniger hergäbe als die einzelnen Teile, die sich so einfach nicht summieren liessen, auch nicht zu jener „stimmigen Er-Zählung“ der Welt, die wir uns im Kopf so gern zurechtlegen.
Auch dagegen hilft Hannah Arendts Rede: „Doxa und Aletheia“, schreibt sie, „Meinung und Wahrheit: Lessing hätte eine klare Meinung gehabt, und zwar um der unendlichen Möglichkeiten oder Meinungen willen. Gäbe es den echten Ring, so wäre es um das Gespräch und damit um die Freundschaft und damit um die Menschlichkeit schon getan. (…) Wenn wir die Wahrheit besässen, könnten wir nicht frei sein…(…) „Nicht nur die Einsicht, dass es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, dass es sie nicht gibt (…) kennzeichnet die Grösse Lessings.“

Liebe Cécile,
„Das Schlimme am Bewerben“, so schreibt meine Freundin Maria heute Morgen (am 22. Juli), „ist,
dass man nicht verhindern kann, sich Hoffnungen zu machen.“ Maria ist seit fünf Jahren ohne feste Arbeit; sie war nach einem schweren Unfall lange krankgeschrieben und lebt notgedrungen von Sozialhilfe. Maria ist ein wunderbarer Mensch, voller Humor, blitzgescheit, fragil. Weshalb fürchtet Maria ihre eigene Hoffnung so sehr? Weil sie bereits wiederholt eines Schlimmeren belehrt wurde? Weil all ihre Hoffnungen sich als stets von der Wirklichkeit entlarvte Selbsttäuschungsmanöver erwiesen, die sie nun als ent-täuschte Realistin zurücklassen? „Hoffnung gibt es immer“, darauf beharrte Navid Kermani letztes Jahr in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels, als er die Geschichte eines vom IS entführten italienischen Paters erzählte, der in Syrien ein Kloster geführt hatte, in dem Muslime und Christen Zuflucht fanden. Der Mann wurde ein paar Tage vor Kermanis Rede von der muslimischen Bevölkerung aus den Klauen des IS befreit. „Hoffnung gibt es bis zum letzten Atemzug“, insistierte Kermani – was bedeuten würde, dass Hoffnungen sich nicht erschöpfen müssen, auch und gerade dann nicht, wenn sie unerfüllt bleiben oder per se unerfüllbar sind. „In der Hoffnung überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht.“- so noch einmal Hannah Arendt, die dem Zorn mehr abgewinnen konnte. „Aber der Zorn, und vor allem der Lessingsche Zorn, stellt die Welt bloss.“
Der schwere Unfall, den Maria mit 47 erlitt, war ein Bruch, ein Riss in ihrem Leben, der – als handle es sich bei ihrem Leben tatsächlich um ein Gebilde, ein Ding – den Einfall des Lichts erst ermöglichte, von dem Leonard Cohen singt. „There is a crack in everything, that `s how the light gets in“; erst dieser Bruch brachte ans Licht, was Maria vor sich selbst und ihren Nächsten verborgen hatte: Dass sie als Kind und Jugendliche wiederholt Opfer so genannt „fürsorgerischer Zwangsmassnahmen“ geworden war. Die Schweiz ist gerade dabei, dieses „dunkle Kapitel“ „aufzuarbeiten“. Bis 1981 wurden in unserem Land Kinder verdingt, Fahrende zwangssterilisiert, Müttern ihre Kinder weggenommen, nur weil sie arm waren, und in Heime gesteckt, in denen sexueller und andere Formen von schwerem Missbrauch gang und gäbe waren. Marias Mutter stammte aus Portugal; ihr Vater war in der Schweiz längst verheiratet, als er auf einer Geschäftsreise die viel jüngere Portugiesin kennenlernte und sie kurzerhand in die Schweiz mitnahm, wo Maria zur Welt kam. Drei Jahre lang sorgte der Mann für sein ausserehelich geborenes Kind und dessen Mutter; sie lebten gar als Familie zusammen, obwohl der Mann mit seiner ersten Frau verheiratet blieb. Als er überraschend starb, standen Mutter und Kind mittellos da; statt sie in ihrem Bemühen, für sich selber zu sorgen, zu unterstützen, platzierte die zuständige Behörde das dreijährige Mädchen gegen den Willen ihrer Mutter in einem Kinderheim, das kein Daheim wurde, sondern ein Gefängnis mit von Jahr zu Jahr höher wachsenden Mauern.

Liebe Cécile,
Wofür ich unter anderem auch Worte suche; wofür ich lange Anlauf brauchte, was ich dir erst jetzt schreiben kann; Leonard Cohens „Anthem“ habe ich auch gehört am Abend des 9. Februar 2016, und ich habe mitgesungen, mitgeheult vielleicht eher.
Der Bruch, der Riss zieht sich auch durch mein eigenes Leben; und „Fragile“ bedeutet für mich: Seit dem 15. Februar verbringe ich einen Teil meiner Lebenszeit auf der Onkologischen Gynäkologie des Stadtspitals Triemli. Dort oben, im 11. Stock eines heruntergekommenen Siebzigerjahre-Betonblocks mit schönem Ausblick, habe ich vor kurzem ein Gespräch belauscht (viel mehr bleibt einem nicht übrig, wenn man, die Hände immobil in Kältehandschuhen versorgt, die verhindern sollen, dass Gefühlsstörungen in den Fingern auftreten; den rechten Arm mit dem Infusionsschlauch bestückt, 80 Minuten an die Liege gefesselt ist, die entfernt an die Liegen der Business-Lounge erinnern).
Die Anekdote also aus der Chemotherapiestation: Sagt eine Patientin zur Pflegerin: „Und Sie, wohin fahren Sie in die Sommerferien?“ „Nach Kroatien“, antwortet die Pflegerin, die zwar einen Schweizer Namen trägt, aber woanders aufgewachsen ist, wie man ihrer Sprache anhört. „Dann wünsche ich Ihnen schöne Ferien“, meint die Patientin, während die orangefarbene Flüssigkeit in ihre Vene sickert, „ich hoffe nur, Sie sehen dann dort keine Flüchtlinge.“ „Ach wissen Sie, das sind auch Menschen“, erwidert die Pflegerin. „Schon“, bestätigt die Krebskranke, „aber das will man doch in den Ferien nicht sehen.“
Ich muss zugeben, dass ich erschüttert war, als würde ich tatsächlich noch immer denken, eine lebensbedrohliche Krankheit befördere die Empathie. Hannah Arendt hat für das Mitleiden wenig übrig gehabt, im Gegenteil; sie erachtete es gar als gefährlich, sich auf das allgemein Menschliche zu berufen, das uns alle verbindet; Juden wurden von den Nationalsozialisten als Juden angegriffen, also mussten sie sich auch als Juden zur Wehr setzen (und also hätte ein deutscher Nicht-Jude seinen jüdischen Freund auch als Jude verteidigen müssen; genau das aber haben nur sehr wenige getan).

Liebe Cécile,
Maria kann nicht mehr. Nach dem Termin beim Sozialdienst war sie bei ihrer Ärztin. Auch diesmal wollte Maria partout kein Arbeitsunfähigkeitszeugnis, obwohl die Ärztin es ihr nahelegte, weil sie sich grosse Sorgen macht um Maria. Aber Maria will keine IV-Rente – sie sieht sich nicht als „invalid“. So wird sie also weiter die verlangten Bewerbungen abliefern, Absagen sammeln, und wenn dann wieder das übliche Urteil fällt: Frau S., es muss an Ihnen liegen, wir müssen nun testen, ob Sie überhaupt noch etwas leisten können!, dann weiss sie bereits, was kommen wird: Zwangsarbeitstestung. Und auch das wird sie, als ginge sie das alles nichts mehr an, hinnehmen. „Mehr als 100%, also etwa 40 Stunden pro Woche, werden sie nicht von meinem Leben vertilgen können“, schreibt sie, „man macht total sinnfreie und sehr zermürbende Arbeit in diesen Testungen; ich musste oft an Orwells 1984 denken. Da bleiben doch noch ein paar Stunden übrig, nicht wahr?“

Zürich, 12. August 2016

Liebe Cécile,
In der Zwischenzeit war ich mit meinem jüngsten Sohn Orell in London; sechs bewegte, erfüllte Tage mit einem hellwachen Neunjährigen, der sich kaum satt sehen konnte am architektonischen Durch- und Nebeneinander dieser Stadt, der den Stein von Rosette im British Museum ebenso ehrfürchtig bestaunte wie die originalverschwitzten Trikots seiner Fussballhelden in der Umkleidekabine des Chelsea-Stadions. „Look Down“, den Auftaktsong der Strafgefangenen aus dem Musical „Les Misérables“, das wir uns im Queen’s Theatre angeschaut haben (wo seit 2004 nichts anderes gespielt wird), kann er mittlerweile auswendig; er liebt es, Tennis zu spielen im Regent’s Park, die Underground und natürlich die Wachablösung vor dem Buckingham Palace, wie tausend andere Jungs in seinem Alter sicher auch. Und wohl Zehntausende andere Jungen in seinem Alter haben wir auf unseren Exkursionen auch gekreuzt; London wird nach dem Brexit von Touristen offenbar geradezu überschwemmt/überrannt/überflutet (um für einmal nicht von „Flüchtlingsströmen“ zu schreiben); Grund dafür dürfte eher das schwache Pfund und weniger #LondonIsOpen sein; tatsächlich wimmelte es von Menschen; nicht nur vor Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett standen die Besucherinnen und Besucher stundenlang an, sondern vor fast jedem Museum; in der U-Bahn, vor dem Big Ben, auf der Tower Bridge, in den Parks: überall Menschen, Menschen aller Hautfarben und jeden Alters, die entspannt in vielen verschieden Sprachen miteinander kommunizierten; denn wenig nahm ich wahr von einer Anspannung oder Angst nach all den Terroranschlägen, und das hatte nicht nur mit den allgegenwärtigen Sicherheitsvorkehrungen zu tun, sondern vor allem mit der Art und Weise, wie diese umgesetzt wurden. Denn zwar standen überall Polizisten, und überall wurden Taschen kontrolliert, aber das alles geschah mit (zumeist) unaufgeregter Präzision – wie wir am eigenen Leib erfuhren.
Denn zweimal wurde Orells neuer Rollkoffer konfisziert. Am Ankunftstag liess er ihn vor dem Bahnhof Paddington neben einer Orientierungstafel stehen und setzte sich kaum zehn Meter entfernt ans Ufer eines kleinen Kanals. Ich hatte in der Zwischenzeit eine Oyster-Card besorgt und trat aus dem Bahnhofsgebäude, als Orell verstört auf mich zu rannte, auf zwei Polizisten zeigte und schrie: „Die nehmen meinen Koffer mit!“ Es brauchte diverse Erklärungen, bevor die Polizei uns den Koffer kopfschüttelnd aushändigte, und ich war ein erstes Mal beeindruckt von der Tatsache, dass es überhaupt keine Rolle spielte, dass ich eine weisse Frau mittleren Alters bin und Orell ein neunjähriger Junge; wir hatten uns verdächtig verhalten, bzw. Orells Koffer war eine potentielle Bedrohung, das genügte. Am letzten Abend übernachteten wir in einem Flughafenhotel; es war spät, Orell übermüdet, und so kam es, dass er seinen Koffer in der Lobby vergass. Kaum waren wir Zimmer angekommen, rief die Rezeptionistin an; ob ich einen Koffer vermisse. Jawohl, bestätigte ich und beschrieb das Ding so genau wie möglich, Grösse, Farbe, Marke etc.. Ich schickte Orell los, seinen Koffer zu holen. Es dauerte über zehn Minuten, bis er wiederkam, in Begleitung von zwei Mitarbeiterinnen der Hotel-Security. Sie gaben mir deutlich zu verstehen, wie unmöglich mein Verhalten aus ihrer Sicht war. Nachdem ich sämtliche Kinderbücher, Unterhosen, das Chelsea- und die beiden Hard Rock-Café-T-Shirts aufgelistet hatte, durfte/musste ich den Koffer vor ihren Augen öffnen – zum Glück deckte sich der Inhalt ungefähr mit meinen Erzählungen, und so durften wir den Koffer behalten.
Während sich in vielen Ländern bestimmte Bevölkerungsgruppen (junge schwarze bzw. „arabisch“ aussehende Männer) schikaniert fühlen, weil sie weit überdurchschnittlich von der Polizei kontrolliert und verdächtigt werden – was das latente Empfinden der Ausgrenzung natürlich befördert und womöglich Aggressionen schürt – wird mit einem flächendeckenden Sicherheitsdispositiv, wie ich es in London erfahren habe, tatsächlich demokratisch verfahren: Jeder Mensch ist gleichermassen verdächtig wie unverdächtig, jeder ist potentieller Täter und potentielles Opfer; es geht nicht mehr darum, „verdächtige Subjekte“ aufgrund äusserer Merkmale zu identifizieren, sondern einzig aufgrund ihres Verhaltens und Agierens.
Genau diese Erfahrung macht mir Hoffnung. Die Hoffnung, dass Angst und reale Bedrohung nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führen müssen, nicht zu einem generellen Misstrauen gegenüber Muslimen oder eben jungen Tunesiern/Afghanen/Flüchtlingen, sondern zu einer Gesellschaft, die pragmatisch und demokratisch umgeht mit der Terrorgefahr, von der schliesslich alle betroffen sind.
Liebe Cécile, damit gebe ich den Ball erstmal an dich weiter; ich freue mich, von dir zu lesen und grüsse dich herzlich
Ruth

18. August 2016 – Brief nach Zürich versendet (Wajsbrot an Schweikert)

Paris, den 18. August 2016

Liebe Ruth,
Dein Brief ist gut angekommen; während ich ihn lese, strömen Tausende Gedanken auf mich ein, da man aber unmöglich alles sagen kann, will ich versuchen die verschlungenen Lianen ein wenig zu entwirren.
Wir leben in einer Epoche, in der die Ereignisse sich scheinbar überstürzen: Kaum ist ein Gedanke ausgesprochen, wird er vom nächsten Ereignis bereits widerlegt. Auf der Oberfläche der Welt ereignet sich seit jeher immer irgendetwas zu jedem Moment. Was sich jedoch seit der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg verändert hat, der unsere existenzielle und geistige Referenzgröße ist – Hannah Arendt, die Du zitierst, hat diese Welt gedacht, in dieser Welt gedacht – was sich jedoch verändert hat und vielleicht einen Übergang zwischen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem beginnenden 21. Jahrhunderts markiert, ist die Geographie der Ereignisse. Europa hat seit 1945 keinen Krieg gekannt – dies war der Sinn, das Ziel der Europäischen Union –, so zumindest ein weit verbreiteter Eindruck, der nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, denn schließlich hat es den Kalten Krieg gegeben – ich erinnere mich an meine Kindheit, in der wir in der ständigen Angst vor einem Dritten Weltkrieg gelebt haben –, die Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Ostberlin im Jahr 1953, den Einmarsch der Sowjetarmee in Budapest im Jahr 1956, den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag im Jahr 1968, und dann die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren. Ganz zu schweigen von den Kolonialkriegen, in die England und vor allem Frankreich verwickelt waren. Man kann also schwerlich sagen, es hätte zwischen 1945 und dem Ende des Jahrhunderts in Europa universellen Frieden gegeben, aber davon abgesehen, dass diese Dinge nichts mit der riesigen Umwälzung zwischen 1939 und 1945 zu tun hatten, galt doch zumindest für das westeuropäische Gebiet und entsprechend für Frankreich, das ehemalige Westdeutschland oder die Schweiz.
Seit einigen Jahren, einer Epoche, die man praktisch mit beim Beginn des 21. Jahrhunderts, beim 11. September 2001 ansetzen kann, aber das alles hat schon weit vorher und anderswo als in New York begonnen, vielleicht schon im Jahr 1989 – hat nicht Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert als das kurze Jahrhundert bezeichnet, es 1914 beginnen und 1989 enden lassen? – seit einigen Jahren sind jene friedlich wirkenden, von der Gewalt der Welt verschonten Orte zum Synonym der Angst geworden. Und die Fragilität, um zu dem Wort zu kommen, das uns beschäftigt, erstreckt sich nun scheinbar bis zu uns. Ich benutze das Wort scheinbar, denn, wie Du sagst, wohnt die Fragilität dem Leben, der Conditio humana inne. Nur würde man dies manchmal zu gern vergessen und lebt so, als wäre man unverwundbar.
Paris, von wo aus ich Dir schreibe, war bis vor kurzem die Welthauptstadt des Tourismus. Zumindest vertrat man diese Ansicht in Frankreich – auch wenn in anderen Ländern eher von London die Rede war. Ich wohne am Fuß der Butte Montmartre, und seit einigen Jahren sehe ich, wie Touristengruppen und Reisebusse aus aller Welt die Straßen und den Boulevard füllen. Mit dem Wechsel der Regierungen im Herbst 1989 habe ich nach und nach Reisebusse aus Polen, aus Ungarn, aus der Tschechoslowakei gesehen, dann kamen Rumänien, die Ukraine, Weißrussland, Russland … Und gestern habe ich zum ersten Mal zwei iranische Reisebusse gesehen. Die geopolitischen Veränderungen schlagen sich unmittelbar und auf ganz konkrete Weise nieder, die Normalisierung der Beziehungen mit dem Iran hat dazu geführt, dass sich in Europa, in Paris ein iranischer Tourismus entwickelt hat. Ich finde es immer bewegend, die Spuren des Weltgeschehens im Alltag zu entdecken. Und so durchströmten die Fluten der immer zahlreicheren Touristen zunächst die großen Hauptverkehrsadern, bevor sie allmählich in die Nebenstraßen sickerten.
Aber wenn man jetzt an Paris denkt, denkt man an die Attentate von 2015. Zu den einschneidenden Bildern vom 13. November gehören für mich die menschenleeren Straßen am Tag danach, die weniger Ausdruck der Angst als der Niedergeschlagenheit waren; in dem Viertel, in dem ich lebe, zwischen Pigalle und Montmartre, blieben am Samstagabend, dem 14., alle Cafés geschlossen, niemand war draußen. Schweigen. Weniger tragisch zwar als die Leichen und Blumen vor dem Bataclan, weniger explizit als die Inschriften auf dem Denkmal an der Place de la République, eine harmlose Folge, aber äußerst beredt … Und wenn am Morgen des 14. November doch vereinzelt Leute in den Straßen auftauchten, waren es Touristen, die ihren Koffer hinter sich hier zogen und sich eilig Richtung Bahnhof oder Flughafen begaben, um so schnell wie möglich nach Hause zu reisen. Bereits am Sonntag war das Leben wieder in Paris eingekehrt, die Cafés wieder geöffnet, darin Platz zu nehmen fühlte sich beinahe an wie ein Akt des Widerstands, aber die Verletzung war da. Dasselbe habe ich in Brüssel gesehen, wo ich im März war, während der Attentate. Zuerst zieht sich die Stadt ins Schweigen zurück, wie ein verletztes Tier, die Straßen sind menschenleer, Militärs und Polizisten durchstreifen sie, das Gewehr im Anschlag, wie ein Emblem für das vergossene Blut, wie ein Fallgitter, eine Zugbrücke, die hochgezogen wird.
In diesem Jahr sollen die Touristenzahlen aufgrund der Attentate um schätzungsweise 15 % zurückgegangen sein. Und in diesem Jahr beschleicht einen aufgrund der zahlreichen Angriffe auf Nizza, Köln, Würzburg nun überall das Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Prekäre des Lebens war früher mit fernen Namen verknüpft, Kabul, Beirut, Pakistan, Afghanistan. Seit einiger Zeit trägt die Gefahr den Namen unserer Städte.
Aber beinahe noch beunruhigender als die Gefahr oder zumindest genauso beunruhigend sind die Reaktionen auf die Gefahr. Ich habe keine Lust jene Wörter zu verwenden, die man im Radio hört und täglich in den Zeitungen liest, Terrorismus, radikaler Islamismus, Krieg. Mit solchen Bezeichnungen will man ganz offensichtlich jegliche Reflexion, jegliches eigenständige Denken vermeiden. Die Reaktionen auf die Gefahr, auf die Wörter, die man hört, Sicherheit, absolute Sicherheit – als könnte es die jemals geben. Die Negation selbst des Fragilen. Seit dem Abend des 13. November ist in Frankreich der Notstand verhängt. Das ist keine Metapher, es ist eine politische Entscheidung, die zunächst für zehn Tage aus der Not heraus gefällt wurde. Ihre Verlängerung um drei Monate wurde vom Parlament beschlossen, und seitdem hat es zwei weitere Verlängerungen gegeben, nach dem Fußball-Euro wollte man diesen Ausnahmezustand eigentlich beenden, aber nach dem Attentat von Nizza wurde der Notstand wieder verlängert, diesmal für sechs Monate. Anstatt festzustellen, dass sich das Attentat trotz des Notstands ereignet hat, dass dieser nichts verhindert hat, befand der Präsident Hollande, man könnte es sich in einem derart psychologischen Moment nicht erlauben, aus der Deckung zu kommen. Die Falle, in die er getappt ist, funktioniert hervorragend. Man kann mühelos voraussagen, dass es eine weitere Verlängerung geben wird, um die Wahlkampagne für die Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 abzudecken (die Regierung wird Angst haben, dem Front National Argumente in die Hände zu spielen, zumal dieser unaufhörlich die mangelnde Autorität des Staates und die Sicherheitslücken beklagt), und der nächste Präsident, wer auch immer das sein wird, wird gewiss nicht den Mut und vielleicht auch nicht den Wunsch haben, den Notstand gleich bei der Amtsübernahme auszusetzen. Somit wird es nie einen Grund geben, den Notstand auszusetzen, denn, um mit ihren Worten zu sprechen, es wird nie absolute Sicherheit geben und auch kein Nullrisiko. In der Zwischenzeit werden die Straßen von Paris flächendeckend von Polizisten und Militärs überwacht, was die Touristen tatsächlich in die Flucht schlägt. Und es ist davon die Rede, dass beim nächsten Schulbeginn, Anfang September, auch die Schulen von der Polizei bewacht werden sollen. Wie wäre es erst, wenn sich das Land tatsächlich im Krieg befände? Einige behaupten im übrigen, wir wären im Krieg – ein Wettrüsten der Sprache. Aber wenn sich ein Land im Krieg befindet, wie mir Andrej Kurkow sagte, als wir uns am 22. März, dem Tag des Attentats, gemeinsam in Brüssel befanden und durch die Straßen von Molenbeek gingen, wenn ein Land im Krieg ist, sind die Soldaten nicht in der Stadt, sondern an der Front. Dieses militärische Aufgebot, die Beschneidungen der Freiheit, die der Ausnahmezustand einem rechtlich beschert – und den weder die Belgier nach Brüssel, noch die Briten nach London, noch die Spanier nach Madrid verhängt haben –, das alles sollte eher Angst bereiten. Seit gut zwanzig Jahren stehen die Synagogen unter Polizei- und Videoüberwachung. Seit Jahren fällt mein erster Blick bei der Ankunft in Paris, wenn ich aus Berlin zurückkehre, wo ich teilweise lebe und wohin ich mit dem Zug fahre, auf die Militärs im Bahnhof. Und anstatt zu verschwinden dehnt sich die Überwachung auf weitere Kultstätten aus – auf Moscheen und, warum nicht, nach dem Mord an dem Priester in Saint Etienne-du-Rouvray, auf die Kirchen –, auf die Wohnhäuser, in denen Persönlichkeiten leben, die zur Zielscheibe werden könnten, auf weitere öffentliche Räume, auf die Straße. Überwachen ist zur Gewohnheit geworden, ich weiß nicht einmal, ob die Leute den regelmäßigen Patrouillen – wie soll man sie sonst nennen – überhaupt noch Beachtung schenken, sie sind Teil der Landschaft geworden. Ich habe Ende der 1970er Jahre Militärs in den Straßen von Prag gesehen, Soldaten der Roten Armee, ich habe Ende der 1980er Jahre die Militärpolizei in Brasilien gesehen. Heutzutage Militärs in den Straßen von Paris zu sehen weckt in mir ein Gefühl des Unbehagens. Es ist niemals harmlos, wenn die Armee oder die Polizei in der Stadt präsent ist – ganz gleich, wie man das begründet … Doch dieses Gefühl wird nur von einer Minderheit geteilt. Offenbar beruhigt es die Leute, obwohl es sie alarmieren sollte.
Um diesen Brief zu beenden, um eine weitere Vorstellung von dem hier herrschenden Klima zu geben, möchte ich kurz erzählen, was sich vor einigen Tagen in Korsika, Sisco, ereignet hat. Einer ersten Version der Geschichte zufolge haben Frauen in einer Bucht im Burkini gebadet, jemand wollte sie fotografieren und daraufhin soll ein Streit zwischen Korsen und nordafrikanischen Männern entbrannt sein. Im Anschluss an diese Information haben mehrere Bürgermeister ein Burkini-Verbot an ihren Stränden erlassen, und der Premierminister Manuel Valls hat in einer Pressemitteilung verlautbart, er habe dafür Verständnis. Nach einigen Tagen stellte sich heraus, dass keine der Frauen einen Burkini getragen hatte, dass das Handgemenge auf andere Ursachen zurückging, auf den Versuch einer Handvoll Leute, sich den Ort anzueignen und allen anderen den Zugang zu verwehren. Eine wenig glorreiche Angelegenheit, die Schlagzeilen gemacht hat, weiter nichts. Anstatt abzuwarten und Genaueres in Erfahrung zu bringen, hat man vorschnell reagiert: das seit einiger Zeit in Frankreich herrschende Klima der Angst und seine krankhaften Folgen sind dadurch nur allzu deutlich geworden.
Auch wenn die Lektüre Deines Briefes mir zeigt, wie sehr Dich all diese Ereignisse betreffen, wie häufig Du Personen begegnest, deren Leben von den Ereignissen auf der Welt berührt wird, würde ich gern wissen, was Du fühlst, wenn Du siehst, was sich anderswo ereignet. Oder klarer ausgedrückt, hast Du das Gefühl, in einem neutralen Land zu leben? Hat diese Bezeichnung für Dich einen Sinn? Ich würde gern wissen, ob es fühlbare Zeichen für diese Neutralität in Zürich gibt – hast Du den Eindruck am Rand der Welt zu leben – oder ob dies nur leere Worte sind, da der Zugang zu den Nachrichten natürlich derselbe ist wie in Paris, Berlin oder anderswo in Europa.
Herzliche Grüße aus Paris, einer Stadt, die noch für wenige Stunden ruhig ist und auf die Rückkehr der Urlauber am Wochenende wartet.
Cécile

Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Mälzer

14. Oktober 2016 – Brief nach Zürich versendet (Wajsbrot an Schweikert)

Paris, der 14. Oktober 2016

Liebe Ruth,

ich hatte diese Worte, diese Gedanken aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen, wenn ich auf Deinen Brief antworten würde, aber Dein Brief ist nicht gekommen und so erlebe ich die Merkwürdigkeit dieses Schweigens. Fragil ist auch die Kommunikation zwischen den Menschen. Eine Verbindung deutet sich an, ein Briefwechsel – aber die Umstände des Lebens führen dazu, dass nichts jemals sicher ist. Ich hoffe, es geht Dir gut. Ich hoffe, dass diese Verzögerung auf nichts Ernstes, auf keine Gesundheitsprobleme hindeutet, sondern nur auf einen übervollen Zeitplan. Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel, dass ich Dir auf diese etwas persönliche Weise schreibe. Wir leben so, als wäre alles selbstverständlich, als wäre jeder Tag die Folge der vorangegangenen, als könnte nie etwas in Frage gestellt werden. Es ist eine Notwendigkeit – die Notwendigkeit beruhigender Gewohnheiten – und zugleich eine Behinderung. Eine Art und Weise, die Vergangenheit etwas häufiger zu betrachten als die Zukunft. Wurde nicht auch Europa auf der Vergangenheit anstatt auf der Zukunft errichtet? Ist dies nicht die Erbsünde, die ihr heute diese Einschränkungen auferlegt? Natürlich gab es ursprünglich ein Zukunftsziel, das europäische Aufbauwerk, hieß es. Die Vereinigung der Länder eines selben Kontinents. Aber auch wenn einige eine föderalistische Vision hatten und den Wunsch hegten, die Grenzen aufzuheben, so gründete sich dieser Aufbau doch vor allem auf eine Negierung – nie wieder Krieg – mit Bezug auf die Vergangenheit. Und nachdem man sich mit dieser Negierung, mit diesem Bezug auf die Vergangenheit und einer relativen Freizügigkeit der Waren, Güter und Menschen begnügt hatte, nachdem dieser Bezug obsolet geworden war – denn der Krieg zwischen den europäischen Ländern lag glücklicherweise weit zurück –, war es da nicht unvermeidlich, dass der europäische Gedanke für die meisten Leute hohl klingen würde?

Wir leben heute so, als wäre alles selbstverständlich, als wäre der vergangene Tag das Modell für die kommenden Tage. Als könnte jedes angefangene Ding immer zu Ende geführt werden. Das Schweigen ist wie eine unsichtbare Mauer, an die sich das Denken, die Sprache stoßen. Plötzlich erkennt man die Eitelkeit der Dinge, die man so oft zu verdrängen sucht. Plötzlich fehlt etwas und die Leere dehnt sich aus. Dies gilt für einen Freund, der kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, ebenso wie für eine endende Liebe – wie auch für einen vorübergehend unterbrochenen Briefwechsel. Ja, ich hoffe, es geht Dir gut, und wäre beruhigt, deine Antwort zu erhalten.

Herzlichst,

Cécile

Übersetzung aus dem Französischen: Nathalie Mälzer

Paris, September 2016

Nachdem ein Termin im zwanzigsten Arrondissement etwas früher geendet und ich somit noch etwas Zeit hatte, beschloss ich zu Fuß ins achtzehnte Arrondissement, in mein Viertel, zurückzukehren. Es ist ganz einfach, man braucht nur dem Gürtel der Boulevards– einem verkappten Ring – zu folgen und schon kommt man vom zwanzigsten ins neunzehnte, vom neunzehnten ins achtzehnte.

Der Weg ist nicht immer angenehm – man geht an grauen Häuserwänden entlang, an seelenlosen Gebäuden, hier und da ein Café, das die Straße belebt, hier und da eine geschlossene Reihe mit Wohnhäusern. Aber ab Ménilmontant wird das Viertel lebendiger. Kinder rennen, vergnügen sich, die Schule ist aus. Bei Belleville ein Soldat, der feierlich eine Waffe hält. Er ist vor einer Schule postiert – einer jüdischen Schule. Das steht zwar nirgends, aber ein paar Jungs mit Kippa und die Anwesenheit des Soldaten weisen darauf hin. Was mögen die Kinder wohl denken, dass sie geschützt und bewacht werden müssen, um zur Schule zu gehen? Keines von ihnen sieht den Soldaten an, sie haben sich vermutlich an den Anblick gewöhnt, – aber ist das nicht das eigentlich Schlimme? Dass man mit einer möglichen Gefahr rechnet, als wäre dies eine normale, alltägliche Situation.

Belleville war früher – aber warum die Vergangenheitsform und was heißt früher – ein Viertel, in dem eine jüdische Gemeinschaft, die überwiegend zwischen den beiden Kriegen hergekommen war, mit einer jüngeren asiatischen und einer arabischen Gemeinschaft zusammenlebte. Ich verwende das Wort Gemeinschaft, obwohl ich es nicht sonderlich mag – aus Bequemlichkeit. Ich sollte nicht, denn es hat den Beigeschmack von Abgeschlossenheit, von Exklusion.

Und dann – aber vielleicht kennst du ja diese einst benachteiligten Pariser Viertel, die sich allmählich gentrifizieren – dann kommt der Kanal; und Stalingrad. Früher trafen sich am Abend hier, vor der Rotunde Ledoux, einem ausgesprochen schönen Bauwerk, die Dealer. Inzwischen sind sie weitergezogen, inzwischen befindet sich dort anstelle eines trostlosen Orts ein angesagtes Café, dessen von Bambus umgebene Terrasse sich auf dem Platz breit macht. Aber am Fuße der Bambuspflanzen liegen Gestalten, Leute auf Matratzen oder auf dem nackten Boden, und immer weiter, Leute, die auf dem Bürgersteig liegen, sich hier niedergelassen haben, manche mit runden Zelten in Blau und Grün. Vermutlich kommen sie aus dem Sudan, aus Eritrea, diesen Ländern, die sich im ewigen Krieg befinden. Auch hier in Paris herrscht ewiger Krieg, wenn auch in einer anderen Größenordnung natürlich. Zelte, Räumungen, eine Weile Leere, und dann beginnt alles wieder von vorn, Zelte, Räumungen und so weiter. Sie stehen an, dort, wo die Metro oberirdisch verläuft, ich komme näher, eine Volksküche. Jeder bekommt einer orangefarbene Suppe, in der ein bisschen Gemüse schwimmt, vielleicht sogar ein Stückchen Fleisch – ich habe nicht genau hingeguckt, ich wollte mich nicht zu lange aufhalten, nur ein wenig Geld geben – und ein halbes Baguette.

Das ist also aus Paris geworden, sagte ich mir, mit Tränen in den Augen und im Sinn. Kinder, die unter Militärschutz in die Schule gehen, Leute, die von weit her kommen, vor Hunger oder Krieg geflohen sind und hier auf der Straße leben müssen. Während der Platz unter der Metrobrücke an der Station la Chapelle, nachdem er für einige Monate ein regelrechtes afrikanisches Dorf beherbergt hat, zu beiden Seiten abgesperrt ist, um den Ort vor jedem weiteren Versuch der Aneignung zu schützen, aufgespannte weiße Planen, das alles bewacht von einer Sicherheitsfirma. Das ist also aus Paris geworden. Eine Stadt, die es nicht versteht, Menschen zu empfangen, eine Stadt, die es nicht versteht, sich zu öffnen, eine Stadt – aber natürlich betrifft es das ganze Land –, die Angst hat. In Wahrheit fragil ist.

Am Abend, auf einer luftigen Avenue, in der die wohlhabenden Leute leben, waren die Restaurants und Cafés gut gefüllt. Alle plauderten friedlich miteinander. Wussten sie nichts von dem, was ich gesehen hatte? Oder taten sie so als ob? Konnte, wer mich ansah, wissen, was ich dachte? Der Schein kann trügen, aber an diesem Tag kam mir Paris wie eine Stadt vor, die aus mehreren unverbundenen Städten bestand, mir war, als müsste ich, um von einer zur anderen zu gelangen, Grenzen, Zollgrenzen überschreiten und andere Sprachen sprechen.

Inzwischen wurde das Lager – ist das das richtige Wort? Jedenfalls wird es verwendet – von Stalingrad geräumt und die Bürgersteige sind erneut leer. Eine ständige Bewegung. Denn schon kurz darauf, nur etwas weiter weg, füllen sie sich wieder. Beeindruckend, diese spontane Errichtung von ganzen Dörfern, diese unmittelbar entstehende Solidarität, diese Menschen, die auf etwas warten – auf eine Zukunft?

Ich weiß nicht, wann es begonnen hat. Aber es ist Jahre her, fünfzehn Jahre vielleicht oder mehr, dass die Leute angefangen haben, die Straßen zu belagern. Leute? Belagern? Ich bin mir dieser sprachlichen Approximationen durchaus bewusst. Sagen wir, am Anfang gab es ein paar Menschen, die draußen schliefen und die man damals als SDF – Obdachlose – bezeichnete, als Menschen ohne festen Wohnsitz. Sagen wir, als ich Adornos Satz über die Lager als einer Art Vorgeschmack auf das künftige Leben, über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als das der provisorischen Unterkünfte las, fand ich ihn prophetisch – aber was sollte man dann von diesem beginnenden 21. Jahrhundert halten? Gefangenen-, Auffang-, Internierungslager, in denen man die Flüchtlinge sammelt. Unterkünfte. Wie viele Millionen Personen leben in diesen Provisorien? Und um auf Paris zurückzukommen: Es dauert nicht mehr lange, bis man in jeder Straße nicht mehr nur Leute sieht, die mit einem Pappbecher für Almosen und einem Schild auf dem Bürgersteig sitzen, auf dem schlecht geschriebene, falsch buchstabierte Wörter stehen – ich habe Hunger, für meine Kinder, bitte –, bis man nicht mehr nur sitzende Leute, sondern in jeder Straße eine Gestalt unter einer Rettungsdecke, in einem Schlafsack liegen sieht, daneben etwas Nahrung und Plastiktüten, jeden Abend, jeden Morgen und am Nachmittag ein paar Habseligkeiten, die mit einer behelfsmäßigen Plane zugedeckt sind, um sie vor begehrlichen Blicken zu schützen. Denn jene, die fast nichts mehr haben, besitzen immer noch Dinge, die ihnen gestohlen werden könnten. Die Straße ist kein Ort des geselligen Miteinanders. Und ich spreche hier nicht von Familien, die in Autos leben, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Und durch diese Geisterstadt, die unaufhörlich weiter wächst, gehen wir hindurch, wir, die Formulare ausfüllen können, auf denen wir ohne Zögern unsere Adresse eintragen, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit, als gehörte sie zu uns, als könnte sie uns nie entzogen werden, ohne recht daran zu glauben, ich meine, natürlich sehen wir, wie sie sich immer weiter ausdehnt, aber wir tun weiterhin so, als wäre nichts, als wären sie die Ausnahme und wir die Regel, während das Pendel ganz allmählich zu ihrer Seite ausschlägt.

Fragil – wenn ich dieses Wort höre, denke ich an diese Schattenstadt. An die Gefahr, die zunächst unsichtbar war oder, besser gesagt, kaum sichtbar, und die nun Gestalt annimmt – sagt man nicht von den Abgeschobenen, dass sie an den Rand gedrängt werden, an den Straßenrand? Nun, inzwischen bewohnen sie den Straßenrand. Und sie sind die Ankündigung, das Bild, die Metapher der Gefahren, die wir auf uns zukommen sehen, ohne sie wirklich kommen zu sehen, und die ihren Weg deutlich sicherer fortsetzen als wir, die ihn mit geschlossenen Augen auf einem vorgezeichneten Weg zurücklegen.

Die Gesellschaft zerfällt, Europa zerfällt, Mauern ersetzen allmählich die Brücken, und Wörter wie Verkehr und Fluss werden bald ungebräuchlich werden oder auf ein goldenes Zeitalter verweisen, nach dem die Welt sich einst zurücksehnen wird.

Ich erinnere mich an eine Lektüre in den siebziger Jahren, ich glaube es war ein Roman von Doris Lessing – hast Du ihn gelesen? –, die Memoiren einer Überlebenden hieß er. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der Jugendbanden London in Besitz nehmen. Die Bewohner fliehen aus einer Stadt, in der Gewalt und Chaos herrschen. Zu jener Zeit war Gewalt auf den Straßen noch ein marginales Phänomen, zu jener Zeit lebten in Paris nur jene unter den Brücken, die man Clochards nannte. Aber Doris Lessing hatte den sich abzeichnenden Niedergang vorhergesehen, und ist es nicht das Wesen der Literatur, das Unsichtbare in sich zu bergen oder besser gesagt das, was noch nicht sichtbar ist, aber erahnt werden kann, wenn man ein Auge und ein Ohr für das hat, was sich um einen herum ereignet? Denn der Schriftsteller ist ein Leuchtturmwärter, der von seinem Turm aus Wache hält, ringsumher das Meer absucht und als erster jenes Boot entdeckt, das Schiffbruch erleiden wird. Er kann nicht einschreiten, aber er schlägt Alarm, in der Hoffnung gehört zu werden und dass von der Küste Rettungsboote entsandt werden – auch wenn der Schriftsteller, wie bei Doris Lessings Roman, oft nichts verhindern kann, bleibt er doch für die Zukunft Zeuge dieser Wachsamkeit, die die nachfolgenden Autoren, die nachfolgenden Leser anspornt, noch genauer hinzusehen und noch genauer hinzuhören.

16. Oktober 2016 – Brief nach Paris versendet (Schweikert an Wajsbrot)

Zürich, 16. Oktober 2016

Liebe Cécile,

Wieder (wie schon bei meinem 1. Brief) bin ich langsam; so langsam, dass dein zweiter Brief da ist, bevor ich dir den meinen zweiten geschickt habe. Danke dafür, dass du unseren Dialog fortsetzt – du sprichst von der Stille als unsichtbarer Mauer, an der das Denken, die Sprache abprallt, wenn ein Dialog abbricht. Die Leere, die Stille, die sich ausbreitet, verletzt – sie kann allerdings, wie du in deinem ersten Brief geschildert hast, auch eine Folge sein von Verletzungen -; ich will also versuchen, dir endlich zu antworten, liebe Cécile, damit diese betäubende Leere sich nicht länger ausbreitet zwischen uns, obwohl dieser Dialog auch anstrengend ist für mich; anstrengender als ich gedacht habe zu Beginn, weil die fast täglichen medizinischen Behandlungen (am 2. November habe ich die letzte Bestrahlung) mich und meine physischen, gedanklichen und emotionalen Kräfte tatsächlich mehr in Beschlag nehmen, als mir lieb ist –

Zunächst geht es also zurück in der Zeit – das scheint mir übrigens auch eine Qualität dieses mehrmonatigen Austauschs unter AutorInnen verschiedener europäischer Länder zu sein: Man kann nachlesen, wie Wahrnehmungen und Einschätzungen sich verändern, sich ausdifferenzieren oder verfestigen im Laufe der Zeit, anders als in einem Essay, das versucht, in sich konzis und kohärent zu sein. In diesen Dialogen bilden sich auch Prozesse ab, nicht nur Ergebnisse.

 

Zürich, 12. September 2016

Liebe Cécile,

Bevor ich auf deinen Brief eingehe – hab herzlichen Dank dafür! -, drängt es mich, über etwas Aktuelles zu schreiben: „Hunderttausende von Flüchtlingen greifen das Sicherheitsgefühl in Deutschland an“ – so lautete am 9. September 2016 eine Bildlegende in der NZZ. Der zugehörige Artikel – zum Jahrestag der so genannten „Willkommenskultur“ – war durchaus nicht in polemischem Ton verfasst; umso eigentümlicher mutete mich dieser Satz an, der in meinem Kopf sogleich das Bild einer Schlacht evozierte, ein mit Speeren bewaffnetes Flüchtlingsfussheer, das auf eine Art Riesenpuppe zielt, ein groteskes Gebilde aus rosafarbenen Ballons, die alle mit „Sicherheitsgefühl“ beschriftet sind. Keine Frage, sämtliche Ballone werden im nächsten Moment platzen; das „Sicherheitsgefühl“ ist zerstört.

Was aber war auf dem Foto über dieser Bildlegende tatsächlich zu sehen? Rund ein Dutzend Menschen, die irgendwo draussen rumstanden, in städtischer Umgebung; etwas verloren wirkten die meisten, als warteten sie auf die nächsten Anweisungen, was sie höchstwahrscheinlich auch taten. Im Vordergrund war ein freundlich dreinblickender junger Mann zu sehen, der ein Kleinkind in den Armen hielt. Was also sollte die Bildlegende den Zeitungsleserinnen zu verstehen geben? Passen Sie auf: Das freundliche Lächeln ist nur eine Fassade?; denn selbst freundlich lächelnde Menschen „greifen das Sicherheitsgefühl an“?

Ich war empört, und beinahe noch empörter war ich darüber, dass in den zahlreichen Leserkommentaren sich niemand mit mir empörte. Die Leserinnen und Leser empörten sich über anderes, über Angela Merkels „Wir schaffen das“, und über den etwas diffusen Artikel, der unter anderem davon sprach, dass die Ängste in der Bevölkerung grundsätzlich nicht mit einer erhöhten Kriminalitätsrate von Flüchtlingen korrelierten.

Ich habe in meiner Empörung versucht, eine alternative Bildlegende zu verfassen: „Laut Umfragen fühlen sich viele Bewohnerinnen und Bewohner Deutschlands verunsichert durch die Aufnahme Hunderttausender Migranten, die letztes Jahr aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind.“ Oder: „Eine Mehrheit der Menschen, die schon länger in Deutschland leben, fühlt sich bedroht von den vielen Neuankommenden, von denen die meisten Muslime sind“? Oder: „Ein grosser Teil der Bevölkerung ist verunsichert, weil im letzten Jahr deutlich mehr Migranten nach Deutschland kamen als in den Jahren zuvor?“

Dann gab ich auf. Das alles taugte nichts, es klang nach politisch korrektem Schwachsinn, an dem ich so langsam verzweifelte. Ich hatte mir doch solche Mühe gegeben, genau zu sein, aber was dabei herauskam, beelendete mich. Aber weshalb? Irgendwann begriff ich: Der Fokus ist verkehrt. Der Fokus richtet sich auf die Ängste der deutschen Mehrheit, nicht auf die realen Gefahren – die den Flüchtlingen in Deutschland mindestens ebenso sehr drohen wie den sogenannt Einheimischen, mal ganz abgesehen von den Gefahren, der eine überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge gerade erst entronnen ist (und was gar nicht erst ins Blickfeld gerät, sind die Ängste der Flüchtlinge).

Nicht alle Ängste sind irrational. Irrationale Ängste aber soll man nicht ernstnehmen, sondern sie als irrational bezeichnen. Und den Menschen, die ihren irrationalen Ängsten mehr vertrauen als den realen Verhältnissen, könnte man sagen, dass sie lernen müssen, ihre Ängste zu sich zu nehmen und mit ihnen zu leben; dass es niemanden gibt, der sie davon befreien oder sie davor schützen kann.

Vielleicht wäre das eine vordringliche Aufgabe der Politik: den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr die Lösung aller „Probleme“ zu versprechen, sondern Menschen darin zu bestärken – ohne die sozialen Errungenschaften in Frage zu stellen -, dass sie mit lösbaren und unlösbaren Problemen leben können.

 

Zürich, 19. September 2016

Liebe Cécile,

Nun also: Hab herzlichen Dank für deinen (1.) Brief, der weiter ausholt und die von mir angetippten Phänomene in grössere historische Zusammenhänge stellt. Nebst Beobachtungen aus deinem Quartier – die ersten Reisecars mit Touristen aus dem Iran, die gespenstische Stille in den Strassen von Paris am 14. November 2015 – entnehme ich deinem Brief vor allem die Sorge, dass wir im Namen der Sicherheit zu falschen, ja fatalen Massnahmen greifen, wie sie sich in Frankreich etwa am fortgesetzten „Ausnahmezustand“ versinnbildlichen, der ja gleichzeitig, wie du eindringlich beschreibst, eine höchst reale Ebene hat: Die Pariser Strassen sind von Polizei und Militär beherrscht, die Schulen seit neustem ebenso von Polizisten bewacht wie die Moscheen und seit vielen Jahren schon die Synagogen. Die allgegenwärtige Überwachung als Teil der Landschaft – man müsste sich die unsichtbare Überwachung (von E-Mails, SMS und Telefongesprächen) als hoch komplexes, ständig wachsendes Netzwerk unbedingt dazu denken. Dein Gefühl des Unbehagens kann ich sehr wohl nachempfinden. Ich würde sogar sagen, ich teile es, vor allem, wenn es um die Überwachung privater Räume und Handlungen geht. Denn mit dem drohenden Verlust von Privatheit schwindet letztlich auch der Handlungsspielraum des Individuums. Dieser aber ist Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung, für sich selbst und die Gesellschaft, in der man lebt. Wer diesen Spielraum ohnehin bedroht sieht, überlässt sich womöglich leichter einem totalitären Regime, dessen Attraktion genau in der völligen Suspension der Verantwortung des Einzelnen für sich selbst besteht.

Dass ich von meinen London-Erfahrungen mit den vielen Sicherheitskontrollen (und dem entsprechenden Personal) geradezu geschwärmt habe, muss dir deshalb merkwürdig vorkommen. Es kommt auch mir ein bisschen merkwürdig vor. Ich denke, was mich für die „Londoner Lösung“ eingenommen hat, waren zwei Dinge: Zum einen wirkten die Polizistinnen und Polizisten auf mich (und Orell) in keiner Weise bedrohlich; mehrfach habe ich den einen oder die andere nach dem Weg gefragt, stets wurde mir bereitwillig und freundlich Auskunft erteilt. Zweitens – so meine Wahrnehmung – entspricht die Zusammensetzung des Polizei- und Wachkorps (zumindest was die äusseren Merkmale angeht) in etwa der Zusammensetzung der britischen Bevölkerung; ganz anders als zum Beispiel in der Schweiz. Ich habe in meinem Bekanntenkreis eine kleine Umfrage gemacht: Während in jeder stadtzürcher Schulklasse tamilische, indische, somalische, chinesische Kinder sitzen, sind die Polizistinnen und Polizisten in der grössten Schweizer Stadt noch immer weiss. Sicher (hoffentlich!) nicht alle, aber doch beinahe alle. Und wie viele Muslime gibt es wohl unter den Polizisten? Meine Internetrecherche mit den Stichworten „Polizeikorps, Schweiz, Muslime“, führt nicht zu Polizistinnen und Polizisten muslimischen Glaubens, sondern zu zwei Zeitungsberichten über Polizisten ohne Schweizer Staatsbürgerschaft, etwas, das in immerhin vier Schweizer Kantonen möglich ist. Am längsten, seit 1997, in Basel, wo man damit „sehr gute Erfahrungen“ mache. So waren 2013 ein Ghanaer und ein Türke in Basel als Polizisten unterwegs, dazu ein paar Deutsche, Franzosen, Italiener.

Wie steht es damit in Frankreich? Dürfen Nicht-Franzosen im Polizeidienst arbeiten?

Auch in Zürich denkt Stadtrat Wolff nach über Polizisten ohne Schweizer Pass, mit dem erklärten Ziel, damit die Wohnbevölkerung besser abzubilden. Denn fast ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz besitzt keinen Schweizer Pass. Und von den rund 450’000 hier lebenden Muslimen ist gar nur ein Drittel eingebürgert. Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen natürlich auseinander. Wollen viele Ausländerinnen und Ausländer gar nicht eingebürgert werden, oder ist die Einbürgerungspraxis allzu restriktiv? Die Hürden sind tatsächlich hoch; finanziell, organisatorisch und in Bezug auf die Anforderungen (mindestens 12 Jahre Wohnsitz in der Schweiz, gute Sprach- und Landeskenntnisse, wirtschaftlich stabile Situation, soziale Integration, etc.) – wenn ich dagegen an das lockere Gespräch denke, das mich, eine in der Schweiz lebende Ehefrau eines in der Schweiz lebenden Auch-Franzosen zur Auch-Französin machte!

Dass sich in der Zusammensetzung des Polizeicorps, der Lehrerschaft, der gewählten PolitikerInnen, aber auch in der Besetzung von Fachgremien und wichtiger öffentlicher Ämter die Zusammensetzung der Bevölkerung einigermassen spiegeln sollte – diese Forderung ist nicht neu, umgesetzt wird sie indessen kaum. Am Sichtbarsten (und ganz ohne Zwang!) wohl im Männer-Fussball, in der Zusammensetzung der Schweizer Nationalmannschaft, die ohne (eingebürgerte) Spieler mit „Migrationshintergrund“ niemals so erfolgreich wäre.

Im Magazin des Tages-Anzeigers war kürzlich die Geschichte eines 41-jährigen Psychiaters zu lesen, der 1975 als Kind jugoslawischer „Gastarbeiter“ in Deutschland zur Welt kam, dort die Schulen besuchte, studierte und nun seit vielen Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet. Er wollte sich einbürgern lasssen – und musste dabei feststellen, dass es in der Schweiz keine Möglichkeit gibt, einen Namen mit -ic’ in amtlichen Dokumenten korrekt zu schreiben. Das c’ (auch ich bringe es nicht korrekt hin, das ’ müsste direkt über dem „c“ stehen) ist im offiziellen Datensatz nicht enthalten, im Unterschied zu vielen anderen diakritischen Zeichen. Der Psychiater stellte fest, dass Einwanderer aus Spanien, Norwegen, Dänemark, den Färöer Inseln, wollen sie Schweizer werden, die Schreibweise ihres Namens problemlos beibehalten können, während dies für türkische, rumänische, kroatische usw. Einbürgerungswillige nur bedingt gilt. So wurden mehr als 100’00 Neuschweizer, die sich seit 1991 einbürgern liessen und deren Namen auf -ic’ endete, faktisch gezwungen, ihren Namen auf –ic zu ändern. Der Psychiater fragte sich zu Recht, warum sich in all den Jahren niemand zur Wehr setzte. Sein ernüchterndes Fazit, nachdem er sogar die zuständige Bundesrätin angeschrieben hatte: Der Kampf lohnt sich nicht; er ist nerven- und zeitraubend, bringt aber nichts. Das Problem sei bekannt, beschied ihm nämlich die Bundesrätin, aber eine Lösung zu teuer und deshalb nicht vorgesehen.

Ich kann diese Haltung nicht nachvollziehen, sie scheint mir letztlich respektlos.

Vielleicht sollten wir alle, wie kürzlich jemand vorschlug, unsere Namen selber wählen können; denn Tatsache ist, dass Menschen, deren Namen auf –ic’ endet (ob mit oder ohne Akzent!) in der Schweiz (und sicher auch anderswo) bei der Lehrstellen- , Arbeits- und Wohnungssuche deutlich benachteiligt sind; das haben mehrere Untersuchungen gezeigt. Aber ist diese Namensfrage überhaupt von Bedeutung angesichts existentieller Not, von der du erzählst? Von Menschen ohne Dach über dem Kopf, ohne Adresse; Menschen, die auf der Strasse leben oder im Auto? (Du siehst, ich habe in der Zwischenzeit deinen 2. Brief gelesen, während ich aus verschiedenen Gründen nicht weiterkam mit der Antwort auf deinen 1. Brief).

In dieser Namensfrage liegt natürlich mehr: Das Verhältnis von Tradition, Herkunft, Zugehörigkeit zu (Selbst)Entwurf, Zukunftsfähigkeit, Wahlfreiheit. Es sind Verhältnisse, die immer wieder neu verhandelt werden müssen: Was prägt mich; was kann und möchte ich mitnehmen und weitergeben von meinem Erbe; was eher nicht, und wie kann ich dieses Erbe so transformieren, dass es mich nicht erdrückt, sondern trägt; wieviel Freiheit also habe ich in der Gestaltung meiner Gegenwart und Zukunft? Diese Fragen stellen sich sowohl für ein Individuum wie auch für ein komplexes Gebilde wie die EU.

 

Zürich, 11. November 2016

Liebe Cécile,

Donald Trump ist gewählter Präsident der USA. Und das wurde er unter anderem mit dem Slogan: „Make America great again.“, also einer rückwärts gewandten Utopie (wie sie auch in seinen sexistischen und rassistischen Äusserungen aufscheint). Aus „Yes, we can“ ist „Because I can“ geworden – auf diese schlüssige Formel bringt Mauro Guarise in seinem Facebook-Eintrag die US-Wahlen; aus einem in die Zukunft gerichteten, handlungsfähigen „Wir“, das sich aus Millionen Menschen formierte, wurden Millionen rachsüchtiger Ichs. Wie konnte das geschehen?

Max Frisch stellte 1966 fest: „Die Schweiz begreift sich als etwas Grossartig-Gewordenes, nicht als etwas Werdendes. Fast hat man den Eindruck, dass Zukunft überhaupt als etwas Bedrohliches empfunden wird. Daher immer und immer der Begriff der Verteidigung, der Abwehr.“ Damit formulierte er eine Geisteshaltung, die ich in der Tat für problematisch halte, nämlich – siehe oben -eine rückwärts gewandte Utopie. Frisch nahm in seiner Analyse natürlich Bezug auf die sich verändernde Zusammensetzung der Bevölkerung durch die sogenannten „Gastarbeiter“ (Max Frisch prägte bekanntlich auch den Satz: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“), die von vielen Schweizern als Bedrohung des „Schweiztums“ empfunden wurden, was u. a. zur fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative führte, die 1970 relativ knapp abgelehnt wurde. Wäre sie angenommen worden, hätten rund 300’000 Menschen die Schweiz verlassen müssen – ein Schicksal, das nun mit Präsident Trump rund 3 Millionen Menschen in den USA droht. Ich selber kann mich allerdings nicht an nostalgische Heimatgefühle erinnern, sondern an eine kindliche Fortschrittsgläubigkeit, die ein erstes Mal erschüttert wurde durch die Ölkrise, deren sichtbarer Ausdruck die autofreien Sonntage waren (die ich wiederum grossartig fand). Du fragst dich, ob nicht das Selbstverständnis der EU zu rückwärtsgewandt sei, und ob es nicht zu sehr einer Negation – „Nie wieder Krieg“ – verpflichtet sei. Du berichtest von einem Paris, das in mehrere Städte zerfällt, die nicht miteinander verbunden sind, von einer Schattenstadt auch und ihren Bewohnern, die zur Bedrohung werden; du schreibst von Adorno, der die Konzentrationslager als Vorgriff einer allgemeinen Entwicklung sah – vielleicht müsste man neben die Flüchtlingslager, die Aufnahme- und Ausschaffungszentren auch die „Gated Communities“ stellen, all jene Orte, die Menschen nicht ein- sondern aussperren; beides geht Hand in Hand, scheint mir -; du beschreibst die Obdachlosen in Paris als Vorboten einer Zukunft, in der sie in der Mehrheit sein könnten. Du sprichst von einem Europa, das auseinanderfällt.

Tatsächlich scheint es schwierig geworden zu sein, sich Zukunft überhaupt vorzustellen. Je komfortabler auf der einen und je krisenhafter auf der anderen Seite unsere Gegenwart geworden ist, desto weniger Wünsche sind mit der Zukunft verbunden; viel eher geht es darum, Schlimmeres zu verhindern und bestenfalls Vorhandenes zu konservieren. Utopien gibt es, so scheint mir, am ehesten im Bereich der Technik: Selbstfahrende Autos, die Besiedlung des Mars, der Bau künstlicher Inseln, der flächendeckende Einsatz von Robotern, immer noch smartere Geräte. Wozu die dienen – ausser zur (Selbst)Überwachung -, welche sozialen und gesellschaftlichen Fortschritte damit erzielt werden sollen, darüber findet kaum ein Diskurs statt. Es scheint, als läge es allein an den technischen Entwicklungen, wie wir den grössten Herausforderungen begegnen, so etwa der Klimaerwärmung (und den Flüchtlingen, die sie generiert). Das aber ist meines Erachtens fatal. Insofern sind die Obdachlosen in Paris ganz sicher die Vorboten einer Zukunft; es sei denn, wir lernen, wieder mit deutlich weniger Wohnraum auszukommen.

Auch wenn ich deinem düsteren Bild, deinen erschütternden Beobachtungen wenig entgegensetzen kann – versuchen will ich es trotzdem. Worauf wir – Antje Ravic Strubel, Kathrin Röggla und ich – anlässlich von drei Veranstaltungen zu unserem Fragile-Projekt auf der Frankfurter Buchmesse immer wieder kamen: Dass die Suche nach dem einen „Narrativ“ für Europa oder die EU keinen Sinn macht; dass wir vielmehr lernen müssten, mit unterschiedlichen, ständig sich verändernden Narrativen zu leben. Nur so ist Zukunft, oder sind Zukünfte! denk- und vorstellbar. Diese sich verändernden Narrative müssen auch zu sich verändernden Verhältnissen führen können. Schlagwort dazu: „Die Demokratie demokratisieren“. Auf der Basis des Grundgesetzes, der Menschenrechte, selbstverständlich. „Wir alle sind Zürich“ – so heisst eine noch junge Bewegung, die nach Formen der Mitgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auch für Nicht-CH-BürgerInnen sucht. „Alle, die da sind und noch kommen werden“ – so lautet der „Untertitel“ dieser Bewegung, und in diesem Selbstverständnis steckt tatsächlich einiges an Zukunft. An lebenswerter Zukunft. Dass es anstrengend und auch schwierig ist, eine solche Zukunft mit „allen, die da sind und noch kommen werden“ zu verhandeln und zu gestalten; dass dies von jedem Einzelnen, jeder Einzelnen einiges an Mut, Einsatz und Kraft erfordert, darauf hat Carolin Emcke, die diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in ihrer Dankesrede hingewiesen. In Anlehnung an eine Passage aus Hannah Arendts Vita Activa, rief sie leidenschaftlich dazu auf, sich einzuschalten in die Welt, immer wieder; die „zweite Geburt“ als lebenslange Aufgabe und Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.

Liebe Cécile,

Ich hoffe, du verzeihst mir mein langes Schweigen; vielleicht sehen wir uns ja in Paris; ich bin bis zum 21. November hier.

Alles Liebe

Herzlich

Ruth

9. November 2016 – Brief nach Zürich versendet (Wajsbrot an Schweikert)

Paris, den 9. November 2016

Liebe Ruth,

ich beginne diesen Brief an einem deutschen Gedenktag, dem sogenannten Schicksalstag, Ausrufung der Weimarer Republik 1918, Pogromnacht 1938, Mauerfall 1989. Für das Jahr 2016 wird er als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem die USA Donald Trump gewählt haben. In zehn, fünfzehn Jahren wird dieses Ereignis vielleicht nicht mehr als solches betrachtet werden. Donald Trump wird sich vielleicht, nachdem er an die Macht gelangt ist, ähnlich wie Reagan, bloß als guter Stratege entpuppen, er wird vielleicht nicht schlimmer als Bush Junior sein, was allerdings schon schlimm genug wäre … Aber vielleicht ist diese Wahl auch eine weitere Etappe auf dem Weg, den die Welt seit einiger Zeit eingeschlagen hat. Nach Orban in Ungarn, nach dem PIS in Polen, den siegreichen Populisten in ganz Europa, der AfD in Deutschland und dem Front national in Frankreich, der weiter auf dem Vormarsch ist.

Jedes Mal heißt es zunächst – zumindest gilt dies für Frankreich sowie für das, was sich anscheinend in den USA ereignet hat –, das sei nicht schlimm, die Wahl sei nur Ausdruck eines Protests. Seit langem stimmen der öffentliche Diskurs und die Presseanalysen darin überein, dass die Leute die Front National nicht etwa aus Überzeugung wählen, sondern bloß gegen das System protestieren. Ich habe nie begriffen, wie man eine solche Unterscheidung treffen kann, zumindest nicht im Hinblick auf die Wahlurnen und die Stimmenauszählung. Ganz gleich, ob die Wahl aus Protest oder aus Überzeugung erfolgt, die Stimmen werden am Ende addiert. Und wie sich vorhersehen ließ, hat man letztlich festgestellt, was sich immer deutlicher abzeichnete: Die Wahl erfolgte aus Übereinstimmung mit den politischen Ideen. Dasselbe gilt derzeit für die USA. Man erklärt uns, Trumps Wahl sei in erster Linie als Ablehnung Hillary Clintons zu verstehen, als Ablehnung des Systems und weniger als Übereinstimmung mit der Person Trump. Das mag sein, aber es bringt uns nicht weiter. Im Januar wird trotz alledem Trump der nächste amerikanische Präsident sein.

Gestern habe ich in der Bibliothèque Nationale de France an einem Runden Tisch zum Gedenken an den 100. Geburtstag von François Mitterrand teilgenommen. Der Abend war dem Thema Mitterrand und die Bücher gewidmet. Alle Beiträge mündeten in die Feststellung, dass die Zeiten sich geändert haben, nicht nur die Zeiten, sondern auch die Welt. Jene Welt, in der die Literatur und Kultur noch von Belang waren, eine selbstverständliche Rolle spielten, ist einer Welt gewichen, der der Sinn abhanden gekommen ist – in der einst Offenkundiges bedeutungslos geworden ist.

Literatur ist keine Selbstverständlichkeit mehr, Sprache ist technisch, technokratisch geworden, die Sprache der Politik hat alle Macht der Beschwörung verloren – und zwar weil es der Politik an Visionen mangelt. Wenn sie eine Vision hat, ist diese rechtsextrem, albtraumhaft.

Auf die regelmäßig wiederkehrende Frage, was die Literatur denn überhaupt auszurichten vermag, habe ich bis heute immer erwidert, dass die Literatur sehr viel vermag. Sie kann das Bewusstsein aufrütteln, Bestandsaufnahmen machen, helfen, Situationen besser zu verstehen. Bis zu dem Text, den ich einige Monate nach dem Januar, nach dem November 2015 geschrieben habe – den Anschlägen von Paris –, über die Notwendigkeit andere Worte zu lesen als die, die ständig von den Medien wiedergekäut werden, die Worte der Literatur und des Denkens. Auch wenn ich bis heute die Notwendigkeit sehe zu lesen und zu schreiben, zweifle ich doch an ihrer unmittelbarer Wirkung, sie verfügt eher über eine Art Langzeitwirkung – der Bildung, der Schule kommen eine herausragende Rolle zu, denn eine Gesellschaft, die den Menschen nicht die Fähigkeit vermitteln kann, sich ein eigenständiges Urteil zu bilden, ist dazu verdammt, sich den schlimmsten Abenteurern auszuliefern.

 

Paris, den 21. November 2016

so habe ich also angefangen, einige der Gedanken aufs Papier zu werfen, die mir im Laufe der Zeit gekommen sind, als ich Deinen Brief erhalten habe, der mancherlei Fragen aufwirft und mancherlei interessante Überlegungen anstellt, einen Brief, den ich vor Augen habe, während ich Dir antworte.

Du sprichst über Worte, die von einem bedrohten Sicherheitsgefühl zeugen, während die Bilder eine ganz andere Sprache sprechen und beweisen, dass die gefürchtete Bedrohung nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Vor einem Monat habe ich in Dresden an einer Tagung zu dem Thema „Migration und Medien“ teilgenommen, und es war kein Zufall, dass sie in einer Stadt veranstaltet wurde, in der die Pegida-Demonstrationen ihren Ausgang genommen haben. Ein Vortrag berichtete über die Atmosphäre in Polen, seitdem die PiS an der Macht ist. Es wurden Titelblätter von Zeitschriften gezeigt, auf denen etwa Angela Merkel in Burka oder eine polnische Supermarktkette mit arabischer Leuchtschrift zu sehen waren – in einer Zukunft, die im Jahr 2030 angesiedelt war. In Polen gibt es derzeit keine Migranten und die muslimische Religion ist weitgehend inexistent. Aber die Angst ist existiert sehr wohl. Mir wurde klar, dass dort, wo die Lebensweise am traditionellsten ist, wo das Leben am wenigsten dem ähnelt, was man im Fernsehen sieht, die Angst am größten ist, es könne sich an dieser Lebensweise etwas ändern. Die Willkommenskultur in Deutschland ist das Bild, das die Konservativen in Polen mit aller Macht abzuwehren suchen. Genau das wollen wir nicht, sagen sie und benutzen den Verweis auf die Zustände im Nachbarland – ein Land, vor dem man überdies schon immer Angst hatte –, um die eigene Angst zu rechtfertigen. Aber die Angst, die im 20. Jahrhundert eine Angst vor Expansion, Intoleranz und Rassismus war, ist im 21. Jahrhundert umgeschlagen in eine Angst vor der Willkommenskultur und der Toleranz des Nachbarn.

Die von Dir beschriebene Diskrepanz zwischen den Ängsten und den realen Verhältnissen lässt mich an eine aktuelle Ausstellung in Paris über das Mittelalter denken. Die sogenannte Invasion der Barbaren war, abgesehen von den Hünen, eine Völkerwanderung, die sich sehr langsam, über Jahrhunderte hinweg, vollzogen hat. Entsprechend könnte die heutige Flüchtlingswelle in einigen Jahrhunderten ebenfalls als Invasion der Barbaren bezeichnet werden. Leider gibt es einige Leute, die dieser Darstellungsform bereits sehr nahe kommen.

Du fragst mich, ob Polizisten in Frankreich anderer Herkunft sein dürfen. Im öffentlichen Dienst muss man Franzose sein, um rekrutiert werden zu dürfen. Aber unsere Kolonialvergangenheit hat zur Folge, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft im Polizeidienst sind und man in die „schwierigen“ Viertel lieber Polizisten mit Migrationshintergrund schickt, deren Wurzeln in Nord- oder Schwarzafrika liegen. Es gibt hier also eine höhere Diversität, wie es jetzt heißt, als in der Schweiz.

In Deinem Brief gibt es so vieles, auf das ich gern eingehen möchte. Auf die Namensfrage etwa, die Unmöglichkeit einen Namen mit der Endung -ić statt -ic zu buchstabieren, zweifellos ist das Zugehörigkeitsgefühl nicht dasselbe, wenn der Name geändert werden muss. Dies berührt mich insofern, als ich seit jeher gezwungen bin, meinen Namen zu buchstabieren, sobald ich ihn nenne. Die Konsonantenfolge ist für einen Franzosen schwer nachvollziehbar. Und wenn in Frankreich ein Name schwierig ist, heißt das nicht etwa, dass man sich bemühen muss, seine Aussprache zu lernen, – bewahre! – , sondern man sucht die Schuld beim Namen oder Namensträger. Warum hat er auch keinen anständigen französischen Namen, wie die anderen? Ich erinnere mich an eine Rezension über meinen ersten Roman, die mit den Worten endete, „un nom imprononçable mais qu’il faudra retenir“, also „ein unaussprechlicher Name, den man sich wird merken müssen“. Ich erspare Dir die Wiedergabe der ohrenzerschürfenden Aussprache, mit der ich regelmäßig konfrontiert werde. Es ist eine Erleichterung für mich, wenn ich in Deutschland bin und seine korrekte Aussprache höre, ihn normal aussprechen darf – auch wenn es bei der Schreibung manchmal hapert … Aber ich erzähle das nicht, um von mir zu reden, sondern ich will damit nur sagen sagen, dass ich gut nachfühlen kann, wie der Alltag jener aussieht, die eine andere Herkunft haben und dies zu spüren bekommen, wenn es der Umgebung nicht darum geht, zu integrieren und willkommen zu heißen, sondern sich zu schützen und zu verteidigen.

Und so komme ich zu dem von Dir zitierten Satz von Max Frisch  über die Schweiz aus dem Jahr 1966, einen Satz, der sich auf ganz Europa übertragen ließe, zumindest auf einen großen Teil davon. „Grossartig–Gewordenes“ anstatt „etwas Werdendes“. Und zu seiner Konsequenz, der Angst vor der Zukunft. Wir haben einen Teil unseres Lebens im Glauben an die Zukunft verbracht. Alle Arten von Utopien und von Kämpfen für eine gute Sache schienen möglich, vor uns lag – trotz aller Bedrohungen – ein weiter Horizont. Der Aufbau Europas, der Feminismus, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz, nichts davon schien in ungreifbarer Ferne zu sein. Und als der Eiserne Vorhang, als die Berliner Mauer fiel, wurde plötzlich das Ende der Geschichte ausgerufen. Auch wenn wir von diesem übereilten Urteil heute wieder abgerückt sind, stehen wir doch vor einem unerklärlichen Phänomen. In einem Moment, da ein Mehr an Europa möglich gewesen wäre, hat es einen Verlust gegeben. Hat sich Europa in seiner Erweiterung aufgelöst? Vielleicht – auch wenn ich immer den Eindruck hatte, dass man, statt die Aufnahme der osteuropäischen Staaten aus wirtschaftlichen Gründen hinauszuzögern, besser daran getan hätte, sie zu beschleunigen. Während der Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre hielt ich mich in eben jenen Ländern auf, die voller Hoffnung waren und hohe Erwartungen an Europa hatten … Ihre Integration vollzog sich zu einem Zeitpunkt, in dem die Leute nicht mehr an Europa glaubten, nichts mehr von der ursprünglichen Begeisterung in sich trugen. Vor allem aber hat Europa etwas von seiner Seele eingebüßt. Ich könnte nicht genau sagen, was, aber es hat etwas mit einem gemeinsamen Horizont, einer gemeinsamen Perspektive auf die Geschichte, einer gemeinsamen Analyse der Vergangenheit zu tun, aus der sich Lehren für die Zukunft ziehen ließen. Was Du über eure Diskussion in Frankfurt, über die unterschiedlichen Narrative berichtest, finde ich hochinteressant. Kannst Du mehr davon erzählen? Und habt ihr auch über die Beziehungen zwischen diesen Narrativen und der Literatur, und dem, was ihr schreibt, gesprochen? Es scheint, als würde all dem abgeschworen, als würde man dem, was Europa einst verbunden hat, den Rücken kehren – auch seinen schlimmsten Konflikten – damit jeder sich allein mit seinem Schicksal befassen kann, allein, gegen die Welt. Wir haben einen Teil unseres Lebens damit verbracht, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, und plötzlich schlägt das Pendel zur anderen Seite aus. Man könnte dies als Altersfrage abtun. Darauf verweisen, dass die Jugend die Zeit der Utopien ist und man mit der Zeit die Perspektive wechselt. Dass es immer noch Dinge gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Umwelt, Klimaschutz, Frauenrechte, die noch lange nicht durchgesetzt sind, und viele andere Dinge. Das stimmt. Aber jene, die heute 20 oder 30 Jahre als sind, sind ziemlich desillusioniert. Sie haben das Gefühl, die Zukunft gehöre ihnen nicht, es fällt ihnen schwer, sich eine Zukunft vorzustellen – und das alles beherrschende Gefühl ist nicht die Zuversicht, sondern die Angst. Du zeichnest ein Bild der Zukunft als eines technologischen Fortschritts, wobei Du darauf hinweist, dass es schwierig sei, sie sich auf anderen Ebenen vorzustellen. Kennst Du die britische Serie Black Mirror? Jede Episode spielt in einer Welt, die nur Jahrzehnte von unserer entfernt liegt, und in der ein Element unseres Alltags –Smartphones, Umwelt, Soziale Netze – ins Visier genommen, auf die Spitze getrieben wird, so dass jedes Mal katastrophale Folgen entstehen. Die Serie, die auf einem sehr guten Drehbuch beruht und hervorragend umgesetzt wurde, ist nicht nur als Warnung vor einer technisierten, entmenschlichten Welt zu verstehen, sondern zeichnet ein Bild von unserer Zeit, der Angst, der Furcht, die uns überkommt, wenn wir an jene Welt denken, zu deren Entstehung wir gerade beitragen. Der Mensch auf dem Mond brachte uns zum Träumen. Dann wurden die Programme mangels ausreichender Finanzierung eingestellt. Und nun ist die Rede vom Menschen auf dem Mars, aber es geht nicht mehr ums Entdecken, ums Durchbrechen neuer Grenzen, sondern es geht um Angst, um die erhoffte Flucht von einer Erde, die aufgrund extremer Luftverschmutzung, zu hoher Temperaturen infolge des Klimawandels unbewohnbar geworden wäre. Gefahr, Bedrohung – ganz gleich in welchem Bereich, nirgends eine lächelnde Zukunft, und seit Günter Anders, dessen Bücher – purer Zufall? – derzeit wiederentdeckt werden, wissen wir, dass sich die Menschheit ihrer Prekarität (ihrer Fragilität) bewusst ist, dass die Zukunft der Menschheit nicht in Jahrtausenden, sondern womöglich in Jahrhunderten oder gar in Jahrzehnten gezählt werden muss, dass die Vernichtungsinstrumente, die wir erschaffen haben, sich unserer Kontrolle entziehen.

Am Ende dieses langen Briefes, liebe Ruth, würde ich gern wissen, wie ihr, im Rahmen diesen Diskussionen in Frankfurt, oder wie Du, persönlich, über die Rolle der Literatur in diesen Zeiten der Fragilität denkst, wie Du ihre Rolle siehst, in dieser Zeit der unterschwelligen und offenkundigen Bedrohungen. Spielt sie noch eine Rolle? Trägt sie eine Spur der Bedrohung in sich? Ist sie durch sie beeinträchtigt?

Mit dieser Frage schließe ich meinen Brief und schicke Dir meine herzlichsten Grüße

Cécile

Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Mälzer