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Antje Ravic Strubel Lena Andersson

31. Mai 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Ende Mai, Rheinsberg
Liebe Lena Andersson,

ich schreibe dir aus Rheinsberg, einem kleinen Ort im nördlichen Ostdeutschland, wo ich einige Monate ein Zimmer mit Ausblick für mich allein habe. Rheinsberg, vom tiefen Grün Ruppiner Seen und Wälder idyllisch umwachsen, ist eines jener Städtchen, die nur am Wochenende geöffnet zu haben scheinen. Dann nehmen Berliner in Ausflugslaune die Cafés an der Seepromenade in Beschlag, um gebratenes Zanderfilet oder Schwedeneisbecher zu bestellen; dieses früher so begehrte Eis mit Apfelmus und Eierlikör. Schwedenbecher ist eine Erfindung einfallsreicher DDR-Gastronomen. Heute wissen nur noch Wenige von diesem speziellen Geschmack der Sehnsucht, einer Sehnsucht nach dem unerreichbaren, besseren Land. Und für die Wenigen ist die Sehnsucht der Ernüchterung gewichen.
Treibt die Ausflügler das Verlangen nach Geschichte um, beschauen sie sich das Rokoko-Schlösschen, wo der junge Friedrich II. glücklich musiziert, diskutiert und sich mit hübschen Lakaien und schlanken Hunden amüsiert haben soll. Manche halten vor den großen Tafeln inne, auf denen die Route des Todesmarsches aus dem KZ Sachsenhausen abgebildet ist. 1945 hörten die Rheinsberger das Schlagen von Holzpantinen der todgeweihten Häftlinge auf dem Kopfsteinpflaster vor ihren Fenstern.
Kaum ein Ausflügler verirrt sich in das Wohnviertel, das bis heute nur KKW-Siedlung heißt. Dort stehen DDR-Plattenbauten, in denen ab den 1960er Jahren Menschen wohnten, die im nahegelegenen Kernkraftwerk arbeiteten.
Ich sitze im Marstall und schaue auf den symmetrisch angelegten Park mit Flüsschen. Das Flüsschen heißt Rhin, und seine Farbe erhält es vom Laub der Bäume am Ufer. Im Augenblick ist das Wasser vom frischen Grün der Kastanie, die sich in ihm spiegelt.
Das Sonnenlicht fällt, vom Laubwerk gesiebt, flackernd auf eine Holzbrücke. Gestern ging ein junges Paar mit Kinderwagen über die Brücke. Sie hatten es nicht eilig. Am gegenüberliegenden Ufer blieben sie stehen und setzten das Kind zum Krabbeln ins Gras. Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Als er sie bis zu den Fingerkuppen hinuntergeraucht hatte, schnippte er die Kippe in den Fluß.
Es ist ein von der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten gepflegter Park. Selbst die Steinchen auf den Wegen haben sich eingefunden in die ästhetische Doktrin. Im Lustgarten liegen sie in der verordneten Distanz zueinander. Das Grün des Wassers ist gnadenlos klar.
Ich würde es nie wagen, in dieses Wasser etwas hineinzuwerfen. Ich traue mich nicht einmal, hineinzuspucken. Claire traute sich. Claire ist die Hauptfigur aus Kurt Tucholskys Debütroman „Rheinsberg. Bilderbuch für Verliebte“. Claire und Wölfchen überqueren den Rhin ebenfalls auf einer Holzbrücke. Auch für sie flackert das Licht. Sie haben Zeit. Sie sind jung, sie sind auf Landpartie, sie sind verliebt. Und dann spuckt Claire mit Schwung ins Wasser. Sie spuckt auf den aufflammenden Nationalismus im Wilhelminischen Staat. Sie spuckt auf die Militarisierung und das patriarchale, verspießerte Kleinbürgertum. Das war 1912.
Würde ich es ihr gleich tun, würde ich auf den aufflammenden Nationalismus spucken und auf die schleichende Brutalisierung in Köpfen von Leuten, die ihr eigener Stumpfsinn so anödet, dass sie ihn mit rassistischer, sexistischer und rechtsextremer Tunke überziehen. Aber ich spucke nie. Ich bin mir sicher, dass ein Parkwächter auftauchen und mich auffordern würde, das sofort wegzumachen, andernfalls hätte ich für die Verunreinigung des Wassers eine Geldstrafe zu entrichten.
Das Paar mit Kinderwagen wusste davon nichts. Sie waren keine Ausflügler. Das schrille Leuchten der Kippe fiel ihnen nicht auf. Sie hatten auch kein Auge für Farbe und Klarheit des Rhins. Es schien, als wären die Sinne, die für die Wahrnehmung von Schönheit zuständig sind, tief im Inneren sicher weggeschlossen.
Sie gehörten zu denen, die vor kurzem in die KKW-Siedlung gezogen waren. Oder in eine der Platten in der Mariefredstrasse, diese fünfstöckigen, schmutziggrauen, austauschbaren Riegel mit mehreren Hauseingängen, von denen einige nach der Wende pastellfarben angemalt wurden. Man kann durch die Riegel hindurchgehen. Wer sich nicht darin aufhalten will oder auf der Flucht ist, geht vorn hinein und hinten hinaus, wie im Slapstick der Stummfilmzeit, wo die Figuren, sobald sie ein Haus betreten, wieder herausfallen.
Hinter den Häusern gibt es Wäscheplätze mit eisernen Wäschestangen, an denen ein paar Tücher trocknen.
In so einem Plattenbau bin ich aufgewachsen.
Auf solchen Wäscheplätzen habe ich Socken und Nickis (T-Shirt ist ein Begriff aus der Zeit nach dem Kalten Krieg) mit hölzernen Klammern auf Leinen geklemmt. Eine syrische Autorin, die in Berlin Asyl bekommen hat, schrieb in einer Kolumne der taz, sie vermisse Wäscheleinen. In Aleppo seien Dächer und Balkone mit flatternder Wäsche geschmückt. In ganz Berlin dagegen hänge niemand seine Wäsche draußen auf. Für sie symbolisieren Wäscheleinen einen anderen Ort, für mich eine andere Zeit.
Der Hausflur hallt von Schritten und Stimmen. Wie früher. Das unverkennbare, dumpfe Dröhnen, ein Echo des Körpers, wie es nur Fertigbetonplatten werfen. Als solle man nicht vergessen, dass noch der Beton jedes Geräusch registriert, macht das Echo aus der kleinsten Bewegung irrsinnigen Lärm. Es riecht nach Rauch, Schweiß, Bratkartoffeln, Parfüm, Schuheinlagen, Angst, dieser Geruch, dieser GERUCH menschlicher Ausdünstungen, die tief in der nachgedunkelten Rauhfasertapete eingelagert sind.
Ein Streit dringt durch eine Wohnungstür aus Pressspanplatte gnadenlos ins Treppenhaus, Deutschrock, Babygeschrei. Irgendwer beobachtet mich. Irgendwer beobachtet einen in solchen Plattenbauten immer, meistens vom Erdgeschoß aus, wo der Hauseingang wie ein Revier bewacht wird. Und da ist er, mein Beobachter, sitzt mit nacktem Oberkörper auf dem Balkon, wie er schon seit Jahrzehnten dort gesessen hat. Ein salzfarbener Kopf, der bis zu den Augen über die Brüstung ragt, so dass das Geschehen auf der Straße reibungslos verfolgt werden kann. Meistens geschieht nichts.
Später geht das junge Paar mit Kinderwagen am Erdgeschoßbalkon vorbei zum nächsten Eingang. Sie nehmen das Kind aus dem Wagen, stehen dann eine Weile auf dem Treppenabsatz. Der Tag ist noch lang, und sie sind hier, um zu warten.
Sie warten auf Sozialversicherung, auf Krankenversicherung, auf die Arbeitserlaubnis, auf das Ende eines ganzen Krieges. Den Mann auf dem Balkon nehmen sie nicht wahr. Vielleicht sind sie auch ans Beobachtetwerden gewöhnt. Es macht nichts, dass einer auf Posten alles registriert, so, wie es nichts macht, in einem hallenden Plattenbau zu warten, solange das Haus ein Haus ist.
„…ich fühle mich verdammt dazwischen, und da sitzt man auf die Dauer nicht gut“, schrieb Kurt Tucholsky über so ein Warten 1934.
Sein Gesamtwerk steht in meiner Stadtschreiber-Wohnung. Ein mintgrünes Taschenbuch versammelt: „Briefe aus dem Schweigen 1932-1935“, die er in seinen letzten Lebensjahren aus Schweden an eine geliebte Züricher Ärztin schrieb. Da hatten ihm die Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft schon aberkannt. Schweden hatte ihm noch keinen offiziellen Status zuerkannt. Sogar mit einem Ausländerpaß ließen sich die Behörden Zeit. Er saß fest. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als Staatenloser in Hindås. Die Briefe sind unterzeichnet mit „Fritzchen, aufgehörter Deutscher.“
Tucholsky hatte ein schwieriges Verhältnis zu diesem Vorkriegsschweden. Die Menschen wirkten auf ihn kindlich und selbstgefällig. Was in den Zeitungen stand, erschien ihm von unbedeutender Harmlosigkeit. Eine Harmlosigkeit, die gefährlich wurde, sobald sie sich als Freundlichkeit gegenüber Hitlerdeutschland äußerte, ja als Symphatie für die Nazis. „Die Idee der demokratischen Freiheit ist hier im Absterben, hier wie anderswo. Sie wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.“
Im Plattenbau mit Wäscheplatz, in der Dreiraumwohnung mit Balkon, den mein Vater verglaste, damit ich einen eigenen Platz für meinen Schreibtisch hatte, und wo man im Flur aufpassen musste, was man sagte, damit nichts Falsches an die Erdgeschoßohren drang, wuchs ich mit einem anderen Schwedenbild auf.
Schweden war ein fantastisches Land. Ein Land, in dem gleich und frei und offen gelebt wurde. Sozialismus ohne Diktatur.
Noch immer sehe ich sie stehen. Am Ufer der Ostsee. Auf der Mole. Am Leuchtturm in Sassnitz. Am Strand. Menschen in DDR-Niethosen. Wie sie die Augen abschirmen und den Fähren nachschauen. Fähren, die über die Ostsee fuhren, nach Trelleborg und weiter. Ich sehe sie aufs Meer hinausschauen, der Schwedenfähre nach, die aus dem Sassnitzer Hafen auslief. Die Fähre fuhr in greifbarer Nähe vorbei, Reling, Rettungsboote und Oberdeck waren für das bloße Auge sichtbar. Die Blicke aber waren auf Unsichtbares gerichtet: die Fähre verband das schnöde Hier mit einem Traum, mit der anderen Seite der Welt, mit dem Westen. Sie war real und irreal zugleich und entzündete Wahnvorstellungen. Die Menschen winkten den Fähren nach und malten sich aus, wie es wäre, in einem Werkzeugkasten in den Maschinenraum geschmuggelt zu werden, als Matrose verkleidet an Bord zu gehen oder sich, an den Unterboden eines Lkw gekettet, als Frachtgut verladen zu lassen. Manche übten sich im Weitspucken. Einmal, das wussten sie, würde die Spucke die Bordwand treffen und dort hängen bleiben, und dann würde das Ungeheuerliche geschehen: Die Spucke würde in weniger als fünf Stunden das ersehnte Ufer erreichen; ihre Spucke. Ein Teil ihrer selbst. Sie aber mussten jede dieser Fähren ziehen lassen.

Die Fähren zogen schmerzhaft langsam dahin. Sie standen noch lange am Horizont, bevor sie verschwanden. Mit ihnen verschwanden teurer Sekt und glitzernde Pools auf dem Oberdeck, coole Musik, glänzende Zeitschriften und Düfte, die schwindlig machten und in der salzig-öligen Ostseeluft beinahe zu wittern waren. Es verschwanden lässige Kellner, lässige Eltern, rosenlippige Mädchen und schmalbrüstige Jungs, und vor allem eines: echte Jeans. Stonewashed.

Erst, als auch die letzte Fähre hinter dem Horizont verschwunden war, hinter der unsichtbaren Grenze, die zwischen der Mole und dem fernen gelobten Land verlief, war man nicht mehr sicher, dass es alles das auch tatsächlich dort gab. Man hatte es vor dem inneren Auge gesehen, in vagen Bildern, flüchtig und wie aus der Erinnerung. Aber die Erinnerung wurde durch nichts gestützt. Schließlich war niemand je dort gewesen. War es einem doch gelungen, mit einem Segler, einem Schlauchboot oder auf der Luftmatratze lebend die verminte Grenze zu überqueren, war er nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.

Der Himmel reichte nicht weiter als der Blick. Was dann kam, glich so sehr dem Nichts, dass man sich sagte, die Sehnsucht lohne nicht. Vielleicht waren auch die Fähren nur Gaukelei, Hitzebilder der Ostseeluft. Dieser Gedanke war tröstlich. Allerdings hielt er nicht lange, weil er so durchschaubar war. Sogar der Trost schmeckte schal.
Ich sehe sie stehen.
Ich selbst stand auch da. Vierzehn-, fünfzehnjährig. Aber ich war zu jung, als dass alle diese Erinnerungen meine eigenen sein könnten. Erinnerungen an ein Schweden im Kopf, das in einem gleißenden Licht erschien. Ein Licht, das die Häuser leuchten machte und die Menschen gerecht, die wohlhabend und gesund waren wie ihre Wälder, es gab ABBA und Lachs; ein Luxus, der meine Vorstellungskraft gänzlich überstieg.

Waren die Fähren verschwunden, gingen die Menschen in ein Café an der Mole und versuchten, das Verlangen mit einem Schwedeneisbecher zu stillen. Aber auch Schwedeneisbecher gab es nicht immer.

Wie heute an anderen, südlichen Ufern gestanden wird, den Blick sehnsüchtig und angstvoll aufs Meer gerichtet, gehört zu den Dingen, die ich nicht beschreiben kann.

Ein paar Auffälligkeiten:

Das Mittelmeer und die Ostsee sind beides Binnenmeere des Atlantischen Ozeans.

In den Platten von Rheinsberg -der KKW-Siedlung, der Mariefredstraße – warten Syrer darauf, dass man sie reinläßt nach Deutschland, während ich in der DDR darauf gewartet habe, dass man mich rauslässt, nach Schweden, wo Tucholsky wiederum bis zu seinem Freitod darauf wartete, dass man ihn reinließ, und in Mariefred begraben wurde, der heutigen Partnerstadt Rheinsbergs.

Während ich Tucholskys letzte Briefe lese, schreibe ich dir nach Schweden, von dort, wo Tucholsky sein Debüt über glücklich Verliebte ansiedelte, weil mir dein Roman über eine unglücklich Verliebte hundert Jahre später so gefällt.

Und der Satz hängt mir im Kopf von der Idee der demokratischen Freiheit, die im Absterben ist. – Wäre nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auch das Ende der Geschichte ausgerufen worden, würde ich fürchten, dass sie mir mit ihrer ganzen herrlichen Wucht und dem Stumpfsinn der „Wutbürger“ ins Gesicht schlägt – in Deutschland, in Schweden, beinahe überall in Europa, hier wie anderswo. Die Idee der demokratischen Freiheit wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.

Aber vielleicht ist es bloß das Flackern, dieses Flackern des vom Laubwerk gefilterten Lichts, das gespenstische Schatten an die Schädeldecke wirft…

Herzliche Grüße,
Antje Rávic Strubel

6. Juni 2016 – Antwortbrief nach Rheinsberg versendet (Andersson an Strubel)

Stockholm am 6. Juni 2016
Liebe Antje Rávic Strubel,

als ich mich hinsetzte, um deinen Brief zu beantworten, schaute ich als erstes Rheinsberg auf der Landkarte nach. Diese kleinen deutschen Orte besitzen für mich eine eigene suggestive Kraft. Im Sommer 1985 reiste ich als Fünfzehnjährige mit meiner Mutter und meiner Tante mit einem Charterbus von Stockholm nach Wien und zurück. Wir fuhren auf dem Hinweg durch Westdeutschland und auf dem Rückweg durch die Tschechoslowakei und Ostdeutschland, via Ostberlin, wo wir in einem Fünfsternehotel übernachteten, das so luxuriös war, wie ich es, an Jugendherbergen gewohnt, noch nie erlebt hatte.
Ich entwickelte eine starke und lebhafte Beziehung zu diesen kleinen deutschen Städten mit ihren Namen, die die Fantasie entzündeten, Orte, die beladen waren mit Geschichte und Leid, anders als Städte in Schweden, wo es kleine, triste Ortschaften gab, in die ich an den Wochenenden fuhr, um an Wettkämpfen teilzunehmen, im Winter im Skilanglauf, im Sommer im Radfahren.
Auf dem Weg durch Westdeutschland kehrten wir im Gasthaus eines Dorfes ein, das es in Schweden so nicht gab, aber in Deutschland überall. Das Dorf war auf eine Art alt, wie es schwedische Dörfer nie gewesen zu sein schienen. Und ich erinnere mich an das enorme, weiche und fluffige Federbett das, wie ich feststellen würde, hierzulande Standard war. Es war wie ein Traum, sich unter diese deutschen Decken zu legen. Damals und auf späteren Reisen bemerkte ich eine auffällige Standardisierung, die ich von Schweden nicht kannte. Wohin wir auch kamen, überall lag exakt das gleiche dunkle Brot morgens im Brotkorb und die gleichen hellen Brötchen, das gleiche Ritual, wenn die Servicekraft fragte, ob man Kaffee oder Tee haben wollte. Schinken, Käse, ein kleines Schälchen Butter und ein kleines Schälchen Marmelade. Immer das Gleiche. Ich mochte das. Zu Hause in Schweden gab es bewusste Routinen dieser Art im Alltagsleben nicht; die Welt wurde jeden Tag neu erfunden.
Das war die Folge des schwedischen 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert des Moderne-Projekts und dessen Mittelpunkt: Das Alte sollte in Schutt und Asche gelegt und Neues geschaffen werden, alles, was neu war, war besser als das, was alt war, das gestrige Frühstücksritual musste morgen ein anderes sein. Routinen und Traditionen waren ein Zeichen dafür, dass man noch nicht gebrochen hatte mit einer erstarrten Vergangenheit. In den hoffnungsvollen Fortschrittsbewegungen gab es keinen Platz für das Kleine und Geringe, das scheinbar Kleinbürgerliche und Häusliche, das innerhalb des großen Projektes, den Menschen zu befreien, als unwichtig abgetan wurde, und Rituale und der Standard von Brotkörben und Frühstück gehörten zu dem, was den Menschen an das Geringe band. Ansonsten war Standardisierung ein typisch schwedisches Merkmal, aber mehr in Bezug auf die großen Dinge wie Krankenversicherung und Ausbildung, gesunde Zähne und Lebensbedingungen, als auf kleinbürgerliche Tugenden und Alltäglichkeiten.
Was ich auf meiner ersten Reise durch Westdeutschland wahrnahm, habe ich später auch in Frankreich bemerkt, eine Standardisierung im Alltagsleben, die auf gewisse Weise anerkennt, dass die Welt sich nicht auf beliebig viele verschiedene Arten und Weisen formen lässt und dass das Leben etwas Konkretes ist, nichts Abstraktes. In Schweden glaubten und glauben wir bis heute, dass es möglich ist, alles zu verändern, dass der Mensch selbst über sein eigenes Schicksal bestimmt und einzig die Fantasie Grenzen setzt. So bleibt alles willkürlich und im Ungefähren. Nichts erhält wirklich Bedeutung oder Gewicht. Wir sind ja doch auf dem Weg zu etwas Anderem und Neuerem, Besseren.
Die Reise fand im August statt. Von Wien habe ich die Farbe der frischen Aprikosen in Erinnerung und Speisen, die ich nie zuvor gekostet hatte. Es lag Wärme in der abendlichen Luft, die mir neu war. In Schweden waren die Sommerabende kühl, unabhängig davon, wie warm es tagsüber gewesen war. Einige Nächte im Jahr, manchmal nur jedes dritte Jahr, geschieht es, dass es „südländisch warm“ ist, die Luft wie Baumwolle und nicht zu spüren. Da sagen wir zueinander: „Was für ein Abend! Die Gelegenheit muss man nutzen.“
Mich bedrückt alles, was bedeutet, dass man „die Gelegenheit nutzen“ muss. Ich mag den Alltagstrott, nicht die Ausnahme. Die sogenannten Höhepunkte des Lebens und der einzige warme Abend des Sommers beunruhigen mich. Sie gehen zu Ende, und wenn etwas zu Ende geht, bedeutet das Wehmut und ein unnötig überreiztes Gemüt.
Auch die kohlschwarze Dunkelheit, die zur Wärme hinzukam, stach als Besonderheit hervor. Noch heute erstaunt mich das Zusammentreffen von Dunkelheit und Wärme, sobald ich Richtung Süden reise. Im Augenblick haben wir die Zeit der hellen Nächte in Schweden, Tage, die nie zu Ende gehen, die einfach andauern, ungeachtet des menschlichen Schlafbedürfnisses.
Danach fuhren wir also durch die Oststaaten nach Hause. So nannten wir sie. Dort hinterm Eisernen Vorhang gab es keine Demokratie, wusste ich, aber was das bedeutete, wusste ich nicht, auch hatte ich keine Vorstellung von der Marktwirtschaft, die es ebenfalls nicht gab. Ich suchte nach den kleinsten Zeichen von Unfreiheit, Armseligkeit und Diktatur und sah sie sogar dort, wo sie gar nicht waren. Ich war eine ungerechte Beobachterin. In Prag traf mich der Anblick der dunklen Schaufenster und die Tatsache, dass die Glasscheiben schmutzig waren. Es war die Abwesenheit von Kommerz, was ich sah, ein Mangel an Lust und dem Bedürfnis, seine Waren in vorteilhaftem Licht zu zeigen. Nichts leuchtete und blinkte. Alles war genauso grau, wie man mir gesagt hatte, ein Zustand und eine Farbe, von denen ich geglaubt hatte, sie wären eher metaphorisch als tatsächlich so.
Nach Prag kamen wir in die DDR. Für mich war es das Land großartiger Athletinnen, die das machten, wovon ich träumte, sie gewannen bei großen Meisterschaften. Kein anderes Land hatte solche Sportlerinnen, vielleicht mit Ausnahme der Sowjetunion. Die DDR, das war für mich Marita Koch und Marlies Göhr, Silke Gladisch und Barbara Petzold. Diese Frauen waren echte Vorbilder, muskulös und kraftvoll, ohne diese Kraft mit Lippenstift, Nagellack und koketten Frisuren kompensieren zu müssen. Ich fühlte mich ihnen merkwürdig nah, trotz der großen Entfernung. Sie machten das Frauentheater nicht mit, sie waren vor allem Sportlerinnen. So sah für mich als Kind und Jugendliche die DDR aus.
Später wurde das systematische Doping aufgedeckt, aber die Erinnerung an Marita Koch, die die 400 Meter in 47,60 läuft, lebt trotzdem auf der Netzhaut weiter. Der Sprint ist gelaufen worden, das Publikum hat es gesehen, und das kann man nicht vergessen, egal, wieviel Testosteron der Staat in sie hineingepumpt hat. Sie lief diese unglaubliche Zeit. Ich erinnere mich noch an den Endspurt, ihre Oberschenkel, als die Beine auf die Tartanban trommelten, an das blaue Trickot.
Was hast du für ein Verhältnis zu diesen Sportlerinnen und Ereignissen?
Als ich in meiner Jugend an Skilanglaufwettkämpfen teilnahm, gab es in meinem Skiclub einen Trainer, der den Sozialismus wohl idealisierte und, nachdem ich als Zwölfjährige die nationalen Jugendmeisterschaften gewonnen hatte, zu mir sagte: „Wenn wir jetzt in Ostdeutschland wären, würde man dich am Schopf packen und in ein staatliches Programm stecken. Du würdest alle Ressourcen bekommen, die du bräuchtest.“
Ich glaube, es gab eine beträchtliche Anzahl von Menschen in Schweden, die Ostdeutschland im Stillen bewunderten. Sie waren möglicherweise der Auffassung, dass es dort die wahre Sozialdemokratie gab; bei uns war sie nur ein sinnloser Versuch, den Kapitalismus zu bremsen. Viele glaubten weiterhin, dass der Ausgang zwischen den Systemen offen war und der Rationalismus, auf den Ostdeutschland gründete und den es mit der schwedischen Sozialdemokratie gemein hatte, schließlich siegen würde, einfach weil er etwas Vernünftiges und Sachliches war. Aber genau das war er nicht. Vernunft ohne die Einsicht, wie Menschen funktionieren, ist keine Vernunft.
Wir machten in Dresden Halt, und während wir in einem feinen Restaurant saßen und uns von flinken Kellnern ein Drei-Gänge-Menü serviert wurde, erfuhr ich von den Terrorbombardierungen 1945. Ich war wie eine der Figuren aus Ionescos Theaterstück „Die kahle Sängerin“, denn ich dachte die ganze Zeit, jetzt sitze ich also in einem DDR-Restaurant und bekomme ein DDR-Drei-Gänge-Menü serviert von flinken DDR-Kellnern. Mir war extrem bewusst, dass ich mich in einem anderen politischen System befand, und ich vermutete, dass die Ostdeutschen aufgrund dieses politischen Systems eine ganz andere Art von Menschen waren. Als Vorspeise gab es Suppe. Als Nachspeise Torte. An das Hauptgericht kann ich mich nicht erinnern. Die großen Tortenstücke, die überall thronten, passten nicht zu einem so gefährlichen und unmenschlichen System wie einer sozialistischen Diktatur. Ich konnte mir nichts Menschenfreundlicheres vorstellen als Torte, und die Torten schienen ein natürlicher Teil des Lebens in Ostdeutschland zu sein. In meiner Familie tranken wir bestimmt jeden Nachmittag Kaffee mit süßem Hefegebäck und Keksen und Rührkuchen in allen möglichen trockenen Varianten, aber Sahnetorte aßen wir nur zum Geburtstag oder zu anderen besonderen Anlässen. Hier aber gab es sie überall. Ich liebte diese großen Oststaatentortenstücke, schon ihr Anblick bezauberte mich.
Ich habe im Laufe des Lebens viel über die Themen Freiheit und Zwang, staatliche Lenkung und die Wurzeln des Totalitären nachgedacht und mich wirklich bemüht, zu verstehen, worum es geht und wovor man auf der Hut sein muss. In der Theorie war mir das vollkommen klar, aber wie es ist, täglich in einem geschlossenen System ohne individuelle Rechte zu leben, in dem der Staat alles ist, das habe ich nie ganz begreifen können. Du erwähnst, dass man gezwungen war, leise zu sprechen, so dass niemand im Haus hören konnte, was man sagte. Worin genau bestand das Gefährliche, das man hätte sagen können? Welcher Art waren solche Äußerungen? Was waren die verbotenen Gedanken und Worte? Was passierte, wenn man sie aussprach? Wie beeinflusste das den Umgang zwischen Kindern, in der Schule? Bewachtet ihr einander auf die gleiche Weise wie die Erwachsenen?
Manchmal bekomme ich im Schweden von heute einen schwindelerregenden Eindruck davon, wie die Atmosphäre damals gewesen sein muss. Auuch hier und heute haben wir Angst davor, ausgestoßen zu werden, gebranntmarkt zu werden, isoliert, und alles zu verlieren, wenn unser Umfeld sich wegen eines falschen Standpunktes von uns distanziert wie von einer Aussätzigen, um die eigene Haut zu retten, und der sachliche Gehalt und die Wahrheit sich ganz dem Bedürfnis unterordnen, zu zeigen, dass man den richtigen Standpunkt einnimmt und nicht aufhört, sich von Schlechtigkeiten freizumachen. Es ist leicht vorstellbar, wie bereitwillig viele Menschen unerlaubte Ansichten und Äußerungen melden würden, wenn wir eine staatliche Gedankenpolizei hätten, nicht nur eine Selbstzensur und den Schandpranger der Medien, wie es jetzt der Fall ist.
Der Stadtteil, in dem ich wohne, heisst Tensta und ist ein Vorort im Nordwesten Stockholms. In diesem Vorort wuchs ich auf, und im Alter von 16 Jahren verließ ich ihn. Vor drei Jahren bin ich dorthin zurückgezogen und wohne jetzt mit meinem Lebensgefährten in einer schönen und geräumigen 70er-Jahre-Wohnung, die von außen mit solidem Beton verkleidet ist. Das Viertel entspringt dem Social Engineering und ähnelt sehr den Häusern in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin. Hier bezeichnet man das oft als Oststaatenarchitektur. Das bedeutet, dass die Häuser funktionell und grau sind und von außen menschenfeindlich aussehen. Aber die Wohnungen sind schön und vor allem billig. Von Arbeits-, Ess- und Wohnzimmer aus sehe ich auf einen dicht belaubten Park. Das Ostdeutsche am Viertel ist nicht allein der Beton, die rechten Winkel und die Gleichheit der Häuser, sondern dass alles rationalistisch und geplant ist (aber nicht vernünftig oder auch nur rational).
Als man nämlich diese Viertel in stabilem Beton und die sorgfältig durchdachten Grünanlagen schuf, stellte man sich die Bedürfnisse der Menschen in der Fantasie vor, anstatt den Ort entsprechend der Bedürfnisse wachsen zu lassen, die sich im Alltag manifestieren. Eine antibürgerliche Ideologie und ein pädagogischer Eifer hatten Vorrang vor den alltäglichen Bedürfnissen. Deshalb gab man der sogenannten Volkszahnpflege, „Folktandvården“, den besten Platz im Zentrum von Tensta. Zahnärzte: eine Institution, die die meisten einmal im Jahr aufsuchen, die nicht zum Alltag gehört, den das Social Engineering von Kleinbürgertum und Krämertum befreien wollte. Neben der Volkszahnpflege lagen die Bibliothek und das Sozialamt. Kommerz und Handel sollten nicht gefördert, sondern aufs Notwendigste beschränkt werden. Dieses Social Engineering ist wirklich ein faszinierendes Phänomen, im 20. Jahrhundert verankert wie in einem historischen Museum.
Ich schreibe das am schwedischen Nationalfeiertag, dem 6. Juni. Wir kämpfen mit unserem Selbstbild. Heute morgen im Frühstücksfernsehen sprach ein Moderator davon, dass wir „Schwedens Geburtstag“ feiern. In einer anderen Sendung heute Abend hat ein Koch das Rezept der erst dreißig Jahre alten „traditionellen“ Schwedentörtchen mit Mandelboden und Erdbeeren abgewandelt, damit sie zur neuen Vielfalt passen. Der Boden war jetzt von Baklava inspiriert und aus Pistazie und Rosenwasser. Nächstes Jahr ist dieses Gebäck sicher wieder anders, denn das einzig Bleibende an diesen Versuchen ist der immer neue Entwurf.
Niemand weiß, warum wir den 6. Juni feiern, es hat etwas mit der Einführung der Erbmonarchie von 1523 zu tun und dem Sturz derselben Dynastie 1809 und mit einem Reichstag in Arboga im 15. Jahrhundert, alles geschah offenbar an diesem Datum, und niemand weiß, was wir davon ausgewählt haben oder warum, am wenigsten ich. Wesentliches lässt sich nicht herbeikonstruieren. Die Welt ist im Grunde organisch, nicht anorganisch. Schweden hat keinen Nationalfeiertag, weil wir nie kolonialisiert oder okkupiert waren. Wir können uns nicht über einen Moment definieren, in dem wir unabhängig geworden wären. Deshalb fehlt eine natürliche Notwendigkeit zu so einem Tag. Die Moderne war unsere nationale Idee. Dazu gehört, sich alles Alten zu entledigen, inklusive Essgewohnheiten und Routinen. Deshalb stehen wir unbeholfen und ratlos vor solchen Fragen. Wir treiben einfach weiter und entwerfen neue Sachen, die sich morgen schon alt anfühlen.
Ich selbst bin, wie gesagt, nicht so sehr fürs Feiern von irgendwas. Und die Nationalstaaten, glaube ich, sind im Aussterben begriffen. Dieses aufgesetzte, neu zum Leben erwachte Feiern, diese aufblühenden Nationalgefühle in einem europäischen Land nach dem anderen sind bloß Todeszuckungen, eher Reaktionen auf eine grundsätzliche Tendenz, als die grundsätzliche Tendenz selbst.
Grüße,
Lena Andersson

 

Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel.

15. Juni 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Mitte Juni, Rheinsberg
Liebe Lena Andersson,

beim Lesen deines Briefes musste ich daran denken, dass ich mich in Schweden sofort mehr zu Hause fühlte als im ehemaligen Westdeutschland. Das hat vielleicht mit der Idee zu tun, Dinge jederzeit ändern zu können und sich neu zu entwerfen, die mir ausgesprochen gut gefällt.
Einige Zeit besaß ich ein Haus in Värmland, eine etwas heruntergekommene Villa, die einmal eine Pfarrerswohnung, später eine Tankstelle gewesen war. Es überraschte mich, drei weiße, wunderschöne originale Jugendstilkachelöfen darin zu finden. Schon eine dieser Kacheln hätte in Deutschland ein Viertel des Hauspreises gekostet. Als ich auf der Suche nach Stühlen war, fuhr ich nicht zu IKEA, sondern ging in die vielen „Antik“märkte, die im Sommer in jedem Städtchen und jeder Scheune aufmachen, begleitet von Blechblasmusik (was auf mich wirkte wie eine beliebte sommerliche Routine, eine Tradition des Alltags, zu der auch Kaffee und Kanelbullar gehören).

Neben Trödel werden die schönsten Antiquitäten verkauft, gut erhalten und oft sogar bezahlbar. Ich fand einen Stuhl, der vom Moderne-Projekt des 20. Jahrhunderts noch unberührt war.

Auch manche Privathäuser hatten einfach ein „öppet-Schild vor die Tür gestellt. Man verkaufte, was im Wohnzimmer nicht mehr gebraucht wurde. Dieses antike Aufgebot allerorten verdeutlichte für mich eine historische Besonderheit: Die ungeheuren Mengen an Trödel, Schmuck und Antiquitäten erzählten davon, dass nichts zerbombt, verbrannt, vernichtet wurde. Manches mochte über die Jahre ausrangiert worden sein, aber brennende Erde gab es in Schweden seit 500 Jahren nicht mehr.
In Deutschland hätte ich mir diesen edlen Stuhl nicht leisten können.

Die Bezahlbarkeit antiker Möbel und Kachelöfen erzählt auch davon, was du beschreibst; das Alte ist nicht so viel wert. Und: man scheint sich problemlos von Gegenständen des Alltags trennen zu können. Mich hatte beeindruckt, dass Häuser oft mitsamt der Möbel zum Verkauf standen, Käufer erhielten die Geschichte der ehemaligen Bewohner inklusive.

Beim Umzug in Deutschland stellen wir am neuen Ort im Grunde nur die alte Ordnung wieder her, platzieren Couch und Spülmaschine exakt so wie zuvor, könnten also in aller Ruhe vergessen, dass wir uns überhaupt vom Fleck bewegt haben, würde nicht von draußen störend ein fremder Dialekt hereindringen. In Schweden vollzieht man den Ortswechsel auch innerhalb der Räume nach; man richtet sich komplett neu ein. Wer auf diese Weise umzieht, muß nicht nur weniger mitschleppen, sondern wechselt neben dem Ort in bestimmter Hinsicht auch das Leben.

Sich von Altem zu trennen, funktioniert aber nur, wenn man ein „öppet“-Schild vor die Tür stellen kann. Wer gezwungen ist, es zurückzulassen, wem es weggenommen oder zerstört oder wer enteignet wurde, hält am Alten nur umso stärker fest.

Deutschland hatte auch mal ein Moderne-Projekt, wir lagen da mit Schweden ziemlich gleich auf. Aber die großen Köpfe dieses Projekt wurden in die Emigration getrieben (wovon die amerikanische Filmindustrie und Kaliforniens Architektur profitierten) oder in Konzentrationslagern ermordet.
Was nach dem Krieg übrigblieb, war verseucht bis in die Sprache hinein. Aber an etwas muß der Mensch sich festhalten. So marschierte der Osten vorwärts in eine neue Diktatur, der Westen geradewegs ins Kaiserreich zurück, mit allem, was es an patriarchalen Gepflogenheiten und verspießerten Mustern zu bieten hatte. Überholte Rituale wurden aufpoliert und mangels Alternativen und Phantasie heftigst gepflegt.
Dieses starre, dumpfe Festhalten äußert sich trotz 68er Rebellion noch heute manchmal, auch in jenem unsäglichen Frühstück, das dir deine unbelastete Wahrnehmung so liebenswert alltäglich erscheinen ließ: immer dieselbe Auswahl an Käsebutterwurstmarmeladenstullen. Und dass ja kein Spitzendeckchen verschoben wird! Schon dem Wunsch, die Käsesorten zu ändern, wird der Riegel vorgeschoben: „Wieso? Das haben wir immer schon so gemacht.“ – Immer schon. Eine Formulierung, die mich schreckt. Wenn ich dich richtig verstehe, gibt es bei dir jedoch eine Sehnsucht nach Unumstößlichem, Unveränderbaren. Woher kommt das? Und sind nicht påtår, auf deutsch würde man dazu „Kaffee satt“ sagen, und das Knäckebrot, das in jedem Restaurant zum Getränk gereicht wird, dem deutschen Frühstückseinerlei ähnlich?
Vielleicht hat mein unerklärbares Zuhause-Gefühl auch damit zu tun, dass dir Marlies Göhr und Marita Koch noch etwas sagen. Das dürfte für einen großen Teil der hiesigen Bevölkerung nicht gelten. Wenn ich deinen Brief lese, wird mir klar, wieviel ich von dem, was meine Kindheit und Jugend geprägt hat, aufgegeben habe, auch, weil ich mich so sehr bemüht habe, das Referenzsystem dieses anderen Deutschlands zu verstehen. Nach dem Fall der Mauer galt es ja ebenfalls, sich neu zu entwerfen, Altes zurückzulassen, und ich wollte nichts als das. Spät erst fiel mir auf, dass statt eines neuen Entwurfs etwas anderes Altes übernommen werden sollte.
Ein einfaches Beispiel ist 1968. Früher dachte ich an die Niederschlagung des Prager Aufstands durch sowjetische Truppen. Jetzt denke auch ich an die Studentenbewegung aus Frankfurt/Main. Kommt in der öffentlichen Debatte die Rede auf 68, sind westdeutsche Studenten gemeint, die gegen ihre Eltern und das Schweigen in der Nachkriegszeit rebellierten und nie jene Menschen, die zur gleichen Zeit unter Lebensgefahr eine Diktatur stürzen wollten. Um die gealterten Rebellen wird viel Wind gemacht, die heute wichtige Posten besetzen und einen Teil dessen repräsentieren, wogegen sie einmal aufbegehrten. Von den Initiatoren des Prager Frühlings hört man kaum. Dabei hätte die Gesellschaft, in die sechs Jahre später hineingeboren wurde, damals eine bessere Richtung einschlagen können.
An den Rekordlauf von Marita Koch kann ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, dass ich mir als Elf-, Zwölf-, Dreizehnjährige bei jedem Leichtathletikwettkampf zu Kreis-oder Bezirksmeisterschaften vorstellte, ich wäre Marlies Göhr oder Heike Drechsler. In der dritten Klasse kamen Sportfunktionäre an unsere Schule, um die Sportlichsten unter uns für die KJS zu rekrutieren. Hätten meine Eltern es nicht verhindert, weil sie wussten, dass dort nicht nur Körper getrimmt, sondern auch Gehirne gewaschen wurden, wäre ich wohl auf jener Kinder-und Jugend-Sportschule gelandet, in der dich dein Trainer so gern gesehen hätte.
Es war leicht, sich mit Göhr oder Drechsler zu identifizieren. Verzaubert war ich von einer anderen: Florence Griffith-Joyner. Denn dass die DDR-Athletinnen gewannen, war keine Überraschung. Sie waren Rennmaschinen, die von klein auf militärisch aufs Siegen abgerichtet wurden. Griffith-Joyner aber tanzte über die Tartanbahn und gewann wie nebenbei. Sie lächelte sogar auf der Ziellinie. Sie kam mir unwirklich vor, oder besser: sie repräsentierte eine verlockende Wirklichkeit, in der man ein Exot mit langen Fingernägeln sein durfte, bunt und gebogen wie Papageienschnäbel, in der man glitzernde, schrille Laufanzüge tragen durfte, die nur ein Hosenbein hatten. Das andere Bein war nackt, um noch deutlicher die kräftigen Muskeln auszustellen und der Höchstleistung zugleich die Anstrengung zu nehmen, weil es den Lauf wie eine Show erscheinen ließ. Diese Frau war ein spielerischer Selbstentwurf. Im Osten konnte schon eine wilde Frisur Anlaß für den schwerwiegenden Vorwurf sein, man wäre ein Rowdy, ein Tramper, ein „verkommenes Subjekt“, beeinflusst vom Klassenfeind. Das hätte man auch einer Weltrekordhalterin nicht durchgehen lassen.
Über Weiblichkeitsbilder dachte ich damals nicht nach. In der 9. und 10. Klasse mußten wir zur „Produktiven Arbeit“ ins Autowerk, und das Öl der Bohr- und Drehmaschinen klebte unter den Nägeln der Mädchen wie denen der Jungs. Geschlechterklischees, die es natürlich gab, kamen mir affig und langweilig vor, das klassische Rollenmodell so altertümlich wie Seejungfrauen und Könige. (Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass die schwedische Gesellschaft, in der, wie du schreibst, das einzig Beständige die Veränderung ist, sicherheitshalber ihren König behält!) Heute kenne ich den enormen Druck, unter dem diese Weiblichkeiten und Männlichkeiten endlos reproduziert werden, über die sich Gesellschaft organisiert, schließlich „haben wir das immer schon so gemacht!“
Was mich interessiert: du und ich haben uns damals zu dem hingezogen gefühlt, was uns fern war, was wir aus unserem Alltag nicht kannten. Und was wir nicht kannten, waren zwei Sportlerinnen, die beide – so gegensätzlich sie auch waren – die Geschlechterdoktrin unterliefen. Marita Koch brachte die Eindeutigkeit des binären geschlechtlichen Koordinatensystems durcheinander, indem sie ohne Weiblichkeitsattribute auskam, und Florence Griffith-Joyner, indem sie genau diese Attribute so übertrieb, dass sie wie „drag“ wirkten; ein muskulöser Körper, dem Weiblichkeit so schrill übergezogen wurde, dass er männlich aussah im Aufzug einer Frau.
Ich würde gern erfahren, was du dazu denkst. Das Schweden der Siebzigerjahre stelle ich mir eigentlich schon sehr offen und emanzipiert vor. Aber offenbar hattest du das Gefühl, unter einem Anpassungsdruck zu stehen?
Lass mich zum Schluß noch auf Prag eingehen und auf ein Beispiel, das deine Frage nach dem beantwortet, was man im Osten besser nicht erzählte. Meine Mutter arbeitete bei der Fluggesellschaft Interflug. Mitarbeiter der Interflug bekamen drei Freiflüge für sich und ihre Familie pro Jahr. Da es nicht viele Orte gab, die man hätte ansteuern können, flogen wir einmal jährlich in einem halb leeren Flieger nach Prag und Budapest. Budapest wurde bald zu teuer. Ungarn begann in den 80er Jahren, sich dem Westen zu öffnen, woraufhin es Coca-Cola gab und der Wechselkurs stieg.
Was das Reisen betrifft, war ich privilegiert in einem Land, in dem die meisten Menschen innerhalb der Grenze in staatlichen Ferienheimen Urlaub machten. Aber das Privileg hatte seinen Preis. Als Interflug-Angestellte durfte meine Mutter keine Westverwandtschaft haben, sonst hätte sie die Arbeitstelle verloren. Sie war in der Wirtschaftsplanung. Sie flog nicht als Stewardess um die sozialistische Welt, wo der Staat sie bei einer Zwischenlandung im kapitalistischen Ausland an den Feind hätte verlieren können. Man schien zu fürchten, der tägliche Anblick von Rollfeld und Fliegern könne das Fernweh der Belegschaft so steigern, dass alle mit Bezugsperson im Westen in selbigen „rübermachten“, wie der Volksmund sagte.
Der Bruder meiner Mutter, der in Bayern lebte, uns Pakete schickte und heimlich traf – beispielsweise in Prag – musste verschwiegen werden. Er war das Geheimnis, das ich seit dem sechsten Lebensjahr im Wissen darum besaß, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn es aufflog.
Die DDR mag, wie du sagst, auf Rationalismus begründet gewesen sein. Aber ein Großteil des Lebens war irrational. Es gab Mitschüler, die prahlten damit, dass sie Westverwandte hatten. Westklamotten waren ein Statussymbol, obwohl es das Wort noch nicht gab. Ich dagegen hatte Angst, mit einer coolen Jeans in die Schule zu gehen und dachte mir aberwitzige Geschichten aus, wo ich diese Hosen oder Schuhe her haben könnte. Man hätte leicht den bayerischen Bruder entdecken können – hätte die Nachbarin, die auf ihrem Kissen im offenen Fenster des Erdgeschosses die Straße besser im Blick hatte als jede Kamera, etwas mitbekommen und es weitergetratscht, hätte ich mich in der Schule verplappert, hätte meine Freundin ihren Verdacht jemals laut geäußert, oder hätten meine Eltern auch nur irgendeine Charakterschwäche gezeigt –Alkohol, Unpünktlichkeit, Aufmüpfigkeit, eine außereheliche Affäre – und sich vor der Parteileitung ihrer Arbeitsstelle dafür verantworten müssen, woraufhin man begonnen hätte, im Familienleben herumzubohren. Man hätte uns folgen können, wenn wir diesen Bruder heimlich trafen. Aber bei der netten, unauffälligen Familie schaute niemand genauer nach. Ich weiß bis heute nicht, ob meine Mutter andernfalls tatsächlich „in der Produktion“, am Band gelandet wäre. Angst ist die beste Kontrolle.
Vielleicht liegt es an diesen Erfahrungen, dass ich deine Zuversicht, die nationalistischen, anti-demokratischen Tendenzen in ganz Europa wären Todeszuckungen, nicht teilen kann. Wenn ich es versuche, habe ich den deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Ohr. Er sagte neulich sinngemäß, dass unsere Demokratie stark sei und Zeiten der Unsicherheit locker wegstecken könne. Es sollte klingen wie eine Tatsache. Aber ich kann nicht vergessen, dass Gauck von Haus aus Pastor ist. Pastoren aber wollen die Gemeinde im Glauben bestärken. Allein das gibt mir zu denken…
Sei herzlich gegrüßt,
Antje Rávic Strubel

26. Juni 2016 – Brief nach Potsdam versendet (Andersson an Strubel)

26. Juni 2016

Liebe Antje,
jetzt, da ich diesen Brief beginne, sind zwei Tage vergangen, seit das Ergebnis des britischen Volksentscheids zur EU bekannt wurde. Du hast vielleicht recht und die nationalpopulistischen und auf Gefühlen gründenden Strömungen, die Europa durchdringen wie Bakterien der Unzufriedenheit, sind etwas, womit wir in Zukunft lange Zeit leben müssen. Sie sind vielleicht keine Todeszuckungen des Projekts homogener Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts, keine Reaktion und zeitweilige Bremse der Freiheit, wie ich glaube, sondern die neue Richtung, die die westliche Welt für sich absteckt; es ist womöglich diese Richtung, die sich die meisten Menschen tatsächlich wünschen und tatkräftig anstreben. Ich möchte nicht glauben, dass es so ist, aber du kannst recht haben.
Ein mündiger Mensch zu sein, ist schwer und fordernd; ein Kind zu sein, ist ein Idealzustand für viele, mit strengen Eltern als eine Art Machthaber, die für Ordnung sorgen in Bezug auf einen selbst und andere und einem die Koffer und Lunchpakete packen. Ich dagegen bin so froh, aus der Kindheit heraus zu sein, dass ich niemals selbst Kinder haben wollte. Ich möchte kein Vormund sein, und niemand soll über mich die Vormundschaft besitzen. Gleichberechtigte Freiheit ist mein unerschütterliches Ideal, und diese britische Volksabstimmung entstammt einem anderen Ideal.
Es war zutiefst unverantwortlich von David Cameron, sie herbeizuführen. Referenden sind und waren nie ein gutes demokratisches Instrument. Diese Art der direkten Beschlussfassung ist für kleine übersichtliche Versammlungen und Fragen gedacht, die kleine übersichtliche Entscheidungen betreffen und nicht allzu viele Menschen berühren. Aber es lässt sich ebenso gut feststellen, dass ein Abkommen, aus dem man sich nicht zurückziehen kann, zu groß ist, um daran beteiligt zu sein.
Eine ehrgeizige Politik hat die Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts bestimmt, geprägt von demokratischen Wahlen, bei denen es darum ging, das die Parteien einander mit Versprechungen überboten, was sie alles für die Menschen regeln wollten. Der Irrtum dieser Politik liegt darin, dass die Politiker redeten, als wären die existentiellen Probleme politische; als könnte alles mithilfe bestimmter Maßnahmen und staatlicher Regulierung geordnet werden. Früher beteten die Menschen zu Gott, jetzt beten sie zu Politikern und werden ermutigt, es zu tun. Gott gibt es nicht und kann uns demzufolge auch nicht helfen, die Politiker wiederum haben einmal versucht, ein System zu schaffen, mit dem sie alles im Leben glaubten kontrollieren zu können, inklusive der existentiellen Probleme, und dieses System bekam den Namen DDR. Es war eine logische Folge des Traums, alles ließe sich steuern.
Ich glaube, dass ein Referendum, das die Frage stellte: „Wie stehen Sie zum Leben in seiner gegenwärtigen Form – sind Sie dafür oder dagegen?“ eine lautstarke Austrittsforderung zur Antwort bekäme.
Schon jetzt lässt sich erkennen, dass der Brexit einer Scheidung ähnelt, bei der ambivalente Gefühle im Spiel sind. Der getäuschte und verschmähte Teil, die EU, möchte den Unzufriedenen so schnell wie möglich aus dem Haus haben. Er soll seine Sachen zusammenpacken und sich nie mehr blicken lassen, während es dem, der sich scheiden lassen will und der in all den Ehejahren immer mehr Freiheit und weniger Genörgel um Wäsche und Abwasch verlangt hatte, nicht mehr gefällt, dass es so schnell geht mit dem Unterschreiben der Scheidungspapiere. Das kann doch ein bisschen warten? Er wollte ja nur gegen die Beengtheit in der Beziehung protestieren. Vielleicht kann man ja noch eine Weile zusammen wohnen bleiben, bis er eine neue Wohnung und einen neuen Partner gefunden hat? Vielleicht kann man ja weiterhin zusammen Weihnachten feiern? Auch Ostern wäre schön. Und sonntags mit den Kindern zusammen Kaffee trinken? Man muß ja nicht gleich so drastisch sein. Man wollte ja nur mal seine Meinung sagen. Und der Binnenmarkt war doch gut, und man kann doch auch weiterhin einen freien Verkehr von Waren und Kapital haben, aber ohne die Osteuropäer, die sich genauso frei bewegen wie das Geld? Vielleicht kann man sich sogar weiterhin sehen und manchmal miteinander schlafen, aber ohne all die praktischen Dinge?
Das Leben besteht aus einer Anzahl von Strukturen. Es gibt nicht beliebig viele. Das Kleine gleicht dem Großen, alles hat seine Formen, und von denen kommen wir nicht los. Das meinte ich, als ich über die Standardisierung in Schweden schrieb, die es auf großer Ebene gibt, aber nicht im Kleinen, obwohl alle dennoch quasi versehentlich in ähnlicher Weise lebten. Das hat mit unserer homogenen Gesellschaft zu tun. Wir waren homogen, ohne uns richtig im Klaren zu sein über unsere Alltagsroutinen, ohne richtig anwesend zu sein in diesem täglichen Leben, sondern wir lebten ein wenig aufs Geratewohl, auf dem Weg zur nächsten großen Reform, die uns besser machen würde. Wir bauten uns nicht sorgfältig ein Leben von unten her auf, weil es für uns von oben her gebaut wurde.
Das war es, was ich mit dem deutschen Frühstück und den bürgerlichen Routinen in Frankreich meinte und damit, dass wir jeden Tag alles neu erfanden. Wir vergaßen den Wert von Struktur und Routine. Nicht so, dass wir tatsächlich jeden Tag alles neu erfanden, wir lebten nur in der Erwartung von etwas Besserem und Größerem als Frühstückskörbchen und gleich aussehenden Brasserien an jeder Straßenecke. Die Erfindungsgabe war durch politische Vereinheitlichungsmaßnahmen wie auch durch soziale Sicherheiten ziemlich gedämpft, aber wir hatten und haben auch keine ausdrückliche Vorstellung von den Notwendigkeiten des Alltags. Natürlich nehmen wir den Alltag gezwungenermaßen hin, und so war es auch zu Zeiten des Volksheims, aber was fehlte, war die Einsicht, dass es sich dabei um das Leben handelte. Das Leben spielte sich nicht, wie wir annahmen, im Reichstag ab, sondern im Alltag. Ich trage natürlich etwas dick auf, übertreibe und verallgemeinere, aber in dem, was ich wahrnehme und behaupte, steckt ein Körnchen Wahrheit.
Mir erscheint nicht das Beständige und Unveränderliche anziehend, wie du schreibst, sondern die Einsicht, dass es unmöglich ist, Strukturen dadurch aufzubrechen, dass man sich ihrer entledigt. Das Leben beruht auf biologischen Grundlagen, und der Mensch steckt in Routinen und Strukturen. Er kommt von ihnen nicht los, also kann er sich ebenso gut darüber klarwerden. Wenn er sich keine Strukturen zulegt und sie nicht bejaht, wird die Struktur selbst das für ihn übernehmen. Auch keine Struktur zu haben, ist eine Struktur. Sogar Zügellosigkeit hat ihre Zügel und ihre Logik. Für das Individuum wie für das Kollektiv ist es verwirrend, wenn man für sich selbst nicht geklärt hat, dass das Leben in bestimmter Hinsicht ist, wie es ist.
Ich bin äußerst fasziniert davon, dass das Leben und die Bedingungen der Menschheit in so hohem Maß sowohl auf ständiger Bewegung als auch auf Stetigkeit beruhen, dass sich alles Neue nach Mustern ordnet, die es immer schon gegeben hat. Ich betrachte die Dinge wertfrei, eher deskriptiv als normativ. Ich schätze Tradition nicht um der Tradition Willen und bewundere die rastlose Psyche, die voranstrebt und Neues erfindet. Aber mir ist auch bewusst, dass wir uns im Kreis bewegen, und darüber bin ich genauso dankbar, wie darüber, dass dem Menschen die Veränderung innewohnt (was zur Folge hat, dass das Leben nicht ewig währt). Denn wenn wir in der Veränderung nicht wiedererkennbar blieben, könnten wir die Probleme nicht so verstehen wie die Schriftsteller, Forscher und Philosophen, die von der Antike bis heute darüber nachdachten und nachdenken. Ich schätze die Beständigkeit und bin zugleich froh, dass sich alles weiterentwickelt und verfeinert hat, was von der menschlichen Hand berührt wurde. Ich huldige sowohl dem Veränderlichen, als auch der Stetigkeit und glaube, dass es am besten ist, wenn gleichberechtigte, freie Individuen zusammenwirken, um diese besonderen Begabung des Menschen umzusetzen; sowohl Natur als auch Kultur zu sein – und einen Verstand zu besitzen, der die Nuancen dazwischen erkennt.
Es ist interessant, wenn du von Florence Griffith-Joyner schreibst, dass sie dich als junge DDR-Bürgerin durch Extravaganzen anzog, die in deinem Land nicht erlaubt waren und alles betrafen, was sie in Angriff nahm. Sie stach heraus, während bei euch nicht einmal eine Frisur herausragen durfte, weil Frisuren Zeichen sind und Zeichen eine Sprache, ein Kommunikationswerkzeug, Bedeutungsträger. Es ist ein spannender Gedanke, dass das Zurschaustellen und die Show in allem, von den Nägeln und Haaren, bis hin zu den Laufanzügen von Griffith-Joyner, eine Art und Weise war, die Anstrengung zu verbergen, während sie bei euren Sportlern in denselben Disziplinen nicht verborgen, sondern gerade gezeigt werden sollte. Ich glaube, das hat mit der Vorstellung von Echtheit und Lüge zu tun, und besonders damit, inwiefern die eigene Gedankenwelt auf Platon beruht oder auf dem Relativismus der Sophisten. In einem System, in dem man die Wahrheit kennt, wie im Kommunismus oder bei Platon, muß man keine neuen Frisuren ausprobieren und darüber Neues entwerfen, weil das, was gesagt werden muß, bereits gesagt und ausgemacht ist. In einem eher relativistischen oder postmodernen System, in dem jeder Einzelne mit sich ausmachen muß, was wahr ist, wie im amerikanischen, kann und muß man sich über die Abweichung und das Zurschaustellen ausdrücken. Die Anstrengung zu verbergen, aber die Überlegenheit zu betonen, gilt der einen Weltanschauung als Tugend; Anstrengung zu zeigen und mehr noch, zu zeigen, dass sie zu einem Erfolg führt, der gerecht und tolerierbar ist, und die Abweichung von der Gruppe herunterzuspielen, die mit der Leistung einhergeht, gilt der anderen Weltanschauung als Tugend.
Meinem eigenen Naturell entsprechend halte ich die Begriffe von „echt“ und „falsch“ für relevant und denke, dass das Zurschaustellen und die Show meistens dem Wesentlichen im Weg stehen. Aber ich bin auch zu großen Abstrichen bereit, um in einer Welt zu leben, in der beide Gesinnungen anerkannt sind und in der es möglich ist, zwischen ihnen zu wählen. Etwas persönlich zu bevorzugen, ist nicht dasselbe wie zu wünschen, dass alle genauso sein mögen, wie man selbst, im Gegenteil. Erst im Verhältnis zu anderen Gesinnungen begreift man die eigene, und im Verhältnis zu anderen Lebensweisen wird einem die Daseinsform bewusst und gegenwärtig, die am besten zu einem passt.
Ich hoffe und glaube, dass Europa und die Welt auf dem Weg zu einer Gesellschaftsform sind, in der die bevorzugte Lebensweise des einen nicht als Forderung an den anderen verstanden wird, und ich meine, dass man allgemein Respekt erweisen soll (wenn sich auch solcher nicht einfordern lässt) auch angesichts einer Haltung, die von anderen abgelehnt wird und tatsächlich selbst dann, wenn diese Haltung als Herabwertung anderer zu verstehen ist.
Du fragst dich, ob ich als Kind und Jugendliche in Schweden einen Anpassungsdruck an weibliche Normen spürte. Vermutlich. Ich erinnere mich, wie es mich quälte, dass von einem Mädchen erwartet wurde, Rock tragen, um schick auszusehen, und dass von ihr erwartet wurde, auf eine Weise anders als ein Junge zu sein, die mir nicht gefiel. Aber ich ignorierte es weitgehend und kann mich nicht erinnern, dass es mich hemmte in dem, was ich wollte. Ich machte das, was sich für mich natürlich anfühlte innerhalb des Rahmens der begrenzten Freiheit, die man als Kind unabhängig vom Geschlecht hat. Aber zweifellos gab es eine Erwartung, zu der man sich verhalten musste, entweder indem man sich an diese Erwartung anpasste oder in Form der Revolte. Doch ich war sicherlich weniger davon beeinflusst als die meisten Mädchen, weil ich als mein wichtigstes Betätigungsfeld den Sport hatte, wo Muskeln verlangt wurden und typisch weibliches Verhalten ungünstig für den Wettkampf war.
Herzliche Grüße, Lena

 

Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel.

30. Oktober 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Anfang Juli, Potsdam

Was aber, liebe Lena, wenn das Glitzerkostüm von Florence und Maritas strenges Blau beides das Wesentliche sind? Nichts wird verborgen, alles ist da. Ist nicht das eine wie das andere ein Zurschaustellen (artisteri), nur von jeweils unterschiedlichen Dingen, abhängig vom System, das sie repräsentieren? Die eine ist so echt wie die andere. Koch stellt mit ihrem kämpferischen Antibiotikakörper und dem selbstverleugnerischen Aufgehen in der Mannschaft den Sozialismus zur Schau, Griffith-Joyner mit ihrem tänzerischen Transkörper und der Verherrlichung der Einzelleistung den Kapitalismus, kollektivistische Wahnvorstellung von Überlegenheit, versus individualistische Wahnvorstellung von Überlegenheit. Danach gehen sie zusammen ein Vitaminwasser trinken, und nichts fällt von ihnen ab, sie häuten sich nicht, kein „wahres“ Gesicht kommt zum Vorschein (vielleicht ein erschöpftes). Beide stellen Wirklichkeit her, und „echt“ oder „unecht“ trifft für mich als Beschreibung nicht zu, weil die Wirklichkeit, in der wir stecken, immer echt erscheint. Sie beruht auf Strukturen, wie du auch schreibst, die von Menschen konstruiert, also veränderbar und gefährdet sind; inklusive der Kategorien von richtig und falsch und worauf sie – zeit-und gesellschaftsabhängig – angewendet werden. Das kollektivistische Wertesystem meiner Kindheit und Jugend ließ sich erstaunlich problemlos in ein individualistisches umwandeln, was sich – beängstigenderweise – ebenso problemlos in ein radikalreligiöses oder nationalrassistisches Wertesystem umwandeln lassen dürfte. Surface is an illusion, but so is depth, wie David Hockney so treffend formulierte.
Beim Lesen deines Briefes fragte ich mich, ob wir als Schriftstellerinnen, die wir uns hier im geschützten Raum Sorgen machen und Cameron kritisieren, auf irgendetwas Einfluß nehmen können. Joan Didion schrieb: „Wenn ich daran glauben könnte, dass es das Schicksal der Menschen auch nur im geringsten beeinflussen würde, auf die Barrikaden zu gehen, dann würde ich auf diese Barrikaden gehen, und häufig wünsche ich mir, ich könnte daran glauben, aber es wäre nicht ganz ehrlich zu behaupten, ich verspräche mir davon ein Happy-End.“
Du warst Leistungssportlerin und kamst danach zum Schreiben. In deinem jüngsten Roman „Utan personligt ansvar“ stieß ich auf eine Stelle, wo es sinngemäß heißt, Ester, die Hauptfigur, habe den Sport an den Nagel gehängt, als sie verstanden habe, dass das Denkvermögen keiner genialischen Veranlagung entspringe, sondern ebenso trainiert und verbessert werden könne wie die körperlichen Fähigkeiten. Abgesehen von der Frage, ob das dem ähnelt, wie du Schriftstellerin geworden bist, würde mich interessieren, ob du glaubst, dass das auch für Gesellschaften gilt. Ob Gesellschaften also langfristig verbesserungs- und lernfähig sind.
Ich habe in letzter Zeit den Eindruck, es ist der schlichteste menschliche Reflex, wabernder Instinkt, was da zurück an die Oberfläche gespült wird. Schließlich muß ja mal Schluß sein mit dieser ewigen, anstrengenden Reflektion darüber, welches Fleisch wir essen dürfen, Menschen mit welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welcher Glaubensrichtung, welcher Sexualität wir wie bezeichnen dürfen oder nicht, Schluß mit dem ewigen Diskutieren, Zermartern und Hinterfragen; ein Mann soll ein echter Mann sein (wie ich gestern abend wieder in einem Café hörte, wo man die Fußball-EM diskutierte und schnell ausgemacht hatte, wer unter den Deutschen, Franzosen, Isländern eindeutig wie ein Schwuler aussah), meine Heimat soll eine wahre Heimat sein, nämlich mir allein gehören mit allen Steakrestaurants, die reinpassen, egal, ob das Rind geschunden wurde oder nicht.
Das Barbarische, was da hochkocht, findet zeitgleich mit einer bis zur Ornamentik gesteigerten Hochkultur statt. Fatal, sollte der Barbar auch ein Reflex auf die ornamentalen gedanklichen Verrenkungen sein! In dem Netzwerk gebildeter, liberaler Damen, dem ich angeschlossen bin, gibt es durchaus die Meinung, daß Ganzkörperverschalungen, unter denen Frauen zu einem Nichts verschwinden, akzeptabel sind, und erst neulich kam von dort eine Begründung, warum Männer, die Frauen nicht die Hand geben, irgendwie doch auch vernünftig handeln.
Scheint es da nicht schlichtweg irrelevant zu werden, wie sehr eine Gesellschaft bis in die Tiefe hinein Demokratie trainiert hat? Ob in Mitteleuropa, Großbritannien, Skandinavien oder den USA; überall soll eine klare Linie her. Dem einen Prozent der Weltbevölkerung, die das Kapital und damit die Macht gerade unter sich aufteilt, kommt das sehr gelegen; eine Masse, die freiwilig das Denken an den Nagel hängt, lässt sich leicht beherrschen.
Joan Didion hätte gesagt: Das Herz der Finsternis liege nicht in einem Fehler der gesellschaftlichen Ordnung, sondern den Menschen im Blut. Wenn es den Menschen bestimmt sei, Fehler zu machen, sei notwendigerweise jede gesellschaftliche Ordnung fehlerhaft. Ihr und dem Kulturpessimisten Joseph Conrad zufolge ist gesellschaftliches Engagement fruchtlos.
Die Konsequenz, die Didion daraus zieht, finde ich interessant: Angesichts einer grundsätzlichen Sinnlosigkeit erklärt sie die Offenlegung eines unsauberen Denkens zur moralischen Pflicht. Die hohlen Idealisierungen, den Selbst-und Fremdbetrug unserer Reden, die Verlogenheiten öffentlicher, medialer, politischer Diskurse und unsere Sucht, uns mit Heilsversprechen und Illusionen über die grundsätzlichen Unzulänglichkeiten des Daseins hinwegzutäuschen, gelte es zu entlarven, die Sprache selbst also zu sezieren, um zu zeigen, wie sie gebraucht und mißbraucht wird und sich den gesellschaftlichen Zweckmäßigkeiten anschmiegt.
Für mich bleibt die Frage: Wie weit sollten wir uns als Schriftstellerinnen einmischen? Und: tun wir das als Privatpersonen, die einen privilegierten Zugang zur Presse und Öffentlichkeit haben oder tun wir das in unserer Literatur? Selbst wenn wir Didions Verpflichtungserklärung folgen, hätte das eine Wirkung? Und wie weit darf eine Einmischung gehen, ohne dass wir uns funktionialisieren lassen? Verhält es sich da nicht so, wie Hjalma Söderberg es einmal formulierte: „Es ist nämlich mit der Wahrheit wie mit der Sonne. Ihr Wert hängt für uns einzig und allein von der richtigen Distanz ab.“
Solange Literatur eine gesellschaftliche Randerscheinung ist, kann sie immerhin ein Spielplatz sein, ein Ort, an dem die Grenzen der Wirklichkeit mithilfe der Erfindung verwischt und neu gestaltet werden. Und das eigene Leben zu erfinden, so dass es einem auf ureigene Weise gehört, zählt für mich zu den aufregenden Momenten, die die Literatur der Realität voraus hat. Aber auch solche Spielplätze können natürlich jederzeit in die Bredouille geraten, verteidigt werden zu müssen …
Was denkst du?
Herzlich, Antje

26. Juli 2016 – Brief nach Potsdam versendet (Andersson an Strubel)

Öland am 26./27. Juli 2016

Antje!
Ja, mein Weg zur Schriftstellerin war der gleiche wie der meiner Romanfigur Ester Nilsson. In der Kultur, in der ich aufwuchs, wurden Schriftsteller als eine besondere Spezies betrachtet und beschrieben, sie waren anders, unerreichbar, ätherisch, beseelt, im Besitz magischer Kräfte, nicht in Kontakt mit dem Leben, wie ich es kannte. Der Geniekult war so groß wie die dazugehörigen Mystifikationen rund ums Schreiben.
Nach und nach beschloss ich, oder verstand, dass es sich beim Schreiben um mühsame, harte Arbeit und Plackerei handelt, etwas, worin man sich üben muss, um besser zu werden, ebenso selbstverständlich, wie man davon ausgeht, dass Sportler hart trainieren, um die eigenen Mittel beherrschen zu lernen. Aus diesem Grund habe ich, seit ich Schriftstellerin wurde, alles getan, um das Schreiben zu entmystifizieren, nichts Unklares zu schreiben, was ich selbst nicht durchdringe oder sinnvoll wiedergeben kann. Schreiben und lesen sind fantastisch, eine Bereicherung, aber daran ist nichts Seltsames, nichts Unbegreifliches, sondern beides ist notwendig fürs abstrakte Denken, diese menschlichen Besonderheit, und eine wirkungsvolle Art und Weise, sein Wissen und die eigenen Beobachtungen in Zeit und Raum verfügbar zu machen.
Du fragst dich, ob Gesellschaften auf eine ebensolche Weise besser werden können, durch Training, Anstrengung und indem das Magische und das Mystische entthront werden. Das denke ich tatsächlich, und so war es ja auch in den letzten Jahrhunderten. Der Respekt für die Rechte eines jeden Menschen ist mit der Zeit dramatisch gestiegen und die Gewalt hat abgenommen, sagt die Statistik – auch wenn es im Augenblick nicht so scheint. Gesellschaften können besser werden, vorankommen, wenn wir „voran“ als einen Zustand reduzierter Gewalt, geringeren Zwangs und größeren Respekts für die Wünsche der Einzelnen definieren. Aber das kann nur über die Einzelnen selbst geschehen. Gesellschaften sind nichts anderes als Individuen, die erkennen, welche Institutionen, Spielregeln und wieviel an gegenseitigem Respekt es für ein gemeinsames Miteinander und die Zusammenarbeit der Menschen braucht. Sobald der Gedanke des gegenseitigen Respekts und des Respekt für jeden Einzelnen in unseren Köpfen Wurzeln geschlagen hat, verändert das unser Handeln in der Tiefe.
Diese Zeilen schreibe ich auf Öland, einer Insel vor Schwedens südlicher Ostküste. Die Sonne scheint jeden Tag, Schweden liegt im Urlaubsdämmer. Auf unserem Grundstück leben einige Amselfamilien, die im Gras nach Würmern suchen. Es gibt auch Kleiber und Eichelhäher, Ringeltauben und Rotkehlchen und viele andere Arten. Eichhörnchen jagen sich im Garten. In Kalmarsund glitzert das Wasser. Es ist schön, es ist idyllisch. Wenn es die Nachrichten nicht gäbe, würde alles sehr friedlich aussehen. Aber in diesem Sommer hört der Schrecken nicht auf. Vier Terroranschläge in Deutschland in nur einer Woche und gestern ein weiterer in Frankreich, die Enthauptung eines 86jährigen Priesters. Ich frage mich, welche Vorstellungen sich die Täter von ihrem Feind machen, was sie sich eingeredet haben, um in der Lage zu sein, einen solchen Terrorakt auszuüben. Niemand macht etwas Derartiges, ohne es rechtfertigen zu können, was also hat der Feind, den sie so willkürlich angreifen, ihrer Meinung nach getan, um so groteske Handlungen motivieren und legitimieren zu können? Es wäre interessant, irgendwann einen der Täter dazu hören zu können. Jeder Mensch motiviert ja seine Handlungen auf irgendeine Weise, aber da die Polizei die Täter jedesmal erschießt, wie die Kommissare im Fernsehkrimi, hören wir ihre Erklärungen nie, was bedauerlich ist.
Es scheint uns, als befänden wir uns in einem Dampfkochtopf, von dem erst der Deckel fliegen muss, bevor sich die Menschheit wieder vereinen, zur Vernunft kommen und in eine ruhige Phase übergehen kann.
Du erwähnst die Verantwortung der Schriftsteller. Meiner Auffassung nach sollten Schriftstellerinnen und Schriftsteller das tun, was sie können. Sie sind nicht zu irgendetwas verpflichtet. Von Politik verstehen sie nicht mehr als andere. Möglicherweise schreibt man aus Interesse daran, wie Sprache und Handeln zusammenhängen oder um die Manipulationen der Sprache nachzuweisen und zu dekonstruieren oder weil man das Leben der Menschen mit größerer Aufmerksamkeit beobachtet. Manche Schriftsteller sind geschickt darin, vom Persönlichen aufs Allgemeine zu schließen, oder jedenfalls auf das, was für viele relevant ist. In der öffentlichen Debatte sollte es um etwas anderes gehen als um das Subjektive; sie ist kein privates Tagebuch. Da sollte es um etwas gehen, das mehr Menschen betrifft als nur mich selbst. Und dazu können Schriftstellerinnen eventuell beitragen. Für mich ist es nur natürlich, mithilfe des Schreibens die Dinge zu kommentieren, die mir auffallen, vorausgesetzt, sie haben für mehr Menschen Gültigkeit als nur für mich. Aber es spielt keine Rolle, in welcher Form das geschieht, solange sie für die Allgemeinheit zugänglich ist. Wissen gilt es zu teilen. Es ist dazu da, es mitzuteilen, und schlicht nichts, wenn man es allein besitzt.
Grüsse,
Lena

 

Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel.

Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Visby, Mitte August

Liebe Lena,

dein Brief erinnerte mich an eine Äußerung von Rosa Luxemburg, auf die ich als Jugendliche stieß. Damals machte sie mir den Unterschied zwischen einem Ideal und einer Ideologie klar: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Später, in den 1990er Jahren, war ein Satz wie dieser out, schien überholt, selbstverständlich. Und nun steht Freiheit wieder zur Diskussion, ihre Beschneidungen und Einschränkungen, ihr Erhalt in einer offenen Gesellschaft. Obwohl es für die meisten immer noch selbstverständlich ist, anderen nicht mit Zähnefletschen und Mordgelüsten zu begegnen, ist eines der Themen, über die wir unsere Vorstellungen von Freiheit in Schweden wie in Deutschland derzeit am häufigsten verhandeln, der Respekt. Auch du sprichst davon. In deinem zweiten Brief forderst du Respekt sogar gegenüber Haltungen ein, die andere Menschen herabwürdigen, sie abwerten.
Das beschäftigt mich, auch hier in Gotland, während meiner langen Läufe auf Visbys Kalksteinklippen und am Strand – einer dieser wunderbaren nordischen Strände, die selbst in der Hochsaison nicht überfüllt sind und genügend Platz im Sand bieten, den Freiraum der anderen zu respektieren.
Was ich respektiere, erkenne ich an, und ich füge mich den Konsequenzen. Ich laufe am Strand noch ein paar Meter weiter, obwohl ich Luftmatratze, Handtücher, Buch, Windschutz und Getränk zu schleppen habe.
Sich fügen: Bei bestimmten Dingen unvermeidlich. Die Gezeiten. Die eigene Vergänglichkeit. Bei anderen Dingen sogar gewünscht wie den Entscheidungen geliebter Menschen. Sich aber in das sprichwörtliche Schicksal zu fügen, wenn es von der Willkür anderer abhängt? Ist es nicht persönliche Willkür, die Lebensweise anderer herabzuwürdigen?
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, an einer Reise des Außenministers nach Abuja teilzunehmen. Während der „Chef“, wie ihn seine Mitarbeiter sportlich nannten, zu politischen Gesprächen verabredet war, traf die Kulturdelegation, zu der auch ich gehörte, Künstler_innen, NGO’s, Journalist_innen und besichtigte Sehenswertes. Vor der nigerianischen Nationalmoschee empfing uns ein freundlicher Mensch – nein, nicht einfach „Mensch“. Er war ein Mann, jedenfalls wies er sich mit seinem Handschlag als solcher aus: Nachdem er dem deutsch-nigerianischen Rapsänger zu meiner Linken die Hand geschüttelt hatte, rückte er mit seinen sanft geöffneten Fingern nahtlos an mir vorbei zum Diplomaten rechts von mir.
Nicht einmal sein Blick streifte mich. Da musste sehr viel Horizont an meiner Stelle sein, eine Lücke zwischen Rapper und Diplomat, leerer weißer Raum, aus dem meine grüßend ausgestreckte Hand ungesehen herausragte.
Ich trug an diesem Tag eine helle, weite Hose und eine Bluse, langärmelig, gebügelt, frisch, kein Schmutzstreifen, kein Fleck, vielleicht war sie ein wenig overdressed für die nigerianische Hitze. Und doch wollte ich im Erdboden versinken vor Scham. Als wäre etwas Verbotenes an mir, als stünde ich nackt da. Der Rapper hatte nichts bemerkt, dem Diplomaten schien es eng zu werden in der Haut, er ruckte an seiner Krawatte herum, die ihn als Mann auswies, als würde sie scheuern, als schämte auch er sich, vielleicht dafür, dass ihm die besondere Wertschätzung schmeichelte, die ihm auf diese Weise zukam. Oder schämte er sich schon für mich?
Oben auf der Klippe mit Blick weit über die Ostsee, auf dem Galgberget mit den steinernen Säulen, wo im Mittelalter die Mörder, Diebe und Ehebrecher gehängt wurden, so dass man sie in ganz Visby tagelang als abschreckende Beispiele sah, wird mir klar, dass man, um Respekt zu haben, dazu in der Lage sein, sich zuweilen also erst Respekt verschaffen muß. In Abuja war es irrelevant, ob ich die Gesinnung dieses Mannes respektierte oder nicht. Dazu hätte ich als Mensch wahrnehmbar sein müssen.
Sich den Konsequenzen einer Haltung zu fügen, die andere abwertet, kann zur Selbstabschaffung führen. Solange ich also eine Stimme habe, werde ich herrlich respektlos sein gegenüber allem, was mich unsichtbar machen, vernichten will.
Es ist schön Anfang August auf der Insel Gotland. Öland ist nicht weit von hier, das Wetter so, wie du es auch erlebt hast. Ein ungewöhnlich warmer Sommer. Eine Frau, die gestern ein Thermometer in die Ostsee hielt, dachte, es wäre kaputt, weil es unwahrscheinliche 25 Grad Wassertemperatur anzeigte.
Auf Inseln denkt man vom Wasser her. Das Wasser gibt den Rhythmus vor mit Gezeiten, Strömungen, Winden, wechselndem Licht. Es ist die Verbindung zur nächsten Küste. Man lebt von dem, was das Meer bringt, an Neuem, an Fremdem, denkt stärker in Übergängen, wo das Land ins Meer, das Meer in den Horizont übergehen. Von Gotlands Ostküste aus kann man beinahe Lettland sehen. Die Ostsee stellt die Verbindung beider Küsten her, die ebenso weit oder nicht weit voneinander entfernt sind wie die Westküste Gotlands vom schwedischen Festland. Denke man eine Landkarte vom Wasser aus, schreibt Robert MacFarlane, Autor von den britischen Inseln in seinem Buch „Alte Wege“, lösen sich Staatsgrenzen wie von selbst auf.
MacFarlane ist meine Sommerlektüre, und mir gefällt die sanfte Intervention, die seine kluge, essayistische Erkundung alter Pfade ungewollt in die hysterisierte EU-Debatte unternimmt. Denke man sich die Landflächen einer Landkarte leer, wie zuvor das Meer, überziehe dieses aber mit Seewegen und Meeresstraßen, verändere sich der Blick auf Europa radikal; das Zentrum werde leer, die Peripherie zentral. „Die nach außen gerichteten Küstensiedlungen – von den Shetland- und den Orkney-Inseln bis hinunter nach Galicien – gehören nicht mehr zu bestimmten Staatsgebieten, vor denen sie zufällig im Meer liegen, sondern werden zu einem eigenständigen atlantischen Gebiet, das Kultur, Technologien, Handwerkspraktiken und Sprachen teilt. Ein verstreuter abendländischer Kontinent… vereint durch die gemeinsame Anrainerschaft an ein und denselben Ozean.“
Kulturelle Identitäten werden MacFarlane zufolge über Jahrhunderte hinweg aus der Landschaft geschmirgelt. Denken, Fühlen und Handeln prägen sich an den Küsten oder auf Inseln anders aus als im Inland oder in den Bergen. So verbindet nicht abstrakte Nation, sondern das tiefe, konkrete Erlebnis ähnlicher geologischer und botanischer Beschaffenheiten die Menschen. Wie schnell sich da auch ein „echter Brite“ in die landschaftliche Färbung hinein auflöst, die ihn durchzieht…
Ich laufe durch wilden Wachholder, an Ebereschen und Schlehen vorbei, am Wegrand Frauenschuh und wilde Orchideen, über Gras, Sand und helles Gestein, dieser wettergeschliffene Boden, der sich mir eingeschrieben hat, seit ich zum ersten Mal hier war. Ich liebe den Geruch nach Salzwasser, von der Sonne aufgewärmtem Tang, Wachholder und Kalkstein, der zugänglichsten aller Gesteinsarten, mit einer Oberfläche, die beinahe weich ist, wenn ich mit der Hand darüber streiche. Und doch trotzt dieser Stein dem nördlichen Klima so, dass Visbys imposante Stadtmauer seit dem Mittelalter nicht zerbröselt, sondern fast vollständig erhalten geblieben ist.
Vielleicht ist es kein Zufall, das ausgerechnet die Bewohner einer Kalksteininsel das Prinzip von undfallenhet seit Jahrhunderten verinnerlicht haben. Nachgiebigkeit und die Fähigkeit zu verhandeln und Kompromisse zu schließen, sind Eigenschaften, die mit diesem Gestein zu korrespondieren scheinen. Dahinter steckt eine Formbarkeit, die zugleich Ausdruck einer inneren Stärke ist, weil sie Respekt gegenüber dem Ansinnen anderer voraussetzt, auch wenn es nicht den eigenen Interessen entspricht. Undfallenhet, was, wie mir scheint, einst von Gotland aus ins Bewußtsein der gesamten schwedischen Gesellschaft gesickert ist, hat dafür gesorgt, dass Visby eine der wenigen mittelalterlichen europäischen Städte ist, die nie zerstört wurden. Aber das wirst du besser wissen als ich.
Auf den Klippen wurzeln Kiefern; niedrigwüchsige, knorrige Bäume, die mich an die Landschaft erinnern, in der ich aufwuchs, obwohl die Kiefern Brandenburgs in Reih und Glied und dünn wie Spargel in die Höhe schießen. Und wenn ich über die sandigen brandenburgischen Waldwege laufe, rufen diese Kiefernghettos wiederum den Vergleich mit Gotland auf. Denn nicht nur die Landschaft der Kindheit hat mich geprägt. Oder anders; geprägt hat mich, was ich als junge Erwachsene nördlich der Ostsee fand. Und erst diese Prägung brachte überhaupt ein Bewußtsein für so etwas wie eine Kindheitslandschaft hervor. Man vergisst nur schnell, wie vielfältig und ungeordnet die Einflüsse sind, wenn man immer vom Ursprung her denkt, wenn der Herkunft eine solche Bedeutung beigemessen wird.
Dabei überlagern sich landschaftliche Prägungen, so, wie Sprachen, Fragmente unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Überzeugungen, verschiedenerlei Begehren und Vorstellungen vom eigenen Körper einander in einem einzelnen Menschen überlagern, widersprechen und ergänzen. Man ist nie nur das eine oder das andere, sondern vieles zugleich. Zu Kalkstein und Wachholder dieser besonderen Insel jedenfalls habe ich eine „tiefe, beständige Bindung“, wie MacFarlane sie auch bei erinnerten Landschaften sieht, die intensiver werden könne, je ferner man ihnen sei.
Jene blinde Besessenheit, die Terroristen, aber auch Autokraten zueigen ist, dürfte Menschen mit einem Gespür für die komplexe Beschaffenheit ihrer inneren Landschaften grundsätzlich fremd sein.
Die Rechtfertigungen dieser Täter von Paris, München oder Brüssel interessieren mich nicht so sehr wie dich. Das liegt wohl daran, dass ihre Motive schnell auf das eine oder das andere von genau zwei Erzählmustern zusammenschnurren, und da sind wir historisch gesehen nicht vorangekommen: Entweder hält ein Gott, egal welcher Machart, oder eine Ideologie die Befugnisse zum Töten bereit, oder es ist die jahrtausendalte Saga von den Entrechteten, die sich an einem bösen, übermächtigen Imperium rächen wollen, welcher Gestalt auch immer.
Außerdem kommt es mir so vor, als ob wir unentwegt mit Täterprofilen und psychologischen Studien und Befragungen zu Motiven und Begehren der Täter beschäftigt sind. Möglicherweise ist das allerdings die spezifische Herangehensweise einer Gesellschaft wie der deutschen, die vor nicht allzu langer Zeit selbst ein Täterprofil besaß.
Aber da es dich interessiert; ich vermute, dass Breivik in seiner menschenrechtsgetreuen Zelle schon an seinen Memoiren schreibt. Und die Aussagen und Briefe der beiden Mörder, die 1959 in Kansas eine Familie abschlachteten, reizten Truman Capote zu dem kühnen Unterfangen, einen nichtfiktionalen Roman zu schreiben. „In Cold Blood“/ „Kaltblütig“ bezieht sich zu einem großen Teil auf den O-Ton der Täter, zu denen Capote noch in der Todeszelle Kontakt hatte; natürlich in bearbeiteter Form, wodurch er schließlich den Zustand einer ganzen Gesellschaft spiegelte. Das Literarische halte ich aber auch für aussagekräftiger als das sogenannte Authentische, das sich schnell in Floskeln und Platitüden erschöpft.

Sei herzlich gegrüßt!
Antje

27. September 2016 – Brief nach Potsdam versendet (Andersson an Strubel)

Stockholm, den 27. September 2016
Hej Antje,

schon als ich deinen letzten Brief erhielt, habe ich mich gefragt, was du damit meinst, dass ich „Respekt einfordere gegenüber Haltungen, die andere Menschen abwerten“. Ich habe meinen zweiten Brief daraufhin durchsucht, aber nichts gefunden. Was ich fand, ist ein Abschnitt darüber, dass ich mir ein Europa erhoffe, in dem die Präferenz der einen nicht als eine Forderung an die anderen verstanden wird; außerdem ein Europa (und eine Welt), in der man Respekt für eine Präferenz haben kann, die andere abwertet, aber nicht allgemeinen Respekt für den eigenen Standpunkt einfordern kann.
Wie kann das so verstanden werden, als würde ich Respekt einfordern gegenüber Haltungen, die andere geringschätzen? Es gibt einen Unterschied zwischen dem Recht, einen Standpunkt zu pflegen, und dem Standpunkt als solchem.
„Das, was ich respektiere, erkenne ich an“, schreibst du, und darauf können wir uns einigen. Ich erkenne an, dass die anderen die Welt nicht so sehen wie ich, und ich erkenne ebenfalls das Recht darauf an, Propaganda für Haltungen zu betreiben, die ich nicht schätze. Du sprichst außerdem davon, dass man sich Konsequenzen füge, sobald man etwas respektiere und es damit anerkenne. Die Konsequenzen einer Gesellschaft von Menschen, die die unterschiedlichsten Präferenzen und Werte haben, ja, denen füge ich mich, allein schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb, schließlich können beim nächsten Mal meine Präferenzen an der Reihe sein, verboten oder gebranntmarkt zu werden. Aber ich sehe nicht, dass es dasselbe ist, wie sich Konsequenzen zu fügen, die daraus resultieren, dass eine abwertende Haltung Verbote entsprechend ihrer Idee generieren kann.
Ebenso wenig wie sie mein freies Denken und die Formen, in denen es sich äußert, verbieten können, kann ich ihr Denken verbieten. Diese Konsequenz scheint mir die einzig plausible zu sein. Zieht man keine klare Linie zwischen Reden und Handeln, gibt es keine Freiheit in einer Gesellschaft.
Zur Freiheit. Aus deinem Zitat von Rosa Luxemburg „Freiheit ist Freiheit der Andersdenkenden“ geht nicht hervor, ob sie der Aussage kritisch gegenübersteht oder ob sie sie als Spiegel dessen sieht, was für sie wahr ist und sein wird. Ich weiß nicht, ob sie mit dieser Aussage Freiheit in Frage stellt oder sie verteidigt. Aber abgesehen davon, ist es tatsächlich schwieriger für eine Gesellschaft, die freie Meinungsäußerung Andersdenkender zu garantieren, als die der Mehrheit. Wenn alle der gleichen Auffassung wären und ähnliche Einstellungen hätten, wäre es nicht nötig, Meinungsfreiheit zu thematisieren und sich damit auseinanderzusetzen.
Um genau diese Einstellungen der Andersdenkenden geht es mir. Problematisch daran ist, dass die, die anders denken, selten jene symphatisch finden, die sie als solche bezeichnen, ohne sie aus dem Weg zu räumen, und die intellektuelle Anstrengung besteht darin, dennoch ihr Recht, sich zu äußern, zu respektieren und miteinander umzugehen, anstatt sie als sanitäre Unannehmlichkeit zu sehen, die beseitigt oder unter den Teppich gekehrt werden muss.
Ich glaube nicht, dass man den Begriff der Freiheit so verkomplizieren muss, wie es gern getan wird. Freiheit ist die Gleichheit vor dem Gesetz, sind gleiche negative Rechte gegenüber dem Staat und den anderen Staatsbürgern, plus der Tatsache, dass meine Rechte keine Einschränkung deiner ebenso großen Rechte darstellen dürfen. Es gibt eine fundamentale Formel für die normative Auslegung menschlicher Interaktion, die weit gefasst ist, auch wenn die Auslegung von Rechten nie einfach ist. Sie beruht auf der Freiheit von Zwang und Gewalt.
Ich stolpere über deine Auffassung von undfallenhet in diesem Zusammenhang. Dass Kompromiss und Verhandlung undfallenhet ausmachen sollen, was doch im Wesentlichen ein negativer Begriff ist. (undfallenhet hat ein breites Bedeutungsspektrum: Nachgiebigkeit, Rücksicht, Fügsamkeit, Gefügigkeit, Wendigkeit, Entgegenkommen. Anm.d.Übers.). In einer Verhandlung ist man zu zweit, und somit scheint es mir, dass undfallenhet die Voraussetzungen nicht erfüllt, auch wenn undfallenhet die Folge einer Verhandlung sein kann. Sondern Kompromisse zu schließen und zu verhandeln sind im Gegenteil der Erkenntnis geschuldet, dass man nicht allein auf der Welt ist, sondern Rücksicht auf die Rechte der anderen nehmen muss.
Dem bist du auf der Spur, wenn du schreibst, dass man die Ansprüche der Gegenseite respektieren muss, auch wenn sie nicht mit den eigenen Interessen übereinstimmen. Das ist einfach so, aber nichts anderes bedeutet es, Mensch unter Menschen zu sein. Also ist es doch nicht undfallenhet, zu verstehen, dass die anderen Rechte haben, Wünsche und Präferenzen, die in Konflikt mit den eigenen stehen, und man aus diesem Grund nicht alles durchsetzen kann, was man will!?
Interessant, was du über Landschaft schreibst, über geologische und botanische Gegebenheiten als Basis einer emotionalen Identität. Ich teile deine Auffassung, dass Identität durch die unterschiedlichsten Dinge geformt wird, und Landschaft gehört möglicherweise dazu. Es gibt eine bestimmte Art der Vegetation, die ich sofort als schwedische erkenne, wenn ich sie auf einem Bild sehe, und mir vertraut ist. Und die Landschaft der Provance beispielsweise mit ihren rollenden Hügeln und dem schönen lila Lavendel ist zweifellos schön, aber zugleich fremd. Nicht auf sie ist mein Blick seit der Kindheit gefallen. Und erwachsen zu werden, heisst zu begreifen, dass man kein Kind mehr ist.
Aus irgendeinem Grund haben wir in diesem Briefwechsel ein paar Verständnisschwierigkeiten. Ich würde nie das Authentische dem Fiktiven vorziehen, wenn ich sage, dass mich die tatsächlichen Beweggründe eines Terroristen beschäftigen, die, mit denen er sich vor sich selbst rechtfertigt, die er mit seinem Gewissen vereinbart und die ihn dazu bringen, gegen alle Konventionen und Vereinbarungen bezüglich menschlichen Verhaltens zu verstoßen. Und wenn ich das sage, meine ich selbstredend jenseits von Floskeln. Natürlich weiß ich, dass Terroristen an Gott und die Schrift glauben. Aber das ist bloß der Anfang. Von da aus gilt es weiterzugehen, tiefer einzudringen in die Auseinandersetzung, die er mit sich selbst führte, die erst mehr Raum einnahm, bevor er zur Tat schritt und sich entschloss, sich aus der menschlichen Gemeinschaft auszuschließen.

Ebenso interessiert mich, wie die Kommunisten in der DDR über das dachten, was sie geschaffen hatten, jenseits der Parolen, wie sie es im tiefsten Inneren begründeten angesichts der Zielkonflikte, von denen sie wussten und deren Resultat sie mit eigenen Augen sehen konnten.
Zu erkennen, wie das Weltbild des Hasses oder die Praktiken des Totalitären aussehen, bedeutet nicht, sie zu akzeptieren. Und Fiktion beinhaltet ebenso viele Floskeln wie alles andere. Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Schreiben eines Romans über einen Terroristen, der dessen Beweggründe begreiflich macht (Mohsin Hamid ist das gut gelungen) oder dem Führen eines umfassenden Interviews. Fiktion, wie ich sie sehe, ist nicht auf diese Weise abgegrenzt. Eine authentische oder alltägliche Äußerung kann zu Literatur werden, wenn die Form oder der Kontext wechseln.
Eines der faszinierendsten Dinge, die es gibt, ist das Lesen von Polizeiverhören. Das kann große Literatur sein, auch wenn das nie die Absicht war, weil sich alles um Zusammenhänge, Generalisierbarkeit und Gültigkeit dreht und den Interessen und Wahrnehmungen der Leser entgegenkommt.
Hoffentlich konnte dieser Brief klarer machen, was vorher unklar war.
Herzliche Grüße!
Lena
Aus dem Schwedischen von Antje Rávic Strubel.

 

30. Oktober 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Potsdam, Ende Oktober 2016

Noch ein Letztes, liebe Lena, obwohl unser Briefwechsel beendet sein sollte.
Die veranschlagte Länge haben wir längst überschritten. Im literarischen Schreiben halte ich viel von selbstauferlegten Regeln und Formvorgaben. Grenzen sind nötig, um sie überschreiten zu können, sagte schon Gertrude Stein, die die amerikanische Literatur in die Moderne und mich oft in helle Begeisterung versetzte. Bei Briefen aber ermöglicht gerade die Offenheit, das Unwägbare, den lebendigen Austausch. Zwischenfragen und Widerspruch setzen voraus, dass der Schreibfluss nicht begradigt ist wie die Havel.
Mit dem Ende unserer Briefe bin ich jedenfalls nicht glücklich. Wie geht es dir?
„Tricky“ war das Wort, das jemand auf der Frankfurter Buchmesse aufwarf, als ich am Stand des Fernsehsenders arte mit zwei Kolleginnen das Projekt „Fragile“ vorstellte. Das sollte heißen, dass wir uns mit diesen Briefen ganz schön was vorgenommen haben. Stimmt. Der Versuch, öffentliches Sprechen als privaten Briefwechsel zu inszenieren, ist tricky. Der Gestus des Briefes ist ein intimer, der öffentliche Austragungsort macht den Brief jedoch auch zu einem Essay, der nicht adressiert und auf Antwort aus ist. Schon die Form unseres Schreibens ist hybrid.
Tricky ist auch, dass wir beim Schreiben, wie Kathrin Röggla sagte, „zur Langsamkeit zurückfinden müssen“, aber zugleich Ereignisse thematisieren, die im Tempo einer sich zusehends beschleunigenden Gegenwart geschehen.
Tricky ist, dass du und ich uns noch nie begegnet sind. Wir haben kein Gespür für die Mimik, die Körpersprache, die Art der Betonung, den Klang der Stimme, die das Gesagte noch in der Vorstellung einfärben können, ich habe keine Ahnung, ob du an Stellen lachen würdest, die ich aus Unkenntnis für ernst halte.
Alles, was wir haben, ist das Vertrauen darauf, uns einander verständlich zu machen, und eine Dringlichkeit zu sprechen. Ich wollte mit dir sprechen. Mit Sezierfreude kommentierst du politische und gesellschaftliche Ereignisse in einem Land, das mir mit seinen flachen Hierarchien, den geringen Klassenunterschieden und einem offenen, weitgehend gleichberechtigten Zusammenleben – auch ein Ergebnis des „Moderneprojekts“ – anziehend erschien und nun innerhalb weniger Jahre die Schotten so dicht gemacht hat, dass eine menschenverachtende Partei wie die Schwedendemokraten mit 13 Prozent ins Parlament einziehen konnte. Das war und ist mir noch unheimlicher als der sonstige Rechtsruck in Europa.
Die Dringlichkeit, dir noch einmal zu schreiben, rührt unter anderem daher, dass ich fürchte, die „klare Linie“ zwischen Reden und Handeln, die du in deinem letzten Brief zur Voraussetzung für Freiheit in einer Gesellschaft erklärst, ist gar nicht so klar. (Gibt es sie überhaupt? Du hast Austin gelesen, somit weißt du, dass ein Sprechakt nur funktioniert, weil das Sprechen selbst Handlung ist.) Ein Großteil der Politik besteht aus symbolischem Handeln (Körpersprache, Bekenntnisse), Gesetze haben Unschärfen aufgrund der Vieldeutigkeit der Worte, in denen sie verfasst sind.
Wenn ich dich richtig verstehe, schreibst du, in einem Rechtsstaat könne das Denken der einen nicht über ein Verbot (=Handlung) durch die anderen aus der Welt geschafft werden. Da gebe ich dir recht. Aber muss man ein Denken verbieten, um es auszulöschen? Reicht es nicht, es zu marginalisieren und zu verunglimpfen? Du hast diesen Mechanismus in einem deiner Brief angedeutet, als du davon erzähltest, wie Menschen aus Angst davor, ausgestossen zu werden, lieber allgemein akzeptierte Standpunkte einnehmen als kontroverse. Gehen hier nicht Reden und Handeln Hand in Hand? In demokratischen Gesellschaften funktionieren Ein-und Ausschlussmechanismen über die Organisation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (das Ausgeschlossene wird ins Unsichtbare verbannt). In Autokratien und Diktaturen dagegen wird das Ausgeschlossene sichtbar gemacht, indem es verboten und die Ausgeschlossenen eingesperrt, gefoltert, gemordet werden. Was vorher soziales Stigma war, wird jetzt funktionalisiert als Mittel zum Machterhalt.
Ich sehe hier weniger einen Unterschied zwischen Reden und Handeln, als einen Unterschied in der Art der Behandlung. Die Übergänge sind zuweilen fließender, als man möchte. (Noch will die Afd in Thüringen Homosexuelle nur zählen, aber flackert da nicht schon der rosa Winkel im Hintergrund?)
Wahrscheinlich habe ich dich an dieser Stelle nicht richtig verstanden. Denn in einem deiner gesellschaftskritischen Artikel in der Zeitung Dagens Nyheter beschreibst du, wie sich die Schwedendemokraten des postkolonialen Diskurses bedienen und sich als Opfer von Kolonialisierung darstellen; die regierenden Parteien im Verbund mit Migranten hätten eine „Fremdherrschaft“ errichtet, von der es Schweden zu befreien gelte. In dieser Verkehrung ist für mich eine Handlung erkennbar, die auf die Umwertung von Werten zielt: die Aushöhlung des Verständnisses von einem demokratisch gewählten Parlament (kurz: Abschaffung von Demokratie; „Tipp an, sie fällt“).
In meinen Augen folgt das einer ähnlichen Strategie wie die Aushöhlung des Begriffes der Meinungsfreiheit. Auch das fängt mit Gerede an. Zu einer bewussten Handlung wird es, weil man seine Wirkung genau kalkuliert. Wenn rassistische, ausländerfeindliche, homophobe oder sexistische Hetze unter dem Label der freien Meinungsäußerung präsentiert werden, wird das Konzept von Meinungsfreiheit pervertiert. Die Hetze spricht denjenigen, gegen die sie sich richtet, gerade das Recht, sich zu äußern, ab (wie überhaupt jedes Recht). Hier wäre für mich eine klare Linie zu ziehen (also schon zwischen Rede und Rede). Die „verbale Vernichtung“ Einzelner zielt auf die Freiheit Aller, die überhaupt nur als „Freiheit der Andersdenkenden“ zu haben ist, weil jeder Einzelne anders denkt als die anderen.
Und letztendlich wissen wir als Schriftstellerinnen, wie Worte Wirklichkeiten schaffen. In welcher Welt wir leben, hängt davon ab, welche Worte wir benutzen.
Ganz sicher missverstehen wir uns hier oder da! Tricky ist ja auch, dass wir uns in Übersetzungen lesen. (Dass ich deine Briefe übersetze, macht die Sache noch vertrackter). Dabei dachte ich, die sprachliche Verschiedenheit würde aufgewogen dadurch, dass uns neben dem Schreiben die Begeisterung fürs Skilaufen und etwa die gleiche Generation verbinden und wir in Ländern leben, die kulturell nicht Lichtjahre voneinander entfernt, sondern sich auf den ersten Blick recht ähnlich sind!
„Tricky“ beschreibt eine komplizierte, aber offene Situation. Das Wort sagt nichts darüber, wie sie ausgeht. Es beschreibt eine spannungsgeladene Schwebe, die sich in alle Richtungen entwickeln kann. Spannung ist produktiv. Am arte-Stand auf der Buchmesse gab es Einigkeit immerhin darin, dass der Dissenz nicht unwesentlich ist für den Versuch, einander zu verstehen.
Als ich dir über undfallenhet schrieb, begab ich mich als Nichtmuttersprachlerin auf ziemlich dünnes Eis. Als Schriftstellerin nahm ich mir die Freiheit, jener Schattierung des Wortes nachzuspüren, die es hatte, als ich es auf einer Kalksteinklippe zum ersten Mal hörte. Das Unangenehme an undfallenhet, die Beschwichtigung, kam erst später hinzu, das Abwiegeln, die Verharmlosung, das fatale „Unter-den-Teppich-kehren“. Anfangs war da die mildere Schattierung des Sinns: Nachgiebigkeit. Nachgiebig wie Kalkstein. Mir gefällt das Schillern sprachlicher Mehrdeutigkeiten; sie versetzen die Wirklichkeit in die Möglichkeitsform. Ich muss an Lucia Berlin denken. In einer ihrer Erzählungen verliebt sich die Ich-Figur in einen Mann, der heroinabhängig ist. „Ich wusste damals nicht genau, was das hieß. Heroin hatte für mich eine schöne Bedeutung… Jane Eyre, Becky Sharp…“
Der Mensch ist keine Gesteinsart. Und doch schien mir die Ableitung eines menschlichen Vermögens, der Nachgiebigkeit, aus der besonderen Beschaffenheit der Gotländischen Geologie mit Blick auf Visbys Geschichte eine Möglichkeit, das Positive an diesem Vermögen hervorzuheben.
Nachgiebigkeit oder Geschmeidigkeit; diese Fähigkeiten, so scheint mir, können in einer Verhandlung entscheidend sein dafür, überhaupt einen Schritt zurücktreten zu können. Eine emotionale Klugheit, die die rationale Erkenntnis, dass eigene Rechte nur unter Berücksichtigung der Rechte Anderer zu haben sind, erst in eine angemessene Handlung übersetzbar macht. Ich würde diese Klugheit gern öfter als Eigenschaft von jenen Menschen erwartet sehen, die hauptamtlich für die Geschicke dieses Planeten zuständig sind. Noch immer gelten eher Durchsetzungsstärke, Härte, Standfestigkeit, Tatkraft und, ja, auch Kampfeswille als mehr oder weniger heimliche Ideale. Einfühlungsvermögen? Geduld? Sanftmut?
Möglicherweise reden wir aneinander vorbei, weil das für dich kein Thema ist in einer Gesellschaft, in der gern so lange verhandelt wird, bis wirklich alle mit der Lösung einverstanden sind. (Ich vermute, dass das mit den Schwedendemokraten im Parlament ein Problem sein könnte…).
In Lausitzer Tagebauen beispielsweise hat dieses Vermögen zu Verstimmungen geführt, als Vattenfall noch Geld in schmutzige Braunkohle steckte. „Die wollen immer Händchen halten und alles ausdiskutieren“, sagte ein kerniger Brandenburger Ingenieur über seine schwedischen Vorgesetzten, als wir im Staub des braunen Flözes standen. „Im Tagebau kannste aber nicht immer diskutieren, da musste auch mal sagen, wo’s langgeht.“
Auf die Gefahr hin, noch mehr verunklart zu haben, grüßt dich dennoch unverzagt,
Antje
Postskriptum: Wir sind Schriftstellerinnen. Für mich bedeutet das, zu erzählen, wie es sein oder gewesen sein könnte. Truman Capotes Paradox eines nichtfiktionalen Romans verdeutlicht, wie unwirklich die klare Trennung von Fiktion und Wirklichkeit ist. Nichts liegt mir ferner als der Gedanke, ausgerechnet eine Schriftstellerin würde das vorziehen, was man das „Authentische“ nennt. Mir treten „authentische“, also unbearbeitete und mit Echtheitszertifikat versehene Auskünfte, oft als ideologisch erlernte entgegen, die sich in Stereotypen erschöpfen, eine Art leeres Sprechen, das von zwei grundsätzlichen Erzählmustern befeuert wird bei jenen, die sich, wie du sagst, „aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen“ (und einem totalitären System angehören?).
Angesichts der Gemordeten, die vielleicht Interessanteres zu erzählen gehabt hätten, fehlt mir die soeben beschworene Geduld für die Rechtfertigungen der Mörder. Aber ich habe Primo Levis Plädoyer für die „existenzielle Urfrage“ nach dem Warum im Kopf. Deshalb bin ich froh, dass du fragen möchtest, wenn ich es schon nicht tue. Im „Warum?“ sieht Levi die Grundlage jeden Rechtssystems und in der Verweigerung einer Antwort „die Verachtung alles Menschlichen, die verbale Vernichtung…. “ Im Fragen äußert sich also ein Grundanspruch menschlicher Würde. Und solange wir davon ausgehen, dass uns geantwortet wird, sehen wir uns nicht totaler, terroristischer Willkür ausgesetzt.