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Antje Ravic Strubel Lena Andersson

August 16th, 2016 – Translations will be available soon.

May 31st, 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Ende Mai, Rheinsberg
Liebe Lena Andersson,

ich schreibe dir aus Rheinsberg, einem kleinen Ort im nördlichen Ostdeutschland, wo ich einige Monate ein Zimmer mit Ausblick für mich allein habe. Rheinsberg, vom tiefen Grün Ruppiner Seen und Wälder idyllisch umwachsen, ist eines jener Städtchen, die nur am Wochenende geöffnet zu haben scheinen. Dann nehmen Berliner in Ausflugslaune die Cafés an der Seepromenade in Beschlag, um gebratenes Zanderfilet oder Schwedeneisbecher zu bestellen; dieses früher so begehrte Eis mit Apfelmus und Eierlikör. Schwedenbecher ist eine Erfindung einfallsreicher DDR-Gastronomen. Heute wissen nur noch Wenige von diesem speziellen Geschmack der Sehnsucht, einer Sehnsucht nach dem unerreichbaren, besseren Land. Und für die Wenigen ist die Sehnsucht der Ernüchterung gewichen.
Treibt die Ausflügler das Verlangen nach Geschichte um, beschauen sie sich das Rokoko-Schlösschen, wo der junge Friedrich II. glücklich musiziert, diskutiert und sich mit hübschen Lakaien und schlanken Hunden amüsiert haben soll. Manche halten vor den großen Tafeln inne, auf denen die Route des Todesmarsches aus dem KZ Sachsenhausen abgebildet ist. 1945 hörten die Rheinsberger das Schlagen von Holzpantinen der todgeweihten Häftlinge auf dem Kopfsteinpflaster vor ihren Fenstern.
Kaum ein Ausflügler verirrt sich in das Wohnviertel, das bis heute nur KKW-Siedlung heißt. Dort stehen DDR-Plattenbauten, in denen ab den 1960er Jahren Menschen wohnten, die im nahegelegenen Kernkraftwerk arbeiteten.
Ich sitze im Marstall und schaue auf den symmetrisch angelegten Park mit Flüsschen. Das Flüsschen heißt Rhin, und seine Farbe erhält es vom Laub der Bäume am Ufer. Im Augenblick ist das Wasser vom frischen Grün der Kastanie, die sich in ihm spiegelt.
Das Sonnenlicht fällt, vom Laubwerk gesiebt, flackernd auf eine Holzbrücke. Gestern ging ein junges Paar mit Kinderwagen über die Brücke. Sie hatten es nicht eilig. Am gegenüberliegenden Ufer blieben sie stehen und setzten das Kind zum Krabbeln ins Gras. Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Als er sie bis zu den Fingerkuppen hinuntergeraucht hatte, schnippte er die Kippe in den Fluß.
Es ist ein von der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten gepflegter Park. Selbst die Steinchen auf den Wegen haben sich eingefunden in die ästhetische Doktrin. Im Lustgarten liegen sie in der verordneten Distanz zueinander. Das Grün des Wassers ist gnadenlos klar.
Ich würde es nie wagen, in dieses Wasser etwas hineinzuwerfen. Ich traue mich nicht einmal, hineinzuspucken. Claire traute sich. Claire ist die Hauptfigur aus Kurt Tucholskys Debütroman „Rheinsberg. Bilderbuch für Verliebte“. Claire und Wölfchen überqueren den Rhin ebenfalls auf einer Holzbrücke. Auch für sie flackert das Licht. Sie haben Zeit. Sie sind jung, sie sind auf Landpartie, sie sind verliebt. Und dann spuckt Claire mit Schwung ins Wasser. Sie spuckt auf den aufflammenden Nationalismus im Wilhelminischen Staat. Sie spuckt auf die Militarisierung und das patriarchale, verspießerte Kleinbürgertum. Das war 1912.
Würde ich es ihr gleich tun, würde ich auf den aufflammenden Nationalismus spucken und auf die schleichende Brutalisierung in Köpfen von Leuten, die ihr eigener Stumpfsinn so anödet, dass sie ihn mit rassistischer, sexistischer und rechtsextremer Tunke überziehen. Aber ich spucke nie. Ich bin mir sicher, dass ein Parkwächter auftauchen und mich auffordern würde, das sofort wegzumachen, andernfalls hätte ich für die Verunreinigung des Wassers eine Geldstrafe zu entrichten.
Das Paar mit Kinderwagen wusste davon nichts. Sie waren keine Ausflügler. Das schrille Leuchten der Kippe fiel ihnen nicht auf. Sie hatten auch kein Auge für Farbe und Klarheit des Rhins. Es schien, als wären die Sinne, die für die Wahrnehmung von Schönheit zuständig sind, tief im Inneren sicher weggeschlossen.
Sie gehörten zu denen, die vor kurzem in die KKW-Siedlung gezogen waren. Oder in eine der Platten in der Mariefredstrasse, diese fünfstöckigen, schmutziggrauen, austauschbaren Riegel mit mehreren Hauseingängen, von denen einige nach der Wende pastellfarben angemalt wurden. Man kann durch die Riegel hindurchgehen. Wer sich nicht darin aufhalten will oder auf der Flucht ist, geht vorn hinein und hinten hinaus, wie im Slapstick der Stummfilmzeit, wo die Figuren, sobald sie ein Haus betreten, wieder herausfallen.
Hinter den Häusern gibt es Wäscheplätze mit eisernen Wäschestangen, an denen ein paar Tücher trocknen.
In so einem Plattenbau bin ich aufgewachsen.
Auf solchen Wäscheplätzen habe ich Socken und Nickis (T-Shirt ist ein Begriff aus der Zeit nach dem Kalten Krieg) mit hölzernen Klammern auf Leinen geklemmt. Eine syrische Autorin, die in Berlin Asyl bekommen hat, schrieb in einer Kolumne der taz, sie vermisse Wäscheleinen. In Aleppo seien Dächer und Balkone mit flatternder Wäsche geschmückt. In ganz Berlin dagegen hänge niemand seine Wäsche draußen auf. Für sie symbolisieren Wäscheleinen einen anderen Ort, für mich eine andere Zeit.
Der Hausflur hallt von Schritten und Stimmen. Wie früher. Das unverkennbare, dumpfe Dröhnen, ein Echo des Körpers, wie es nur Fertigbetonplatten werfen. Als solle man nicht vergessen, dass noch der Beton jedes Geräusch registriert, macht das Echo aus der kleinsten Bewegung irrsinnigen Lärm. Es riecht nach Rauch, Schweiß, Bratkartoffeln, Parfüm, Schuheinlagen, Angst, dieser Geruch, dieser GERUCH menschlicher Ausdünstungen, die tief in der nachgedunkelten Rauhfasertapete eingelagert sind.
Ein Streit dringt durch eine Wohnungstür aus Pressspanplatte gnadenlos ins Treppenhaus, Deutschrock, Babygeschrei. Irgendwer beobachtet mich. Irgendwer beobachtet einen in solchen Plattenbauten immer, meistens vom Erdgeschoß aus, wo der Hauseingang wie ein Revier bewacht wird. Und da ist er, mein Beobachter, sitzt mit nacktem Oberkörper auf dem Balkon, wie er schon seit Jahrzehnten dort gesessen hat. Ein salzfarbener Kopf, der bis zu den Augen über die Brüstung ragt, so dass das Geschehen auf der Straße reibungslos verfolgt werden kann. Meistens geschieht nichts.
Später geht das junge Paar mit Kinderwagen am Erdgeschoßbalkon vorbei zum nächsten Eingang. Sie nehmen das Kind aus dem Wagen, stehen dann eine Weile auf dem Treppenabsatz. Der Tag ist noch lang, und sie sind hier, um zu warten.
Sie warten auf Sozialversicherung, auf Krankenversicherung, auf die Arbeitserlaubnis, auf das Ende eines ganzen Krieges. Den Mann auf dem Balkon nehmen sie nicht wahr. Vielleicht sind sie auch ans Beobachtetwerden gewöhnt. Es macht nichts, dass einer auf Posten alles registriert, so, wie es nichts macht, in einem hallenden Plattenbau zu warten, solange das Haus ein Haus ist.
„…ich fühle mich verdammt dazwischen, und da sitzt man auf die Dauer nicht gut“, schrieb Kurt Tucholsky über so ein Warten 1934.
Sein Gesamtwerk steht in meiner Stadtschreiber-Wohnung. Ein mintgrünes Taschenbuch versammelt: „Briefe aus dem Schweigen 1932-1935“, die er in seinen letzten Lebensjahren aus Schweden an eine geliebte Züricher Ärztin schrieb. Da hatten ihm die Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft schon aberkannt. Schweden hatte ihm noch keinen offiziellen Status zuerkannt. Sogar mit einem Ausländerpaß ließen sich die Behörden Zeit. Er saß fest. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als Staatenloser in Hindås. Die Briefe sind unterzeichnet mit „Fritzchen, aufgehörter Deutscher.“
Tucholsky hatte ein schwieriges Verhältnis zu diesem Vorkriegsschweden. Die Menschen wirkten auf ihn kindlich und selbstgefällig. Was in den Zeitungen stand, erschien ihm von unbedeutender Harmlosigkeit. Eine Harmlosigkeit, die gefährlich wurde, sobald sie sich als Freundlichkeit gegenüber Hitlerdeutschland äußerte, ja als Symphatie für die Nazis. „Die Idee der demokratischen Freiheit ist hier im Absterben, hier wie anderswo. Sie wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.“
Im Plattenbau mit Wäscheplatz, in der Dreiraumwohnung mit Balkon, den mein Vater verglaste, damit ich einen eigenen Platz für meinen Schreibtisch hatte, und wo man im Flur aufpassen musste, was man sagte, damit nichts Falsches an die Erdgeschoßohren drang, wuchs ich mit einem anderen Schwedenbild auf.
Schweden war ein fantastisches Land. Ein Land, in dem gleich und frei und offen gelebt wurde. Sozialismus ohne Diktatur.
Noch immer sehe ich sie stehen. Am Ufer der Ostsee. Auf der Mole. Am Leuchtturm in Sassnitz. Am Strand. Menschen in DDR-Niethosen. Wie sie die Augen abschirmen und den Fähren nachschauen. Fähren, die über die Ostsee fuhren, nach Trelleborg und weiter. Ich sehe sie aufs Meer hinausschauen, der Schwedenfähre nach, die aus dem Sassnitzer Hafen auslief. Die Fähre fuhr in greifbarer Nähe vorbei, Reling, Rettungsboote und Oberdeck waren für das bloße Auge sichtbar. Die Blicke aber waren auf Unsichtbares gerichtet: die Fähre verband das schnöde Hier mit einem Traum, mit der anderen Seite der Welt, mit dem Westen. Sie war real und irreal zugleich und entzündete Wahnvorstellungen. Die Menschen winkten den Fähren nach und malten sich aus, wie es wäre, in einem Werkzeugkasten in den Maschinenraum geschmuggelt zu werden, als Matrose verkleidet an Bord zu gehen oder sich, an den Unterboden eines Lkw gekettet, als Frachtgut verladen zu lassen. Manche übten sich im Weitspucken. Einmal, das wussten sie, würde die Spucke die Bordwand treffen und dort hängen bleiben, und dann würde das Ungeheuerliche geschehen: Die Spucke würde in weniger als fünf Stunden das ersehnte Ufer erreichen; ihre Spucke. Ein Teil ihrer selbst. Sie aber mussten jede dieser Fähren ziehen lassen.

Die Fähren zogen schmerzhaft langsam dahin. Sie standen noch lange am Horizont, bevor sie verschwanden. Mit ihnen verschwanden teurer Sekt und glitzernde Pools auf dem Oberdeck, coole Musik, glänzende Zeitschriften und Düfte, die schwindlig machten und in der salzig-öligen Ostseeluft beinahe zu wittern waren. Es verschwanden lässige Kellner, lässige Eltern, rosenlippige Mädchen und schmalbrüstige Jungs, und vor allem eines: echte Jeans. Stonewashed.

Erst, als auch die letzte Fähre hinter dem Horizont verschwunden war, hinter der unsichtbaren Grenze, die zwischen der Mole und dem fernen gelobten Land verlief, war man nicht mehr sicher, dass es alles das auch tatsächlich dort gab. Man hatte es vor dem inneren Auge gesehen, in vagen Bildern, flüchtig und wie aus der Erinnerung. Aber die Erinnerung wurde durch nichts gestützt. Schließlich war niemand je dort gewesen. War es einem doch gelungen, mit einem Segler, einem Schlauchboot oder auf der Luftmatratze lebend die verminte Grenze zu überqueren, war er nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.

Der Himmel reichte nicht weiter als der Blick. Was dann kam, glich so sehr dem Nichts, dass man sich sagte, die Sehnsucht lohne nicht. Vielleicht waren auch die Fähren nur Gaukelei, Hitzebilder der Ostseeluft. Dieser Gedanke war tröstlich. Allerdings hielt er nicht lange, weil er so durchschaubar war. Sogar der Trost schmeckte schal.
Ich sehe sie stehen.
Ich selbst stand auch da. Vierzehn-, fünfzehnjährig. Aber ich war zu jung, als dass alle diese Erinnerungen meine eigenen sein könnten. Erinnerungen an ein Schweden im Kopf, das in einem gleißenden Licht erschien. Ein Licht, das die Häuser leuchten machte und die Menschen gerecht, die wohlhabend und gesund waren wie ihre Wälder, es gab ABBA und Lachs; ein Luxus, der meine Vorstellungskraft gänzlich überstieg.

Waren die Fähren verschwunden, gingen die Menschen in ein Café an der Mole und versuchten, das Verlangen mit einem Schwedeneisbecher zu stillen. Aber auch Schwedeneisbecher gab es nicht immer.

Wie heute an anderen, südlichen Ufern gestanden wird, den Blick sehnsüchtig und angstvoll aufs Meer gerichtet, gehört zu den Dingen, die ich nicht beschreiben kann.

Ein paar Auffälligkeiten:

Das Mittelmeer und die Ostsee sind beides Binnenmeere des Atlantischen Ozeans.

In den Platten von Rheinsberg -der KKW-Siedlung, der Mariefredstraße – warten Syrer darauf, dass man sie reinläßt nach Deutschland, während ich in der DDR darauf gewartet habe, dass man mich rauslässt, nach Schweden, wo Tucholsky wiederum bis zu seinem Freitod darauf wartete, dass man ihn reinließ, und in Mariefred begraben wurde, der heutigen Partnerstadt Rheinsbergs.

Während ich Tucholskys letzte Briefe lese, schreibe ich dir nach Schweden, von dort, wo Tucholsky sein Debüt über glücklich Verliebte ansiedelte, weil mir dein Roman über eine unglücklich Verliebte hundert Jahre später so gefällt.

Und der Satz hängt mir im Kopf von der Idee der demokratischen Freiheit, die im Absterben ist. – Wäre nach dem Ende des Kalten Krieges nicht auch das Ende der Geschichte ausgerufen worden, würde ich fürchten, dass sie mir mit ihrer ganzen herrlichen Wucht und dem Stumpfsinn der „Wutbürger“ ins Gesicht schlägt – in Deutschland, in Schweden, beinahe überall in Europa, hier wie anderswo. Die Idee der demokratischen Freiheit wird nicht abgelehnt, sie interessiert nicht mehr. Tipp an, sie fällt.

Aber vielleicht ist es bloß das Flackern, dieses Flackern des vom Laubwerk gefilterten Lichts, das gespenstische Schatten an die Schädeldecke wirft…

Herzliche Grüße,
Antje Rávic Strubel

June 6th, 2016 – Antwortbrief nach Rheinsberg versendet (Andersson an Strubel)

Stockholm am 6. Juni 2016
Liebe Antje Rávic Strubel,

als ich mich hinsetzte, um deinen Brief zu beantworten, schaute ich als erstes Rheinsberg auf der Landkarte nach. Diese kleinen deutschen Orte besitzen für mich eine eigene suggestive Kraft. Im Sommer 1985 reiste ich als Fünfzehnjährige mit meiner Mutter und meiner Tante mit einem Charterbus von Stockholm nach Wien und zurück. Wir fuhren auf dem Hinweg durch Westdeutschland und auf dem Rückweg durch die Tschechoslowakei und Ostdeutschland, via Ostberlin, wo wir in einem Fünfsternehotel übernachteten, das so luxuriös war, wie ich es, an Jugendherbergen gewohnt, noch nie erlebt hatte.
Ich entwickelte eine starke und lebhafte Beziehung zu diesen kleinen deutschen Städten mit ihren Namen, die die Fantasie entzündeten, Orte, die beladen waren mit Geschichte und Leid, anders als Städte in Schweden, wo es kleine, triste Ortschaften gab, in die ich an den Wochenenden fuhr, um an Wettkämpfen teilzunehmen, im Winter im Skilanglauf, im Sommer im Radfahren.
Auf dem Weg durch Westdeutschland kehrten wir im Gasthaus eines Dorfes ein, das es in Schweden so nicht gab, aber in Deutschland überall. Das Dorf war auf eine Art alt, wie es schwedische Dörfer nie gewesen zu sein schienen. Und ich erinnere mich an das enorme, weiche und fluffige Federbett das, wie ich feststellen würde, hierzulande Standard war. Es war wie ein Traum, sich unter diese deutschen Decken zu legen. Damals und auf späteren Reisen bemerkte ich eine auffällige Standardisierung, die ich von Schweden nicht kannte. Wohin wir auch kamen, überall lag exakt das gleiche dunkle Brot morgens im Brotkorb und die gleichen hellen Brötchen, das gleiche Ritual, wenn die Servicekraft fragte, ob man Kaffee oder Tee haben wollte. Schinken, Käse, ein kleines Schälchen Butter und ein kleines Schälchen Marmelade. Immer das Gleiche. Ich mochte das. Zu Hause in Schweden gab es bewusste Routinen dieser Art im Alltagsleben nicht; die Welt wurde jeden Tag neu erfunden.
Das war die Folge des schwedischen 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert des Moderne-Projekts und dessen Mittelpunkt: Das Alte sollte in Schutt und Asche gelegt und Neues geschaffen werden, alles, was neu war, war besser als das, was alt war, das gestrige Frühstücksritual musste morgen ein anderes sein. Routinen und Traditionen waren ein Zeichen dafür, dass man noch nicht gebrochen hatte mit einer erstarrten Vergangenheit. In den hoffnungsvollen Fortschrittsbewegungen gab es keinen Platz für das Kleine und Geringe, das scheinbar Kleinbürgerliche und Häusliche, das innerhalb des großen Projektes, den Menschen zu befreien, als unwichtig abgetan wurde, und Rituale und der Standard von Brotkörben und Frühstück gehörten zu dem, was den Menschen an das Geringe band. Ansonsten war Standardisierung ein typisch schwedisches Merkmal, aber mehr in Bezug auf die großen Dinge wie Krankenversicherung und Ausbildung, gesunde Zähne und Lebensbedingungen, als auf kleinbürgerliche Tugenden und Alltäglichkeiten.
Was ich auf meiner ersten Reise durch Westdeutschland wahrnahm, habe ich später auch in Frankreich bemerkt, eine Standardisierung im Alltagsleben, die auf gewisse Weise anerkennt, dass die Welt sich nicht auf beliebig viele verschiedene Arten und Weisen formen lässt und dass das Leben etwas Konkretes ist, nichts Abstraktes. In Schweden glaubten und glauben wir bis heute, dass es möglich ist, alles zu verändern, dass der Mensch selbst über sein eigenes Schicksal bestimmt und einzig die Fantasie Grenzen setzt. So bleibt alles willkürlich und im Ungefähren. Nichts erhält wirklich Bedeutung oder Gewicht. Wir sind ja doch auf dem Weg zu etwas Anderem und Neuerem, Besseren.
Die Reise fand im August statt. Von Wien habe ich die Farbe der frischen Aprikosen in Erinnerung und Speisen, die ich nie zuvor gekostet hatte. Es lag Wärme in der abendlichen Luft, die mir neu war. In Schweden waren die Sommerabende kühl, unabhängig davon, wie warm es tagsüber gewesen war. Einige Nächte im Jahr, manchmal nur jedes dritte Jahr, geschieht es, dass es „südländisch warm“ ist, die Luft wie Baumwolle und nicht zu spüren. Da sagen wir zueinander: „Was für ein Abend! Die Gelegenheit muss man nutzen.“
Mich bedrückt alles, was bedeutet, dass man „die Gelegenheit nutzen“ muss. Ich mag den Alltagstrott, nicht die Ausnahme. Die sogenannten Höhepunkte des Lebens und der einzige warme Abend des Sommers beunruhigen mich. Sie gehen zu Ende, und wenn etwas zu Ende geht, bedeutet das Wehmut und ein unnötig überreiztes Gemüt.
Auch die kohlschwarze Dunkelheit, die zur Wärme hinzukam, stach als Besonderheit hervor. Noch heute erstaunt mich das Zusammentreffen von Dunkelheit und Wärme, sobald ich Richtung Süden reise. Im Augenblick haben wir die Zeit der hellen Nächte in Schweden, Tage, die nie zu Ende gehen, die einfach andauern, ungeachtet des menschlichen Schlafbedürfnisses.
Danach fuhren wir also durch die Oststaaten nach Hause. So nannten wir sie. Dort hinterm Eisernen Vorhang gab es keine Demokratie, wusste ich, aber was das bedeutete, wusste ich nicht, auch hatte ich keine Vorstellung von der Marktwirtschaft, die es ebenfalls nicht gab. Ich suchte nach den kleinsten Zeichen von Unfreiheit, Armseligkeit und Diktatur und sah sie sogar dort, wo sie gar nicht waren. Ich war eine ungerechte Beobachterin. In Prag traf mich der Anblick der dunklen Schaufenster und die Tatsache, dass die Glasscheiben schmutzig waren. Es war die Abwesenheit von Kommerz, was ich sah, ein Mangel an Lust und dem Bedürfnis, seine Waren in vorteilhaftem Licht zu zeigen. Nichts leuchtete und blinkte. Alles war genauso grau, wie man mir gesagt hatte, ein Zustand und eine Farbe, von denen ich geglaubt hatte, sie wären eher metaphorisch als tatsächlich so.
Nach Prag kamen wir in die DDR. Für mich war es das Land großartiger Athletinnen, die das machten, wovon ich träumte, sie gewannen bei großen Meisterschaften. Kein anderes Land hatte solche Sportlerinnen, vielleicht mit Ausnahme der Sowjetunion. Die DDR, das war für mich Marita Koch und Marlies Göhr, Silke Gladisch und Barbara Petzold. Diese Frauen waren echte Vorbilder, muskulös und kraftvoll, ohne diese Kraft mit Lippenstift, Nagellack und koketten Frisuren kompensieren zu müssen. Ich fühlte mich ihnen merkwürdig nah, trotz der großen Entfernung. Sie machten das Frauentheater nicht mit, sie waren vor allem Sportlerinnen. So sah für mich als Kind und Jugendliche die DDR aus.
Später wurde das systematische Doping aufgedeckt, aber die Erinnerung an Marita Koch, die die 400 Meter in 47,60 läuft, lebt trotzdem auf der Netzhaut weiter. Der Sprint ist gelaufen worden, das Publikum hat es gesehen, und das kann man nicht vergessen, egal, wieviel Testosteron der Staat in sie hineingepumpt hat. Sie lief diese unglaubliche Zeit. Ich erinnere mich noch an den Endspurt, ihre Oberschenkel, als die Beine auf die Tartanban trommelten, an das blaue Trickot.
Was hast du für ein Verhältnis zu diesen Sportlerinnen und Ereignissen?
Als ich in meiner Jugend an Skilanglaufwettkämpfen teilnahm, gab es in meinem Skiclub einen Trainer, der den Sozialismus wohl idealisierte und, nachdem ich als Zwölfjährige die nationalen Jugendmeisterschaften gewonnen hatte, zu mir sagte: „Wenn wir jetzt in Ostdeutschland wären, würde man dich am Schopf packen und in ein staatliches Programm stecken. Du würdest alle Ressourcen bekommen, die du bräuchtest.“
Ich glaube, es gab eine beträchtliche Anzahl von Menschen in Schweden, die Ostdeutschland im Stillen bewunderten. Sie waren möglicherweise der Auffassung, dass es dort die wahre Sozialdemokratie gab; bei uns war sie nur ein sinnloser Versuch, den Kapitalismus zu bremsen. Viele glaubten weiterhin, dass der Ausgang zwischen den Systemen offen war und der Rationalismus, auf den Ostdeutschland gründete und den es mit der schwedischen Sozialdemokratie gemein hatte, schließlich siegen würde, einfach weil er etwas Vernünftiges und Sachliches war. Aber genau das war er nicht. Vernunft ohne die Einsicht, wie Menschen funktionieren, ist keine Vernunft.
Wir machten in Dresden Halt, und während wir in einem feinen Restaurant saßen und uns von flinken Kellnern ein Drei-Gänge-Menü serviert wurde, erfuhr ich von den Terrorbombardierungen 1945. Ich war wie eine der Figuren aus Ionescos Theaterstück „Die kahle Sängerin“, denn ich dachte die ganze Zeit, jetzt sitze ich also in einem DDR-Restaurant und bekomme ein DDR-Drei-Gänge-Menü serviert von flinken DDR-Kellnern. Mir war extrem bewusst, dass ich mich in einem anderen politischen System befand, und ich vermutete, dass die Ostdeutschen aufgrund dieses politischen Systems eine ganz andere Art von Menschen waren. Als Vorspeise gab es Suppe. Als Nachspeise Torte. An das Hauptgericht kann ich mich nicht erinnern. Die großen Tortenstücke, die überall thronten, passten nicht zu einem so gefährlichen und unmenschlichen System wie einer sozialistischen Diktatur. Ich konnte mir nichts Menschenfreundlicheres vorstellen als Torte, und die Torten schienen ein natürlicher Teil des Lebens in Ostdeutschland zu sein. In meiner Familie tranken wir bestimmt jeden Nachmittag Kaffee mit süßem Hefegebäck und Keksen und Rührkuchen in allen möglichen trockenen Varianten, aber Sahnetorte aßen wir nur zum Geburtstag oder zu anderen besonderen Anlässen. Hier aber gab es sie überall. Ich liebte diese großen Oststaatentortenstücke, schon ihr Anblick bezauberte mich.
Ich habe im Laufe des Lebens viel über die Themen Freiheit und Zwang, staatliche Lenkung und die Wurzeln des Totalitären nachgedacht und mich wirklich bemüht, zu verstehen, worum es geht und wovor man auf der Hut sein muss. In der Theorie war mir das vollkommen klar, aber wie es ist, täglich in einem geschlossenen System ohne individuelle Rechte zu leben, in dem der Staat alles ist, das habe ich nie ganz begreifen können. Du erwähnst, dass man gezwungen war, leise zu sprechen, so dass niemand im Haus hören konnte, was man sagte. Worin genau bestand das Gefährliche, das man hätte sagen können? Welcher Art waren solche Äußerungen? Was waren die verbotenen Gedanken und Worte? Was passierte, wenn man sie aussprach? Wie beeinflusste das den Umgang zwischen Kindern, in der Schule? Bewachtet ihr einander auf die gleiche Weise wie die Erwachsenen?
Manchmal bekomme ich im Schweden von heute einen schwindelerregenden Eindruck davon, wie die Atmosphäre damals gewesen sein muss. Auuch hier und heute haben wir Angst davor, ausgestoßen zu werden, gebranntmarkt zu werden, isoliert, und alles zu verlieren, wenn unser Umfeld sich wegen eines falschen Standpunktes von uns distanziert wie von einer Aussätzigen, um die eigene Haut zu retten, und der sachliche Gehalt und die Wahrheit sich ganz dem Bedürfnis unterordnen, zu zeigen, dass man den richtigen Standpunkt einnimmt und nicht aufhört, sich von Schlechtigkeiten freizumachen. Es ist leicht vorstellbar, wie bereitwillig viele Menschen unerlaubte Ansichten und Äußerungen melden würden, wenn wir eine staatliche Gedankenpolizei hätten, nicht nur eine Selbstzensur und den Schandpranger der Medien, wie es jetzt der Fall ist.
Der Stadtteil, in dem ich wohne, heisst Tensta und ist ein Vorort im Nordwesten Stockholms. In diesem Vorort wuchs ich auf, und im Alter von 16 Jahren verließ ich ihn. Vor drei Jahren bin ich dorthin zurückgezogen und wohne jetzt mit meinem Lebensgefährten in einer schönen und geräumigen 70er-Jahre-Wohnung, die von außen mit solidem Beton verkleidet ist. Das Viertel entspringt dem Social Engineering und ähnelt sehr den Häusern in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin. Hier bezeichnet man das oft als Oststaatenarchitektur. Das bedeutet, dass die Häuser funktionell und grau sind und von außen menschenfeindlich aussehen. Aber die Wohnungen sind schön und vor allem billig. Von Arbeits-, Ess- und Wohnzimmer aus sehe ich auf einen dicht belaubten Park. Das Ostdeutsche am Viertel ist nicht allein der Beton, die rechten Winkel und die Gleichheit der Häuser, sondern dass alles rationalistisch und geplant ist (aber nicht vernünftig oder auch nur rational).
Als man nämlich diese Viertel in stabilem Beton und die sorgfältig durchdachten Grünanlagen schuf, stellte man sich die Bedürfnisse der Menschen in der Fantasie vor, anstatt den Ort entsprechend der Bedürfnisse wachsen zu lassen, die sich im Alltag manifestieren. Eine antibürgerliche Ideologie und ein pädagogischer Eifer hatten Vorrang vor den alltäglichen Bedürfnissen. Deshalb gab man der sogenannten Volkszahnpflege, „Folktandvården“, den besten Platz im Zentrum von Tensta. Zahnärzte: eine Institution, die die meisten einmal im Jahr aufsuchen, die nicht zum Alltag gehört, den das Social Engineering von Kleinbürgertum und Krämertum befreien wollte. Neben der Volkszahnpflege lagen die Bibliothek und das Sozialamt. Kommerz und Handel sollten nicht gefördert, sondern aufs Notwendigste beschränkt werden. Dieses Social Engineering ist wirklich ein faszinierendes Phänomen, im 20. Jahrhundert verankert wie in einem historischen Museum.
Ich schreibe das am schwedischen Nationalfeiertag, dem 6. Juni. Wir kämpfen mit unserem Selbstbild. Heute morgen im Frühstücksfernsehen sprach ein Moderator davon, dass wir „Schwedens Geburtstag“ feiern. In einer anderen Sendung heute Abend hat ein Koch das Rezept der erst dreißig Jahre alten „traditionellen“ Schwedentörtchen mit Mandelboden und Erdbeeren abgewandelt, damit sie zur neuen Vielfalt passen. Der Boden war jetzt von Baklava inspiriert und aus Pistazie und Rosenwasser. Nächstes Jahr ist dieses Gebäck sicher wieder anders, denn das einzig Bleibende an diesen Versuchen ist der immer neue Entwurf.
Niemand weiß, warum wir den 6. Juni feiern, es hat etwas mit der Einführung der Erbmonarchie von 1523 zu tun und dem Sturz derselben Dynastie 1809 und mit einem Reichstag in Arboga im 15. Jahrhundert, alles geschah offenbar an diesem Datum, und niemand weiß, was wir davon ausgewählt haben oder warum, am wenigsten ich. Wesentliches lässt sich nicht herbeikonstruieren. Die Welt ist im Grunde organisch, nicht anorganisch. Schweden hat keinen Nationalfeiertag, weil wir nie kolonialisiert oder okkupiert waren. Wir können uns nicht über einen Moment definieren, in dem wir unabhängig geworden wären. Deshalb fehlt eine natürliche Notwendigkeit zu so einem Tag. Die Moderne war unsere nationale Idee. Dazu gehört, sich alles Alten zu entledigen, inklusive Essgewohnheiten und Routinen. Deshalb stehen wir unbeholfen und ratlos vor solchen Fragen. Wir treiben einfach weiter und entwerfen neue Sachen, die sich morgen schon alt anfühlen.
Ich selbst bin, wie gesagt, nicht so sehr fürs Feiern von irgendwas. Und die Nationalstaaten, glaube ich, sind im Aussterben begriffen. Dieses aufgesetzte, neu zum Leben erwachte Feiern, diese aufblühenden Nationalgefühle in einem europäischen Land nach dem anderen sind bloß Todeszuckungen, eher Reaktionen auf eine grundsätzliche Tendenz, als die grundsätzliche Tendenz selbst.
Grüße,
Lena Andersson

June 15th, 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Mitte Juni, Rheinsberg
Liebe Lena Andersson,

beim Lesen deines Briefes musste ich daran denken, dass ich mich in Schweden sofort mehr zu Hause fühlte als im ehemaligen Westdeutschland. Das hat vielleicht mit der Idee zu tun, Dinge jederzeit ändern zu können und sich neu zu entwerfen, die mir ausgesprochen gut gefällt.
Einige Zeit besaß ich ein Haus in Värmland, eine etwas heruntergekommene Villa, die einmal eine Pfarrerswohnung, später eine Tankstelle gewesen war. Es überraschte mich, drei weiße, wunderschöne originale Jugendstilkachelöfen darin zu finden. Schon eine dieser Kacheln hätte in Deutschland ein Viertel des Hauspreises gekostet. Als ich auf der Suche nach Stühlen war, fuhr ich nicht zu IKEA, sondern ging in die vielen „Antik“märkte, die im Sommer in jedem Städtchen und jeder Scheune aufmachen, begleitet von Blechblasmusik (was auf mich wirkte wie eine beliebte sommerliche Routine, eine Tradition des Alltags, zu der auch Kaffee und Kanelbullar gehören).

Neben Trödel werden die schönsten Antiquitäten verkauft, gut erhalten und oft sogar bezahlbar. Ich fand einen Stuhl, der vom Moderne-Projekt des 20. Jahrhunderts noch unberührt war.

Auch manche Privathäuser hatten einfach ein „öppet-Schild vor die Tür gestellt. Man verkaufte, was im Wohnzimmer nicht mehr gebraucht wurde. Dieses antike Aufgebot allerorten verdeutlichte für mich eine historische Besonderheit: Die ungeheuren Mengen an Trödel, Schmuck und Antiquitäten erzählten davon, dass nichts zerbombt, verbrannt, vernichtet wurde. Manches mochte über die Jahre ausrangiert worden sein, aber brennende Erde gab es in Schweden seit 500 Jahren nicht mehr.
In Deutschland hätte ich mir diesen edlen Stuhl nicht leisten können.

Die Bezahlbarkeit antiker Möbel und Kachelöfen erzählt auch davon, was du beschreibst; das Alte ist nicht so viel wert. Und: man scheint sich problemlos von Gegenständen des Alltags trennen zu können. Mich hatte beeindruckt, dass Häuser oft mitsamt der Möbel zum Verkauf standen, Käufer erhielten die Geschichte der ehemaligen Bewohner inklusive.

Beim Umzug in Deutschland stellen wir am neuen Ort im Grunde nur die alte Ordnung wieder her, platzieren Couch und Spülmaschine exakt so wie zuvor, könnten also in aller Ruhe vergessen, dass wir uns überhaupt vom Fleck bewegt haben, würde nicht von draußen störend ein fremder Dialekt hereindringen. In Schweden vollzieht man den Ortswechsel auch innerhalb der Räume nach; man richtet sich komplett neu ein. Wer auf diese Weise umzieht, muß nicht nur weniger mitschleppen, sondern wechselt neben dem Ort in bestimmter Hinsicht auch das Leben.

Sich von Altem zu trennen, funktioniert aber nur, wenn man ein „öppet“-Schild vor die Tür stellen kann. Wer gezwungen ist, es zurückzulassen, wem es weggenommen oder zerstört oder wer enteignet wurde, hält am Alten nur umso stärker fest.

Deutschland hatte auch mal ein Moderne-Projekt, wir lagen da mit Schweden ziemlich gleich auf. Aber die großen Köpfe dieses Projekt wurden in die Emigration getrieben (wovon die amerikanische Filmindustrie und Kaliforniens Architektur profitierten) oder in Konzentrationslagern ermordet.
Was nach dem Krieg übrigblieb, war verseucht bis in die Sprache hinein. Aber an etwas muß der Mensch sich festhalten. So marschierte der Osten vorwärts in eine neue Diktatur, der Westen geradewegs ins Kaiserreich zurück, mit allem, was es an patriarchalen Gepflogenheiten und verspießerten Mustern zu bieten hatte. Überholte Rituale wurden aufpoliert und mangels Alternativen und Phantasie heftigst gepflegt.
Dieses starre, dumpfe Festhalten äußert sich trotz 68er Rebellion noch heute manchmal, auch in jenem unsäglichen Frühstück, das dir deine unbelastete Wahrnehmung so liebenswert alltäglich erscheinen ließ: immer dieselbe Auswahl an Käsebutterwurstmarmeladenstullen. Und dass ja kein Spitzendeckchen verschoben wird! Schon dem Wunsch, die Käsesorten zu ändern, wird der Riegel vorgeschoben: „Wieso? Das haben wir immer schon so gemacht.“ – Immer schon. Eine Formulierung, die mich schreckt. Wenn ich dich richtig verstehe, gibt es bei dir jedoch eine Sehnsucht nach Unumstößlichem, Unveränderbaren. Woher kommt das? Und sind nicht påtår, auf deutsch würde man dazu „Kaffee satt“ sagen, und das Knäckebrot, das in jedem Restaurant zum Getränk gereicht wird, dem deutschen Frühstückseinerlei ähnlich?
Vielleicht hat mein unerklärbares Zuhause-Gefühl auch damit zu tun, dass dir Marlies Göhr und Marita Koch noch etwas sagen. Das dürfte für einen großen Teil der hiesigen Bevölkerung nicht gelten. Wenn ich deinen Brief lese, wird mir klar, wieviel ich von dem, was meine Kindheit und Jugend geprägt hat, aufgegeben habe, auch, weil ich mich so sehr bemüht habe, das Referenzsystem dieses anderen Deutschlands zu verstehen. Nach dem Fall der Mauer galt es ja ebenfalls, sich neu zu entwerfen, Altes zurückzulassen, und ich wollte nichts als das. Spät erst fiel mir auf, dass statt eines neuen Entwurfs etwas anderes Altes übernommen werden sollte.
Ein einfaches Beispiel ist 1968. Früher dachte ich an die Niederschlagung des Prager Aufstands durch sowjetische Truppen. Jetzt denke auch ich an die Studentenbewegung aus Frankfurt/Main. Kommt in der öffentlichen Debatte die Rede auf 68, sind westdeutsche Studenten gemeint, die gegen ihre Eltern und das Schweigen in der Nachkriegszeit rebellierten und nie jene Menschen, die zur gleichen Zeit unter Lebensgefahr eine Diktatur stürzen wollten. Um die gealterten Rebellen wird viel Wind gemacht, die heute wichtige Posten besetzen und einen Teil dessen repräsentieren, wogegen sie einmal aufbegehrten. Von den Initiatoren des Prager Frühlings hört man kaum. Dabei hätte die Gesellschaft, in die sechs Jahre später hineingeboren wurde, damals eine bessere Richtung einschlagen können.
An den Rekordlauf von Marita Koch kann ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, dass ich mir als Elf-, Zwölf-, Dreizehnjährige bei jedem Leichtathletikwettkampf zu Kreis-oder Bezirksmeisterschaften vorstellte, ich wäre Marlies Göhr oder Heike Drechsler. In der dritten Klasse kamen Sportfunktionäre an unsere Schule, um die Sportlichsten unter uns für die KJS zu rekrutieren. Hätten meine Eltern es nicht verhindert, weil sie wussten, dass dort nicht nur Körper getrimmt, sondern auch Gehirne gewaschen wurden, wäre ich wohl auf jener Kinder-und Jugend-Sportschule gelandet, in der dich dein Trainer so gern gesehen hätte.
Es war leicht, sich mit Göhr oder Drechsler zu identifizieren. Verzaubert war ich von einer anderen: Florence Griffith-Joyner. Denn dass die DDR-Athletinnen gewannen, war keine Überraschung. Sie waren Rennmaschinen, die von klein auf militärisch aufs Siegen abgerichtet wurden. Griffith-Joyner aber tanzte über die Tartanbahn und gewann wie nebenbei. Sie lächelte sogar auf der Ziellinie. Sie kam mir unwirklich vor, oder besser: sie repräsentierte eine verlockende Wirklichkeit, in der man ein Exot mit langen Fingernägeln sein durfte, bunt und gebogen wie Papageienschnäbel, in der man glitzernde, schrille Laufanzüge tragen durfte, die nur ein Hosenbein hatten. Das andere Bein war nackt, um noch deutlicher die kräftigen Muskeln auszustellen und der Höchstleistung zugleich die Anstrengung zu nehmen, weil es den Lauf wie eine Show erscheinen ließ. Diese Frau war ein spielerischer Selbstentwurf. Im Osten konnte schon eine wilde Frisur Anlaß für den schwerwiegenden Vorwurf sein, man wäre ein Rowdy, ein Tramper, ein „verkommenes Subjekt“, beeinflusst vom Klassenfeind. Das hätte man auch einer Weltrekordhalterin nicht durchgehen lassen.
Über Weiblichkeitsbilder dachte ich damals nicht nach. In der 9. und 10. Klasse mußten wir zur „Produktiven Arbeit“ ins Autowerk, und das Öl der Bohr- und Drehmaschinen klebte unter den Nägeln der Mädchen wie denen der Jungs. Geschlechterklischees, die es natürlich gab, kamen mir affig und langweilig vor, das klassische Rollenmodell so altertümlich wie Seejungfrauen und Könige. (Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass die schwedische Gesellschaft, in der, wie du schreibst, das einzig Beständige die Veränderung ist, sicherheitshalber ihren König behält!) Heute kenne ich den enormen Druck, unter dem diese Weiblichkeiten und Männlichkeiten endlos reproduziert werden, über die sich Gesellschaft organisiert, schließlich „haben wir das immer schon so gemacht!“
Was mich interessiert: du und ich haben uns damals zu dem hingezogen gefühlt, was uns fern war, was wir aus unserem Alltag nicht kannten. Und was wir nicht kannten, waren zwei Sportlerinnen, die beide – so gegensätzlich sie auch waren – die Geschlechterdoktrin unterliefen. Marita Koch brachte die Eindeutigkeit des binären geschlechtlichen Koordinatensystems durcheinander, indem sie ohne Weiblichkeitsattribute auskam, und Florence Griffith-Joyner, indem sie genau diese Attribute so übertrieb, dass sie wie „drag“ wirkten; ein muskulöser Körper, dem Weiblichkeit so schrill übergezogen wurde, dass er männlich aussah im Aufzug einer Frau.
Ich würde gern erfahren, was du dazu denkst. Das Schweden der Siebzigerjahre stelle ich mir eigentlich schon sehr offen und emanzipiert vor. Aber offenbar hattest du das Gefühl, unter einem Anpassungsdruck zu stehen?
Lass mich zum Schluß noch auf Prag eingehen und auf ein Beispiel, das deine Frage nach dem beantwortet, was man im Osten besser nicht erzählte. Meine Mutter arbeitete bei der Fluggesellschaft Interflug. Mitarbeiter der Interflug bekamen drei Freiflüge für sich und ihre Familie pro Jahr. Da es nicht viele Orte gab, die man hätte ansteuern können, flogen wir einmal jährlich in einem halb leeren Flieger nach Prag und Budapest. Budapest wurde bald zu teuer. Ungarn begann in den 80er Jahren, sich dem Westen zu öffnen, woraufhin es Coca-Cola gab und der Wechselkurs stieg.
Was das Reisen betrifft, war ich privilegiert in einem Land, in dem die meisten Menschen innerhalb der Grenze in staatlichen Ferienheimen Urlaub machten. Aber das Privileg hatte seinen Preis. Als Interflug-Angestellte durfte meine Mutter keine Westverwandtschaft haben, sonst hätte sie die Arbeitstelle verloren. Sie war in der Wirtschaftsplanung. Sie flog nicht als Stewardess um die sozialistische Welt, wo der Staat sie bei einer Zwischenlandung im kapitalistischen Ausland an den Feind hätte verlieren können. Man schien zu fürchten, der tägliche Anblick von Rollfeld und Fliegern könne das Fernweh der Belegschaft so steigern, dass alle mit Bezugsperson im Westen in selbigen „rübermachten“, wie der Volksmund sagte.
Der Bruder meiner Mutter, der in Bayern lebte, uns Pakete schickte und heimlich traf – beispielsweise in Prag – musste verschwiegen werden. Er war das Geheimnis, das ich seit dem sechsten Lebensjahr im Wissen darum besaß, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn es aufflog.
Die DDR mag, wie du sagst, auf Rationalismus begründet gewesen sein. Aber ein Großteil des Lebens war irrational. Es gab Mitschüler, die prahlten damit, dass sie Westverwandte hatten. Westklamotten waren ein Statussymbol, obwohl es das Wort noch nicht gab. Ich dagegen hatte Angst, mit einer coolen Jeans in die Schule zu gehen und dachte mir aberwitzige Geschichten aus, wo ich diese Hosen oder Schuhe her haben könnte. Man hätte leicht den bayerischen Bruder entdecken können – hätte die Nachbarin, die auf ihrem Kissen im offenen Fenster des Erdgeschosses die Straße besser im Blick hatte als jede Kamera, etwas mitbekommen und es weitergetratscht, hätte ich mich in der Schule verplappert, hätte meine Freundin ihren Verdacht jemals laut geäußert, oder hätten meine Eltern auch nur irgendeine Charakterschwäche gezeigt –Alkohol, Unpünktlichkeit, Aufmüpfigkeit, eine außereheliche Affäre – und sich vor der Parteileitung ihrer Arbeitsstelle dafür verantworten müssen, woraufhin man begonnen hätte, im Familienleben herumzubohren. Man hätte uns folgen können, wenn wir diesen Bruder heimlich trafen. Aber bei der netten, unauffälligen Familie schaute niemand genauer nach. Ich weiß bis heute nicht, ob meine Mutter andernfalls tatsächlich „in der Produktion“, am Band gelandet wäre. Angst ist die beste Kontrolle.
Vielleicht liegt es an diesen Erfahrungen, dass ich deine Zuversicht, die nationalistischen, anti-demokratischen Tendenzen in ganz Europa wären Todeszuckungen, nicht teilen kann. Wenn ich es versuche, habe ich den deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Ohr. Er sagte neulich sinngemäß, dass unsere Demokratie stark sei und Zeiten der Unsicherheit locker wegstecken könne. Es sollte klingen wie eine Tatsache. Aber ich kann nicht vergessen, dass Gauck von Haus aus Pastor ist. Pastoren aber wollen die Gemeinde im Glauben bestärken. Allein das gibt mir zu denken…
Sei herzlich gegrüßt,
Antje Rávic Strubel

July 26th, 2016 – Brief nach Potsdam versendet (Andersson an Strubel)

26. Juli 2016

Liebe Antje,
jetzt, da ich diesen Brief beginne, sind zwei Tage vergangen, seit das Ergebnis des britischen Volksentscheids zur EU bekannt wurde. Du hast vielleicht recht und die nationalpopulistischen und auf Gefühlen gründenden Strömungen, die Europa durchdringen wie Bakterien der Unzufriedenheit, sind etwas, womit wir in Zukunft lange Zeit leben müssen. Sie sind vielleicht keine Todeszuckungen des Projekts homogener Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts, keine Reaktion und zeitweilige Bremse der Freiheit, wie ich glaube, sondern die neue Richtung, die die westliche Welt für sich absteckt; es ist womöglich diese Richtung, die sich die meisten Menschen tatsächlich wünschen und tatkräftig anstreben. Ich möchte nicht glauben, dass es so ist, aber du kannst recht haben.
Ein mündiger Mensch zu sein, ist schwer und fordernd; ein Kind zu sein, ist ein Idealzustand für viele, mit strengen Eltern als eine Art Machthaber, die für Ordnung sorgen in Bezug auf einen selbst und andere und einem die Koffer und Lunchpakete packen. Ich dagegen bin so froh, aus der Kindheit heraus zu sein, dass ich niemals selbst Kinder haben wollte. Ich möchte kein Vormund sein, und niemand soll über mich die Vormundschaft besitzen. Gleichberechtigte Freiheit ist mein unerschütterliches Ideal, und diese britische Volksabstimmung entstammt einem anderen Ideal.
Es war zutiefst unverantwortlich von David Cameron, sie herbeizuführen. Referenden sind und waren nie ein gutes demokratisches Instrument. Diese Art der direkten Beschlussfassung ist für kleine übersichtliche Versammlungen und Fragen gedacht, die kleine übersichtliche Entscheidungen betreffen und nicht allzu viele Menschen berühren. Aber es lässt sich ebenso gut feststellen, dass ein Abkommen, aus dem man sich nicht zurückziehen kann, zu groß ist, um daran beteiligt zu sein.
Eine ehrgeizige Politik hat die Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts bestimmt, geprägt von demokratischen Wahlen, bei denen es darum ging, das die Parteien einander mit Versprechungen überboten, was sie alles für die Menschen regeln wollten. Der Irrtum dieser Politik liegt darin, dass die Politiker redeten, als wären die existentiellen Probleme politische; als könnte alles mithilfe bestimmter Maßnahmen und staatlicher Regulierung geordnet werden. Früher beteten die Menschen zu Gott, jetzt beten sie zu Politikern und werden ermutigt, es zu tun. Gott gibt es nicht und kann uns demzufolge auch nicht helfen, die Politiker wiederum haben einmal versucht, ein System zu schaffen, mit dem sie alles im Leben glaubten kontrollieren zu können, inklusive der existentiellen Probleme, und dieses System bekam den Namen DDR. Es war eine logische Folge des Traums, alles ließe sich steuern.
Ich glaube, dass ein Referendum, das die Frage stellte: „Wie stehen Sie zum Leben in seiner gegenwärtigen Form – sind Sie dafür oder dagegen?“ eine lautstarke Austrittsforderung zur Antwort bekäme.
Schon jetzt lässt sich erkennen, dass der Brexit einer Scheidung ähnelt, bei der ambivalente Gefühle im Spiel sind. Der getäuschte und verschmähte Teil, die EU, möchte den Unzufriedenen so schnell wie möglich aus dem Haus haben. Er soll seine Sachen zusammenpacken und sich nie mehr blicken lassen, während es dem, der sich scheiden lassen will und der in all den Ehejahren immer mehr Freiheit und weniger Genörgel um Wäsche und Abwasch verlangt hatte, nicht mehr gefällt, dass es so schnell geht mit dem Unterschreiben der Scheidungspapiere. Das kann doch ein bisschen warten? Er wollte ja nur gegen die Beengtheit in der Beziehung protestieren. Vielleicht kann man ja noch eine Weile zusammen wohnen bleiben, bis er eine neue Wohnung und einen neuen Partner gefunden hat? Vielleicht kann man ja weiterhin zusammen Weihnachten feiern? Auch Ostern wäre schön. Und sonntags mit den Kindern zusammen Kaffee trinken? Man muß ja nicht gleich so drastisch sein. Man wollte ja nur mal seine Meinung sagen. Und der Binnenmarkt war doch gut, und man kann doch auch weiterhin einen freien Verkehr von Waren und Kapital haben, aber ohne die Osteuropäer, die sich genauso frei bewegen wie das Geld? Vielleicht kann man sich sogar weiterhin sehen und manchmal miteinander schlafen, aber ohne all die praktischen Dinge?
Das Leben besteht aus einer Anzahl von Strukturen. Es gibt nicht beliebig viele. Das Kleine gleicht dem Großen, alles hat seine Formen, und von denen kommen wir nicht los. Das meinte ich, als ich über die Standardisierung in Schweden schrieb, die es auf großer Ebene gibt, aber nicht im Kleinen, obwohl alle dennoch quasi versehentlich in ähnlicher Weise lebten. Das hat mit unserer homogenen Gesellschaft zu tun. Wir waren homogen, ohne uns richtig im Klaren zu sein über unsere Alltagsroutinen, ohne richtig anwesend zu sein in diesem täglichen Leben, sondern wir lebten ein wenig aufs Geratewohl, auf dem Weg zur nächsten großen Reform, die uns besser machen würde. Wir bauten uns nicht sorgfältig ein Leben von unten her auf, weil es für uns von oben her gebaut wurde.
Das war es, was ich mit dem deutschen Frühstück und den bürgerlichen Routinen in Frankreich meinte und damit, dass wir jeden Tag alles neu erfanden. Wir vergaßen den Wert von Struktur und Routine. Nicht so, dass wir tatsächlich jeden Tag alles neu erfanden, wir lebten nur in der Erwartung von etwas Besserem und Größerem als Frühstückskörbchen und gleich aussehenden Brasserien an jeder Straßenecke. Die Erfindungsgabe war durch politische Vereinheitlichungsmaßnahmen wie auch durch soziale Sicherheiten ziemlich gedämpft, aber wir hatten und haben auch keine ausdrückliche Vorstellung von den Notwendigkeiten des Alltags. Natürlich nehmen wir den Alltag gezwungenermaßen hin, und so war es auch zu Zeiten des Volksheims, aber was fehlte, war die Einsicht, dass es sich dabei um das Leben handelte. Das Leben spielte sich nicht, wie wir annahmen, im Reichstag ab, sondern im Alltag. Ich trage natürlich etwas dick auf, übertreibe und verallgemeinere, aber in dem, was ich wahrnehme und behaupte, steckt ein Körnchen Wahrheit.
Mir erscheint nicht das Beständige und Unveränderliche anziehend, wie du schreibst, sondern die Einsicht, dass es unmöglich ist, Strukturen dadurch aufzubrechen, dass man sich ihrer entledigt. Das Leben beruht auf biologischen Grundlagen, und der Mensch steckt in Routinen und Strukturen. Er kommt von ihnen nicht los, also kann er sich ebenso gut darüber klarwerden. Wenn er sich keine Strukturen zulegt und sie nicht bejaht, wird die Struktur selbst das für ihn übernehmen. Auch keine Struktur zu haben, ist eine Struktur. Sogar Zügellosigkeit hat ihre Zügel und ihre Logik. Für das Individuum wie für das Kollektiv ist es verwirrend, wenn man für sich selbst nicht geklärt hat, dass das Leben in bestimmter Hinsicht ist, wie es ist.
Ich bin äußerst fasziniert davon, dass das Leben und die Bedingungen der Menschheit in so hohem Maß sowohl auf ständiger Bewegung als auch auf Stetigkeit beruhen, dass sich alles Neue nach Mustern ordnet, die es immer schon gegeben hat. Ich betrachte die Dinge wertfrei, eher deskriptiv als normativ. Ich schätze Tradition nicht um der Tradition Willen und bewundere die rastlose Psyche, die voranstrebt und Neues erfindet. Aber mir ist auch bewusst, dass wir uns im Kreis bewegen, und darüber bin ich genauso dankbar, wie darüber, dass dem Menschen die Veränderung innewohnt (was zur Folge hat, dass das Leben nicht ewig währt). Denn wenn wir in der Veränderung nicht wiedererkennbar blieben, könnten wir die Probleme nicht so verstehen wie die Schriftsteller, Forscher und Philosophen, die von der Antike bis heute darüber nachdachten und nachdenken. Ich schätze die Beständigkeit und bin zugleich froh, dass sich alles weiterentwickelt und verfeinert hat, was von der menschlichen Hand berührt wurde. Ich huldige sowohl dem Veränderlichen, als auch der Stetigkeit und glaube, dass es am besten ist, wenn gleichberechtigte, freie Individuen zusammenwirken, um diese besonderen Begabung des Menschen umzusetzen; sowohl Natur als auch Kultur zu sein – und einen Verstand zu besitzen, der die Nuancen dazwischen erkennt.
Es ist interessant, wenn du von Florence Griffith-Joyner schreibst, dass sie dich als junge DDR-Bürgerin durch Extravaganzen anzog, die in deinem Land nicht erlaubt waren und alles betrafen, was sie in Angriff nahm. Sie stach heraus, während bei euch nicht einmal eine Frisur herausragen durfte, weil Frisuren Zeichen sind und Zeichen eine Sprache, ein Kommunikationswerkzeug, Bedeutungsträger. Es ist ein spannender Gedanke, dass das Zurschaustellen und die Show in allem, von den Nägeln und Haaren, bis hin zu den Laufanzügen von Griffith-Joyner, eine Art und Weise war, die Anstrengung zu verbergen, während sie bei euren Sportlern in denselben Disziplinen nicht verborgen, sondern gerade gezeigt werden sollte. Ich glaube, das hat mit der Vorstellung von Echtheit und Lüge zu tun, und besonders damit, inwiefern die eigene Gedankenwelt auf Platon beruht oder auf dem Relativismus der Sophisten. In einem System, in dem man die Wahrheit kennt, wie im Kommunismus oder bei Platon, muß man keine neuen Frisuren ausprobieren und darüber Neues entwerfen, weil das, was gesagt werden muß, bereits gesagt und ausgemacht ist. In einem eher relativistischen oder postmodernen System, in dem jeder Einzelne mit sich ausmachen muß, was wahr ist, wie im amerikanischen, kann und muß man sich über die Abweichung und das Zurschaustellen ausdrücken. Die Anstrengung zu verbergen, aber die Überlegenheit zu betonen, gilt der einen Weltanschauung als Tugend; Anstrengung zu zeigen und mehr noch, zu zeigen, dass sie zu einem Erfolg führt, der gerecht und tolerierbar ist, und die Abweichung von der Gruppe herunterzuspielen, die mit der Leistung einhergeht, gilt der anderen Weltanschauung als Tugend.
Meinem eigenen Naturell entsprechend halte ich die Begriffe von „echt“ und „falsch“ für relevant und denke, dass das Zurschaustellen und die Show meistens dem Wesentlichen im Weg stehen. Aber ich bin auch zu großen Abstrichen bereit, um in einer Welt zu leben, in der beide Gesinnungen anerkannt sind und in der es möglich ist, zwischen ihnen zu wählen. Etwas persönlich zu bevorzugen, ist nicht dasselbe wie zu wünschen, dass alle genauso sein mögen, wie man selbst, im Gegenteil. Erst im Verhältnis zu anderen Gesinnungen begreift man die eigene, und im Verhältnis zu anderen Lebensweisen wird einem die Daseinsform bewusst und gegenwärtig, die am besten zu einem passt.
Ich hoffe und glaube, dass Europa und die Welt auf dem Weg zu einer Gesellschaftsform sind, in der die bevorzugte Lebensweise des einen nicht als Forderung an den anderen verstanden wird, und ich meine, dass man allgemein Respekt erweisen soll (wenn sich auch solcher nicht einfordern lässt) auch angesichts einer Haltung, die von anderen abgelehnt wird und tatsächlich selbst dann, wenn diese Haltung als Herabwertung anderer zu verstehen ist.
Du fragst dich, ob ich als Kind und Jugendliche in Schweden einen Anpassungsdruck an weibliche Normen spürte. Vermutlich. Ich erinnere mich, wie es mich quälte, dass von einem Mädchen erwartet wurde, Rock tragen, um schick auszusehen, und dass von ihr erwartet wurde, auf eine Weise anders als ein Junge zu sein, die mir nicht gefiel. Aber ich ignorierte es weitgehend und kann mich nicht erinnern, dass es mich hemmte in dem, was ich wollte. Ich machte das, was sich für mich natürlich anfühlte innerhalb des Rahmens der begrenzten Freiheit, die man als Kind unabhängig vom Geschlecht hat. Aber zweifellos gab es eine Erwartung, zu der man sich verhalten musste, entweder indem man sich an diese Erwartung anpasste oder in Form der Revolte. Doch ich war sicherlich weniger davon beeinflusst als die meisten Mädchen, weil ich als mein wichtigstes Betätigungsfeld den Sport hatte, wo Muskeln verlangt wurden und typisch weibliches Verhalten ungünstig für den Wettkampf war.
Herzliche Grüße, Lena

October 30th, 2016 – Brief nach Stockholm versendet (Strubel an Andersson)

Anfang Juli, Potsdam

Was aber, liebe Lena, wenn das Glitzerkostüm von Florence und Maritas strenges Blau beides das Wesentliche sind? Nichts wird verborgen, alles ist da. Ist nicht das eine wie das andere ein Zurschaustellen (artisteri), nur von jeweils unterschiedlichen Dingen, abhängig vom System, das sie repräsentieren? Die eine ist so echt wie die andere. Koch stellt mit ihrem kämpferischen Antibiotikakörper und dem selbstverleugnerischen Aufgehen in der Mannschaft den Sozialismus zur Schau, Griffith-Joyner mit ihrem tänzerischen Transkörper und der Verherrlichung der Einzelleistung den Kapitalismus, kollektivistische Wahnvorstellung von Überlegenheit, versus individualistische Wahnvorstellung von Überlegenheit. Danach gehen sie zusammen ein Vitaminwasser trinken, und nichts fällt von ihnen ab, sie häuten sich nicht, kein „wahres“ Gesicht kommt zum Vorschein (vielleicht ein erschöpftes). Beide stellen Wirklichkeit her, und „echt“ oder „unecht“ trifft für mich als Beschreibung nicht zu, weil die Wirklichkeit, in der wir stecken, immer echt erscheint. Sie beruht auf Strukturen, wie du auch schreibst, die von Menschen konstruiert, also veränderbar und gefährdet sind; inklusive der Kategorien von richtig und falsch und worauf sie – zeit-und gesellschaftsabhängig – angewendet werden. Das kollektivistische Wertesystem meiner Kindheit und Jugend ließ sich erstaunlich problemlos in ein individualistisches umwandeln, was sich – beängstigenderweise – ebenso problemlos in ein radikalreligiöses oder nationalrassistisches Wertesystem umwandeln lassen dürfte. Surface is an illusion, but so is depth, wie David Hockney so treffend formulierte.
Beim Lesen deines Briefes fragte ich mich, ob wir als Schriftstellerinnen, die wir uns hier im geschützten Raum Sorgen machen und Cameron kritisieren, auf irgendetwas Einfluß nehmen können. Joan Didion schrieb: „Wenn ich daran glauben könnte, dass es das Schicksal der Menschen auch nur im geringsten beeinflussen würde, auf die Barrikaden zu gehen, dann würde ich auf diese Barrikaden gehen, und häufig wünsche ich mir, ich könnte daran glauben, aber es wäre nicht ganz ehrlich zu behaupten, ich verspräche mir davon ein Happy-End.“
Du warst Leistungssportlerin und kamst danach zum Schreiben. In deinem jüngsten Roman „Utan personligt ansvar“ stieß ich auf eine Stelle, wo es sinngemäß heißt, Ester, die Hauptfigur, habe den Sport an den Nagel gehängt, als sie verstanden habe, dass das Denkvermögen keiner genialischen Veranlagung entspringe, sondern ebenso trainiert und verbessert werden könne wie die körperlichen Fähigkeiten. Abgesehen von der Frage, ob das dem ähnelt, wie du Schriftstellerin geworden bist, würde mich interessieren, ob du glaubst, dass das auch für Gesellschaften gilt. Ob Gesellschaften also langfristig verbesserungs- und lernfähig sind.
Ich habe in letzter Zeit den Eindruck, es ist der schlichteste menschliche Reflex, wabernder Instinkt, was da zurück an die Oberfläche gespült wird. Schließlich muß ja mal Schluß sein mit dieser ewigen, anstrengenden Reflektion darüber, welches Fleisch wir essen dürfen, Menschen mit welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welcher Glaubensrichtung, welcher Sexualität wir wie bezeichnen dürfen oder nicht, Schluß mit dem ewigen Diskutieren, Zermartern und Hinterfragen; ein Mann soll ein echter Mann sein (wie ich gestern abend wieder in einem Café hörte, wo man die Fußball-EM diskutierte und schnell ausgemacht hatte, wer unter den Deutschen, Franzosen, Isländern eindeutig wie ein Schwuler aussah), meine Heimat soll eine wahre Heimat sein, nämlich mir allein gehören mit allen Steakrestaurants, die reinpassen, egal, ob das Rind geschunden wurde oder nicht.
Das Barbarische, was da hochkocht, findet zeitgleich mit einer bis zur Ornamentik gesteigerten Hochkultur statt. Fatal, sollte der Barbar auch ein Reflex auf die ornamentalen gedanklichen Verrenkungen sein! In dem Netzwerk gebildeter, liberaler Damen, dem ich angeschlossen bin, gibt es durchaus die Meinung, daß Ganzkörperverschalungen, unter denen Frauen zu einem Nichts verschwinden, akzeptabel sind, und erst neulich kam von dort eine Begründung, warum Männer, die Frauen nicht die Hand geben, irgendwie doch auch vernünftig handeln.
Scheint es da nicht schlichtweg irrelevant zu werden, wie sehr eine Gesellschaft bis in die Tiefe hinein Demokratie trainiert hat? Ob in Mitteleuropa, Großbritannien, Skandinavien oder den USA; überall soll eine klare Linie her. Dem einen Prozent der Weltbevölkerung, die das Kapital und damit die Macht gerade unter sich aufteilt, kommt das sehr gelegen; eine Masse, die freiwilig das Denken an den Nagel hängt, lässt sich leicht beherrschen.
Joan Didion hätte gesagt: Das Herz der Finsternis liege nicht in einem Fehler der gesellschaftlichen Ordnung, sondern den Menschen im Blut. Wenn es den Menschen bestimmt sei, Fehler zu machen, sei notwendigerweise jede gesellschaftliche Ordnung fehlerhaft. Ihr und dem Kulturpessimisten Joseph Conrad zufolge ist gesellschaftliches Engagement fruchtlos.
Die Konsequenz, die Didion daraus zieht, finde ich interessant: Angesichts einer grundsätzlichen Sinnlosigkeit erklärt sie die Offenlegung eines unsauberen Denkens zur moralischen Pflicht. Die hohlen Idealisierungen, den Selbst-und Fremdbetrug unserer Reden, die Verlogenheiten öffentlicher, medialer, politischer Diskurse und unsere Sucht, uns mit Heilsversprechen und Illusionen über die grundsätzlichen Unzulänglichkeiten des Daseins hinwegzutäuschen, gelte es zu entlarven, die Sprache selbst also zu sezieren, um zu zeigen, wie sie gebraucht und mißbraucht wird und sich den gesellschaftlichen Zweckmäßigkeiten anschmiegt.
Für mich bleibt die Frage: Wie weit sollten wir uns als Schriftstellerinnen einmischen? Und: tun wir das als Privatpersonen, die einen privilegierten Zugang zur Presse und Öffentlichkeit haben oder tun wir das in unserer Literatur? Selbst wenn wir Didions Verpflichtungserklärung folgen, hätte das eine Wirkung? Und wie weit darf eine Einmischung gehen, ohne dass wir uns funktionialisieren lassen? Verhält es sich da nicht so, wie Hjalma Söderberg es einmal formulierte: „Es ist nämlich mit der Wahrheit wie mit der Sonne. Ihr Wert hängt für uns einzig und allein von der richtigen Distanz ab.“
Solange Literatur eine gesellschaftliche Randerscheinung ist, kann sie immerhin ein Spielplatz sein, ein Ort, an dem die Grenzen der Wirklichkeit mithilfe der Erfindung verwischt und neu gestaltet werden. Und das eigene Leben zu erfinden, so dass es einem auf ureigene Weise gehört, zählt für mich zu den aufregenden Momenten, die die Literatur der Realität voraus hat. Aber auch solche Spielplätze können natürlich jederzeit in die Bredouille geraten, verteidigt werden zu müssen …
Was denkst du?
Herzlich, Antje