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Carlo Ihde Dana Grigorcea

30. November 2016 – Brief nach Zürich versendet (Ihde an Grigorcea)

Liebe Dana Grigorcea,

Mein Name ist Carlo Ihde, ich wurde 1986 in Schwerin geboren, in der damaligen DDR.  Schon allein über dieser Formulierung entzweien sich manchmal die Geister. Kann man sagen die „damalige“? Dann müsste es auch eine „heutige“ geben. Kann man schreiben: „ehemalige“ DDR? Dann wäre sie heute noch existent, hieße nur anders. Mein weitestgehend reibungsloses Aufwachsen nach der politischen Wende verdient kaum Erwähnung, auch nicht meine in Rostock an der wunderschönen Ostseeküste abgeschlossenen Studien der Germanistik, Philosophie und nun des Journalismus, den ich noch nebenberuflich an der etwas weniger schönen Ostseeküste in Kiel studiere. Ich arbeite seit dem vergangenen Sommer als Redakteur bei der Schweriner Volkszeitung, einer großen Tageszeitung in Norddeutschland, bin daher viel unterwegs und im dauernden Gespräch mit Menschen unterschiedlichster Herkunft. Diese Dinge musste ich vorwegschicken, denn man kann meine Biographie nicht bei Wikipedia nachlesen, dafür bin ich zu klein und unbedeutend.

Kürzlich las ich Ihr Buch „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ und habe es als ein schillerndes Mosaik aus Stadterfahrungen und traumhafteVergegenwärtigungen erlebt. Der Titel ist etwas sperrig, auch wenn er ein Zitat aus dem Text ist. Bukarest als Schauplatz ist mir auch etwas sperrig vorgekommen, vielleicht nur mir, denn ich weiß über die Stadt nichts. Der Blick in meiner Generation, der zuletzt im vermeintlich sozialistischen Teil Deutschlands Geborenen, ging wie selbstverständlich nicht mehr in den Osten. Unsere Eltern wollten mit dem Osten nichts mehr zu tun haben und schenkten uns diese Haltung genauso wie den Atheismus. Es wandelt sich wieder. Heute gucken Leute zwischen 20 und 30 Jahren zum Beispiel auf Städte wie Warschau, Sofia oder Herrmannstadt und sehen unterschätzte Zentren der europäischen Kultur in ihnen. Und wir lernen hoffentlich dabei, unseren hochmütigen Glauben zu verlernen, dass wir das Zentrum seien. Das ist gut so. Was ich über Rumänien weiß, ist nicht viel. Außer, dass das politische und auch persönliche Ende von Ceausescu und seiner Frau ein interessantes Medienereignis war. Der Ostblock machte auf einmal selber Schluss mit sich. Meine Eltern berichten noch heute von ihren unmittelbaren Eindrücken aus dieser Zeit, wie sie am Fernseher der Hinrichtung zweier seltsamer alter Leute beiwohnten. Was ich über Rumänien weiß, ist daher leider immer noch und nur die obszöne Geltungssucht eines Despoten, der sich einen Palast des Volkes hinstellte, und damit die Blaupause für moderne Prunksucht geliefert zu haben scheint, wie sie etwa kürzlich ein Präsident Erdogan aktualisiert. Ceausescu verstand damals die Welt nicht mehr, ich glaube, er ist bis zuletzt aus seinem Traum nicht erwacht.

Sie leben in Zürich? Ich komme aus einer Verlegenheit in die andere, denn  zugegebenermaßen weiß ich auch über die Schweiz nicht viel und gerate selten an jemanden, der authentisch aus der Innenperspektive über dieses Land reden kann. Ich finde, es gibt in Deutschland eine gigantische Armut an Nachrichten von unserem Nachbarn Schweiz. Man weiß außer bei diversen Wahlen, außer bei der Käseherstellung, Banken und Bergsteigern – oder vielleicht mal einem Tunnel – kaum etwas Gescheites zu berichten. Ich glaube, den Medien in Deutschland entgleitet die Schweiz als Thema. Sie gehört nicht in das Staatenbündnis EU, von der wir Berichtsimpulse zugleich fraglos akzeptieren. Die Schweiz findet praktisch nicht statt. Man kann sie sich nur gegen diesen Widerstand selber auf die Agenda holen. Es gibt einen Schweizer, den ich schon vor vielen Jahren sehr liebgewonnen habe, als Leser seiner Kolumnen zumindest: den Schriftsteller Peter Bichsel. Aber durch ihre Bedächtigkeit, Einfachheit und unpädagogische Gelehrtheit dürften seine Texte es immer schwerer haben, geneigte Leser zu finden.

Sehnen Sie sich nach Rumänien? Schmieden Sie sich manchmal Fantasien, wie das Land sich entwickeln sollte? Ich frage mich oft, zum Beispiel auch, ob es Ländern wie Moldawien helfen würde, wenn die gut ausgebildeten Exilanten der mittleren und jüngeren Generationen sagen: Wir kommen wieder und machen Schluss, Schluss mit Korruption, mit Nationalismus und allem, was das gesellschaftliche Klima vergiften kann. Die Mobilität der jungen Nomaden führt sie eher in den Westen. Wer da bleibt und den harten Wandel gestaltet, ist oft umgeben von Leuten, die gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Selbst in einem wohlhabenden Land wie Groß Britannien kennen unzählige junge Leute, auch Studenten, ihre Zukunftsperspektiven nicht mehr, entscheiden sich mit dem Brexit für geschlossene Schranken. Sie gehen einem Kampf auf den Leim, den man als Rückzugsgefecht beurteilen muss. Sie kapitulieren und ertrinken in Komplexität. Wir alle schwimmen in ihr, kommen da nicht raus. Nicht jeder aber muss daraus die Konsequenz ziehen, sich in Scheingefechten an den Problemen der schlechten Welt von gestern abzuarbeiten. Das müssen nur manche. Vorrangig Populisten. Und es sind die Populisten, die gerade Europa auf den kleinsten aller kleinen gemeinsamen Nenner bringen wollen. Ich kann mir nur wünschen, dass sie scheitern.

Das Konfliktbewusstsein von Populisten mag partout nicht aufwachen, nicht erwachsen werden, nicht in der Gegenwart ankommen. Apropos „partout“: Ich weiß doch noch etwas mehr von der Schweiz: Toblerone und Dreisprachigkeit. Lassen wir die Schokolade beiseite, dann bleiben der deutschsprachige Norden, der französische Westen und der ins Italienische wechselnde Süden. Ganz grob. Sprechen Sie Französisch oder Italienisch? Ich habe mich mal bemüht, aber je ne l’ai pas appris…. Glaube ich. Vielleicht hat mich auch immer eine gewisse Fantasie vom wirklichen Erlernen einer weiteren Sprache nach Englisch ferngehalten. Meine latente Angst ist wohl, sollte ich eines schönen Tages Französisch auf so gutem Umgangsniveau sprechen, dass ich dort ohne weiteres Leben könnte, dann würde ich wohl nicht mehr länger in Deutschland bleiben. Ja wirklich befürchte ich manchmal, eine neue Sprache zu haben, könnte heißen, sich in der alten hoffnungslos deplatziert zu fühlen. Albern eigentlich als Idee, wenn man sie auf ihren Wirklichkeitsgehalt abklopft, aber poetisch vielleicht, wenn man sie als Möglichkeit durchspielt. Vielleicht habe ich an der Universität mich deshalb so gerne ins Althochdeutsche vertieft, denn ein wirkliches Exil im 9. Jahrhundert finden zu können, gehörte zweifellos ins Reich der Märchen.

Ich wollte Ihnen diesen Brief nicht geschrieben haben, ohne nicht zugleich auf meine Empörung hinzuweisen. Meine Empörung hat keinen vernünftigen Adressaten.  Es beschämt mich täglich aufs Neue, was ich in sozialen Netzwerken lesen muss. Was da stehen bleibt, offensichtlich unbehelligt stehen bleiben kann. Jeder darf sich mal aussprechen, in Tonfällen und Worten, die kein Ohr hören sollten. Ich bin empört. Ich weiß im Moment nicht mehr so richtig, wohin mit meiner Empörung. Die Gründe werden zahlreicher, sich gehörig über den sich immer ungenierter gebärdenden politischen Rollback zu empören. Und viele Länder der Europäischen Union betreiben gerade eine Rückabwicklung der europäischen Ideen.  Wir wissen, dass das EU-Recht rein rechtssystematisch über nationalem Recht steht. Nun könnte die EU zum Beispiel mit Blick auf Polen und andere Länder befehlen: „Sorgt für die umfangreiche Sicherstellung der Pressefreiheit.“ Aber die EU macht es nicht. Sie verzichtet auf die konsequente Anwendung ihrer Kompetenzen. Klar hat sich Deutschland seinerzeit führend am Dublin-Abkommen beteiligt. Als größter Stimmenhalter in der Europäischen Union ist ein Abkommen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in dem Erstankunftsland gewährt, besonders günstig für ein Land, bei dem keine Landesgrenze eine EU-Außengrenze ist. Zwar ist uns diese Scheinheiligkeit – dieses Ausnutzen von Europa zum eigenen Vorteil oder das Umgehen von Europa für den Nationalismus – auf die Füße gefallen. Ich bin aber empört, dass die Schuld zunehmend individualisiert und einer Wortäußerung unserer Kanzlerin Angela Merkel zugeschrieben wird. Je flacher das Weltbild, desto lieber glaubt man an die echte Magie von Worten. Magisches Denken ist ganz offensiv gegen-aufklärerisch. Die politische Kultur verroht, gerät auf die schiefe Ebene. Ich bin auch darüber empört, dass Empörung heutzutage sich häufig von denen angeeignet wird, die keine Argumente, sondern nur postfaktische Emotionen die politische Agenda bestimmen lassen wollen. Wohin mit dieser Empörung, ohne dass sie nur an den Wänden der eigenen Filterblase widerhallt?

Eine Antwort könnte sein: Journalismus in aller Ernsthaftigkeit aber dennoch humorvoll betreiben. Wir brauchen mehr davon. Mehr Fakten, die uns mit dem Ernst konfrontieren, aber auch  mehr kritische Positionen zu unserer eigenen Haltung. Wie sind Sie zum Journalismus gekommen? Den Journalistenberuf ergreift wohl nur jemand, der aus seinem kritischen Geist das Bedürfnis nach Aufdeckung und Entlarvung ableitet. Journalisten sind als Zeitschreiber oder auch Chronisten wahrscheinlich nicht geeignet, einen übermäßigen Bedarf nach Übereinstimmung zu entwickeln, der sie zu Gefälligkeitsporträts verleitet. Und auch wenn in Deutschland eine lautstarke Minderheit gerade meint, auf kritischen Journalismus, so er ihre Kreise zu sehr stört, verzichten zu können, stehen die Zeiten besser denn je für den Journalismus. Er muss die Mechanismen sichtbar machen, die gerade jetzt für argumentative Zugeknöpftheit werben, die bloße Emotionen zur politischen Agenda machen wollen. Er muss zeigen, dass aus der komplexen Welt auch nicht mit einem schwarz-weißen Kopfkino zu entrinnen ist. In letzter Zeit wird öfter argumentiert, dass es die Arroganz der politischen Linken gewesen sei, die zum Erstarken der Rechten führt. Das ist wieder typisches Schwarz-Weiß-Denken. Die Linke wurzelt in dem Bewusstsein, dass zur Veränderung der Gesellschaft das Aufdecken ihrer Funktionen „unter“ der Oberfläche der sichtbaren Erscheinung gehört. Daher ist es soziologisch gar nicht verwunderlich, dass sich Journalisten häufiger selbst links verorten. Mit der Angst, mit der die Rechten operieren, dringt man nicht unter die Oberfläche sondern man spielt weiterhin „auf“ ihr. Es ist nicht die Arroganz der Linken, sondern die Unfähigkeit der flachen Geister, sich in der Komplexität zurechtzufinden. Besonders scheint mir das für Deutschland auf dem Gebiet der ehemaligen DDR der Fall zu sein. Die DDR sei ein verlängerter Nachkriegszustand gewesen, sodass man auf den Zweiten Weltkrieg noch 40 Jahre künstliche Paralyse draufschlagen würden, „das Erwachen daraus ist sogar im Märchen nicht unbefleckt“ schrieb 1992 Irina Liebmann, als Schriftstellerin aus der DDR ausgereist und kurz vor der politischen Wende in Klagenfurt beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Wie lange dauert so ein Aufwachen aus der Paralyse, wenn man Strategien zur Willkommenheißung der Freiheit nie gelernt hat? Wie wach ist Rumänien, wie wach die Schweiz? Wir leben irgendwie in einem verlängerten Aufwachzustand, es ist ungefähr so, als würden die Kräfte, die am geistigen Rollback arbeiten, glauben, wir wären auf dem Wege der Besserung, wenn wir es verstehen, das Koma der Humanität zu verlängern. Jetzt müssen Kunst und Journalismus mehr denn je praktische Bewahrer der Humanität sein. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich hauptsächlich solchen Fragen widme. Ich kann nur so ganz bei dem bleiben, was mir in Europa gerade das dringlichste scheint.

Apropos, wo wir mit Irina Liebmann schon mal beim Bachmannpreis waren: Freuen würde ich mich über Schilderungen Ihrerseits, wie Sie Ihre damalige Lesung vor laufenden Kameras in Klagenfurt erlebt haben. Oder auch den Betrieb jenseits der Scheinwerfer. Ich erinnere mich noch gut daran, ohne damals zu wissen, dass ich mal in die Verlegenheit komme, Ihnen einen Brief zu schreiben. Wie wird man eigentlich zu so einem Spektakel eingeladen? Wie kamen Sie dazu? Mit freundlichen Grüßen aus einem Alltag, der gerade  in verlässlicher Dunkelheit zwischen Nachtfrösten und Nieselregeln schwankt…

Carlo Ihde

20. Dezember 2016 – Brief nach Schwerin versendet (Grigorcea an Ihde)

Zürich, den 20.12.2016
Lieber Carlo Ihde,

das Lesen Ihres Briefs, für den ich Ihnen danke, war für mich eine dieser Tätigkeiten im Advent, die im geeichten und randvollen Alltag zunächst kaum machbar scheinen – und einen dann doch auf Themen bringen, die wesentlich sind.

Am Anfang war ich nämlich etwas irritiert über das ausgestellte Unwissen, mit dem Sie mich konfrontieren: Ich verstehe nichts von ihren Romanen, ich kenne Rumänien nicht, ich kenne die Schweiz nicht, von der Schweiz kenne ich nur Toblerone und die Dreisprachigkeit (die Schweiz hat vier offizielle Landessprachen). Was sollte ich darauf antworten? Ich war versucht, den Brief beiseite zu legen.

Ich habe ihn aber gelesen. Vielleicht, weil ich ein Leser bin, wie ihn Peter Bichsel definiert hat, ein zwanghafter Allesleser. Und weil ich mich an Franziska Henn erinnert habe: Sie war meine erste Brieffreundin und kam aus der damals gerade frisch untergegangenen DDR.

Sie beschäftigen sich mit dem Wort „ehemalig“, weil es kein Pendant mehr zu dem gibt, was es benannte, nichts in der Gegenwart, was das „ehemalige“ Gleichgewicht wiederherstellen könnte. Hat aber nicht die kommunistische Diktatur die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht gebracht? Und entsteht Gleichgewicht nicht doch besser aus der Beseitigung des Ungleichgewichts? Natürlich, als reich sprachwissenschaftliche Frage käme die Antwort ohne „ehemalig“ aus. Denn die DDR gibt es so, wie man sie kannte, nicht mehr.

Zurück zu Franziska Henn: Wir hatten ganz unterschiedliche Handschriften. Ich schrieb mit dunkelgrüner Tinte und hatte da schon eine gleichmässige, längliche, nach rechts geneigte Handschrift, während Franziska mit hellblauer Tinte schrieb, mit breiter Federspitze und grossen, klobigen Buchstaben. Mein R glich ihrem N, und ihr R meinem I. Franziskas Handschrift war für mich ein Faszinosum; über die Banalitäten, über die wir uns als Elfjährige austauschten, hinaus, die eigentliche Erkenntnis, dass es so was wie den Anderen gibt.

Wo Franziska Henn heute wohl ist? Zu meinem Erstaunen findet sich ihr Namen auf Facebook gleich ein Dutzend Mal, und ich habe gestern die Falsche angeschrieben.

Diese Neugierde, was aus den Bekannten von früher geworden ist, hatte ich auch beim Schreiben meines zweiten Romans. Da hatte ich nach meinen rumäniendeutschen Lehrern aus Bukarest gesucht und nach alten Schulkameraden. (Gibt es denn auch „neue“ Schulkameraden?, könnten Sie hier fragen und im Chat auch ein Smiley hinzufügen.)

Ich wurde im Internet fündig. Die eine Schulkameradin aus Bukarest, Ileana, die Enkelin eines kommunistischen Ministers, hat sich nach der Wende mit ihrer Familie nach Australien abgesetzt. Sie ist jetzt Opernsängerin, und es gibt auf YouTube ein wunderbares Konzert von ihr in Japan zu sehen. Eine riesige blonde Walküre ist sie geworden, und doch habe ich sie gleich erkannt. Glauben Sie an Entelechie, Herr Ihde?

In der Schule hatten wir alle gedacht, Ileana hätte deutsche Vorfahren, weswegen sie auch zuvorderst, in der ersten Bank, sitzen durfte. Unsere Lehrer mochten uns nämlich nach dem Prozentsatz deutschen Bluts in die Bänke setzen, je dunkler man war, desto weiter hinten wurde man plaziert. Um überhaupt in die deutsche Schule aufgenommen zu werden, musste man die Existenz eines deutschstämmigen Familienmitglieds belegen. Ein Name mit Doppel-T in meiner Familie hatte ausgereicht. Und auch die anderen Kameraden wurden mit lächerlichen Argumenten durchgeschmuggelt, so viele deutsche Nachkommen hätte es in Bukarest gar nicht geben können.

Die deutsche Schule war damals die einzige Schule, an der man zweisprachig unterrichtet wurde, also äusserst begehrt. Hier muss ich Ihnen sagen, Herr Ihde, dass in Rumänien die Zweisprachigkeit, und die Vielsprachigkeit sowieso, erster Hinweis für eine gute Bildung ist. Zu Hause zu sein in mehreren Sprachen, gehört zum Ziel des Lehrlings schon seit dem Mittelalter eigentlich, wenn man die alten Chroniken aus Moldawien heranzieht. Mein Vater hatte die französische Schule besucht, aber die war dem kommunistischen Regime zu bourgeois und wurde geschlossen, wie auch die anderen Fremdsprachschulen. Übrig blieb nur die deutsche Schule, die der deutschen Minderheit Rumäniens vorbehalten blieb.

Ausser mir hat in unserer Familie nur noch meine Grossmutter Deutsch gesprochen, denn sie hat es im Internat der Englischen Fräulein gelernt. Meine Mutter zum Beispiel, die wegen ihrer „ungesunden Herkunft“ keine europäische Sprache studieren durfte, hat Arabisch studiert. Sie behauptet, dass sie die Sprachen, die sie anschliessend gelernt hat – Englisch, Französisch und Ungarisch – übers Arabische gelernt hat.

Sie schreiben, dass Angst davor haben, sie könnten sich mit dem Erlernen einer neuen Sprache in der alten „hoffnungslos deplaziert“ fühlen. Bei mir ist es umgekehrt: Ich fühle mich, wenn, dann nur beim Erlernen, also beim noch nicht Beherrschen einer Sprache deplaziert. Das Eigene und alles zu eigen Gemachte kann mir nicht mehr fremd werden, wie sollte es auch?

Die rumänische Sprache ist mir aber nach der Wende deshalb fremd geworden, weil ich verstanden habe, dass Worte und Ausdrücke verbraucht waren, dass man vieles gar nicht mehr in gleicher Weise sagen konnte wie zuvor. Manches hat man dann weiterhin gesagt, aber ohne es zu meinen. Eine neue Ironie kam auf, die eigentlich eine Verschleierung der Unfähigkeit war, den richtigen Ausdruck zu treffen. Es war die Abkopplung der Sprache vom Individuum. Dieser Hang zur Ironie und zum Gespött ist dann zum Wesenszug der rumänischen Gesellschaft geworden und hat viele gesellschaftliche und politische Entwicklungen gehemmt.

Da hat mir nur die Literatur geholfen, das Lesen von Büchern aus der Zwischenkriegszeit und das Lesen von Lyrik. Ich halte Lyrik für die Urzelle der Sprache. Und dann haben auch die anderen Sprachen geholfen, das Hin- und Her-Übersetzen, denn das Übersetzen lehrt einen Akribie. Während der Studienzeit in Bukarest war ich Simultanübersetzerin im Kunstkino.

Und dann war auch ich wie Sie begeistert vom Althochdeutschen, später mehr noch vom Mittelhochdeutschen, etwa vom „Parzival“. Das Elsterngleichnis musste ich damals immer wieder zitieren, Parzivals Schluss, dass es eben nicht nur Schwarz und Weiss gibt, Gut und Böse, sondern dass alles in der Welt ineinander geht wie im Gefieder einer Elster.

Sie fragen, ob ich mich nach Rumänien sehne. Das ist eine Frage, die man sonst Exilautoren stellt, und ich bin jünger, lebe in einer anderen Zeit, habe – um es mit Helmut Kohl zu sagen – die Gnade der späten Geburt erfahren. Ich bin auch keine junge Nomadin, wie Sie schreiben, sondern eine Flaneurin. Ich lebe in der Schweiz, könnte aber jederzeit wieder in Rumänien leben. Überhaupt ist Rumänien nur ein Klick weit von mir entfernt, denn ich informiere mich über Politik und gesellschaftliche Entwicklungen, gehe immer abstimmen und schreibe auch über Rumänien. Ja, dies war ein Grund meiner Irritation beim Lesen: Sie sind sehr grundsätzlich im Formulieren und benutzen manche Begriffe, die von unserer Gegenwart überholt worden sind.

Die Gefahr, in überholten Begrifflichkeiten zu erstarren, ist übrigens mein Grund, um nicht mehr hauptsächlich als Journalistin zu arbeiten. Im Journalismus wird eine gehetzte Art kultiviert, die einen davon abhält, über den Alltag hinaus zu reflektieren. Die Literatur hingegen kultiviert den Müssiggang, und Müssiggang braucht auch unsere Demokratie. Diese so schöne Aussage gehört eigentlich nicht mir, sondern dem Schriftsteller Martin Prinz, den mein Mann und ich für unseren Literaturblog www.neue-telegramme.ch interviewt haben. Dort sagt Martin sehr treffend, dass ein Gutteil der Krise unserer Welt den Verkürzungen, der Atemlosigkeit und der Marktschreierei unserer Gesellschaft geschuldet ist.

Ich verstehe nicht recht, was Sie mit humorvollem Journalismus meinen.

Ich verstehe, dass Sie als Journalist arbeiten. In welchem Bereich? Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?

Ich habe meinen zweiten Master in Journalismus gemacht, in Österreich, wo dieser Studiengang „Qualitätsjournalismus“ genannt war. Danach habe ich beim Fernsehen gearbeitet, beim Radio, bei der Zeitung und auch Online. Journalismus habe ich auch unterrichtet, habe bei einer Schweizer Hochschule den Bereich Fernsehen aufgebaut und verantwortet. Am schönsten war es, Medienethik zu unterrichten: Wir haben uns anhand von aktuellen Fällen über den angemessenen Umgang mit Information unterhalten. Es war ein Kurs, bei dem niemand doziert hat, wir haben den Weg durch Dialog befunden.

Sie fragen, wie wach die Schweiz sei und wie wach Rumänien. Nun, dem immer besseren Bildungsstand der Schweiz nach zu urteilen, bin ich sehr zuversichtlich für die Zukunft der Schweiz. Die Schweiz hat mündige Bürger und eine Zivilgesellschaft. Die Abstimmungssonntage hier sind ein wahres Fest: Die Abstimmungsvorlagen zu lesen, die Initiative, den Gegenvorschlag, darunter säuberlich aufgelistet, von wem was stammt, welche Interessen was unterstützen und was Bundesrat und Nationalrat dazu sagen, ist eine schöne Bestätigung, dass es doch noch Orte gibt, an denen Bürger mündig sein können und Wahlen und Abstimmungen im Grossen und Ganzen zivilisiert ablaufen.

Zu Rumänien kann man nicht viel Erfreuliches sagen, weil das Land tief in einer Bildungskrise steckt, vor allem in den ländlichen Gegenden die Menschen wenig Chance auf eine gute Ausbildung haben und somit periodisch, zu den Wahlen, in die Fänge der alten Nomenklaturisten geraten. (Ob es neue Nomenklaturisten gibt, könnten Sie hier fragen. Ja, es gibt sie leider: Die neuen sind immer noch die alten und deren Zöglinge, eine Fortführung derselben mafiösen Mentalität.) Menschen mit wenig Bildung bilden eine manipulierbare Masse, die den gesellschaftlichen Impetus des Landes hemmen. Sie haben wahrscheinlich mitbekommen, wie die letzte Parlamentswahl in Rumänien ausgegangen ist. Eine Schweizer Zeitung hat sehr treffend getitelt: „Die Renaissance der Schamlosen.“ Es sind wieder jene an der Macht, die sie schon vor der Wende innehatten.

Im November war ich für zwei Wochen in Rumänien, da mein zweiter Roman ins Rumänische übersetzt worden ist und mich der rumänische Verlag auf Lesereise geschickt hat. Vom Publikum der Literaturveranstaltungen ausgehend, wähnt man sich in einem Land mit sehr hohem Bildungsniveau und blühender Kultur. Im Vergleich zu Deutschland beispielweise sind die Leser in Rumänien durchschnittlich gebildeter und auch kritischer, dies aber, weil Lesen kein Massenphänomen ist, sondern nur einem verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung „vorbehalten“ ist. Es lesen also wenige, aber die Lesenden suchen nach anspruchsvoller Literatur, nach Sprachexperimenten und nach Themen, die sie mit Fragen entlassen und nicht nach solchen, die sie bestätigen. Als Autor auf Lesereise ist man da im Paradies.

Überhaupt waren in Rumänien seit der Wende die Autoren hoch angesehen, denn sie waren ein Sprachrohr der Gesellschaft. Nicht wenige haben regelmässig Zeitungskolumnen geschrieben und sich laufend zur Tagespolitik geäussert. Nun aber ziehen sich die Autoren zurück, enttäuscht von der quälenden Langsamkeit des so heiss ersehnten gesellschaftlichen Fortschritts. „N-ai cu cine“, „Du hast nicht mit wem“ ist ein sehr geläufiger Ausdruck in Rumänien, ebenso geläufig ist die Bezeichnung „prostime“ für die Gemeinschaft der Dummen und Ungebildeten. Die intellektuellen Eliten ziehen sich zurück ins Private und überlassen das Feld den Manipulatoren und ihren Parolen.

Es mag entmutigend sein, in einer Welt zu leben, die an Selbstgefälligkeit krankt, an einem Verharren im Grundvokabular und im Halbwissen. Es wird mit Parolen geschwungen, die im Flug aufgegriffen und mit grossem Pathos zu eigen gemacht werden. Man hinterfragt sich immer weniger in unserer Gesellschaft, man hat keine Fragen, man hat nur Gewissheiten. Ich vermisse heutzutage den Diskurs, die Ruhe im Diskurs, ja immer mehr fehlt mir eine Kohärenz im Diskurs, und überhaupt der Wille zur Kohärenz.

Ein Rückzug der Eliten wäre aber das falsche Signal für eine Gesellschaft im Aufbau, überhaupt für jede Gesellschaft und für unser Europa, das noch lernen muss, an seinen humanistischen Werten festzuhalten, sowieso.

Es braucht Bildung, mehr Bildung durch die schulischen Institutionen und mehr Bildungswillen überhaupt. Bildung an sich, die humanistische Bildung soll wieder ein Wert sein.

Haben Sie Kinder, Herr Ihde?

Ein Kind im Alter unserer Tochter hatte in der Krippe eine Beiss-Phase. Es hat alle Kinder, die ihm in die Quere kamen, gepackt und gebissen. Und wenn ihm kein Kind in die Quere kam, ist es einem hinterhergelaufen, um es zu beissen. Die Eltern waren sehr besorgt über sein Verhalten, haben Fachliteratur gelesen und sich professionell beraten lassen. Es sei der grosse Druck der Sprachlosigkeit: Sobald das Kind anfangen würde zu reden, würde es aufhören zu beissen. Und so ist es dann gewesen. Es hat niemanden mehr gebissen, denn es konnte sagen, was es bewegt.

Schöne Grüsse von der Limmat-Stadt,
Ihre Dana Grigorcea

4. Januar 2017 – Brief nach Zürich versendet (Ihde an Grigorcea)

Sehr geehrte Dana Grigorcea,

Vielen Dank für Ihren Brief aus der Adventszeit an der Limmat. Ich danke Ihnen sehr dafür, dass Sie die Dinge, die Sie an meinem ersten Brief verunsicherten, benannt und mein Unwissen nicht zum Anlass genommen haben, mich abzuschreiben. Offene Flanken zu zeigen und Angebote zu machen, scheint mir immer die elegantere und ehrlichere Lösung, als eilig zusammengelesenes Wissen über die Schweiz niederzuschreiben.

Eigene Kinder habe ich nicht, mit meinen 30 Jahren, einem Fulltimejob mit einem Fernstudium nebenher: Ich mache mir keine Illusionen, es passt auf absehbare Zeit nicht in meine Lebensmuster. Darunter leide ich nicht, auch wenn zugegebenermaßen diese Muster auch noch nicht optimiert und nicht restlos erfüllend sind, aber man muss ja etwas machen. Gerne hätte ich neben der journalistischen Arbeit mehr Zeit für Literatur, aber es ist schon schwierig genug, Zeit für anderes aufzubringen, etwa das Klavierspielen, das seit etwa 20 Jahren zu mir gehört. Es mag wenig nach Apologie klingen, nach der man trotzdem ein fragwürdiger Mensch bleibt. Aber als Onkel habe ich doch öfter Kinder um mich herum, eine jetzt sieben Wochen alte Nichte namens Marlene (sie schläft und trinkt viel, nimmt in Rekordzeit zu und wächst) und einen bald vierjährigen Neffen namens Leopold, bei dessen Spiel am liebsten immer Action sein soll. Leopold ist sehr schnell zur Sprache gekommen, hatte neben seinem körperlichen Überschuss immer einen sprachlichen. Bei meiner Schwester soll es so gewesen sein, dass sie früh anfing zu sprechen, aber lange Zeit in falscher Grammatik, eher noch nach den Zusammenhängen suchend. Ich hingegen soll später angefangen haben zu sprechen, dann aber richtig. Ein wenig wie es mir früher nachgesagt wurde, kann Leopold mit seinen Witzen Erwachsene in Windeseile um den Finger wickeln. Manche sind verwundert, wo er seinen Wortschatz her hat. Der Grund ist wohl: In der Erwachsenenwelt hört man sich selber und einander seltener richtig zu, schwatzt zu viel einfach dahin und vergisst es. Sätze von bleibendem Wert, vielleicht bedeutend im Tonfall aber nicht pathetisch: Hat man immer weniger füreinander übrig. Aber egal, was sie so sagen, Kinder, so auch Leopold, saugen alles wie ein Schwamm auf. Und dann werden die lustigsten Begebenheiten mit ihm zur Altklugheit gedeutet, in denen er aber einfach nur klingt wie die Erwachsenen um ihm herum. Da haben Sie mich zum Nachdenken gebracht: Er musste nie beißen, er hatte die Sprache schon früh. Er kann notfalls auch durch Weinen protestieren. Das tut er gelegentlich. Im Kindergarten mögen ihn alle, weil er immer Geschichten erzählt und immer  etwas startet. Kinder wollen Informationen, sonst verdurstet ihr Antrieb. Leopold hat einen kleinen Kuschelhasen namens Pauli, schon seit er frisch geboren war. Nun, wie es der Zufall so will, geht so ein Pauli in einer Stadt wie Berlin mal verloren. Beim ersten Mal war Leopold untröstlich darüber. Deswegen musste meine Schwester einen neuen Pauli anschaffen und so tun, als sei das kein neuer, sondern das wiedergefundene Original, sonst hätte Leopold das nicht akzeptiert. Der Stoffhase wird so sehr geliebt, dass man sich berechtigte hygienische Sorgen machen musste. Immer wenn eine Waschmaschinenladung mit dem Hasen zu bestücken war, redeten die Eltern nur im Flüsterton davon, dass „Paulonski“ zum Trocknen aufgehängt werden müsse. Durch die Namensverfremdung konnte man Leopold täuschen und ihn nicht noch darauf aufmerksam machen, dass der Hase für einige Zeit nicht im Bett liegen wird. Was solls: Die Liebe zu Pauli und die Gefahr von Verlust oder Verschmutzung führte zum Kauf von zwei identischen weiteren Stoff-Hasen. Pauli ist eine echte Trost-Größe im Leben meines Neffen geworden. Ich bin jedesmal gerührt, wenn ich das sehe. Falls Sie mich nach meinem Lieblingsstofftier fragen (bitte halten Sie mich deswegen aber nicht für albern): Ich besitze seit 2009 ein kleines Stoffschwein, eine Art Glücksbringer. Es heißt Manfred. Fragen Sie nicht warum, ich weiß es nicht. Vielleicht konterkariert der Name die Niedlichkeit des Tiers am besten. Ich habe Leopold jedenfalls vor einiger Zeit auch so ein Schwein geschenkt. Geteilte Freude soll ja doppelte Freude sein.

Sie sprachen von ihrer Brieffreundin Franziska Henn aus der DDR. Aus ihrer Erkenntnis mit elf Jahren – es gibt so etwas wie den „anderen“ – kann man ja Jahre später die Folgeerkenntnis ziehen, dass es diese „eine andere“ Jahrezehnte später nur als weiterhin anders gewordene gibt. Was ist, wenn Frau Henn folglich heute beleidigt wäre, dass man sich öffentlich so an sie erinnert? Wenn sie verunsichert wäre, dass man sich an sie als diejenige erinnert, die sie damals war, aber heute nicht mehr sein kann? Der Grund, sie zu kontaktieren? Vielleicht nur die eigene Sentimentalität? Für mich ist dieses Erinnern an Menschen nie angstfrei. Es geht nicht ohne Stauchungen, Menschen gedanklich aus einem früheren Leben ins gegenwärtige zu holen, besonders wenn zwischen beiden Leben so gar keine roten Fäden mehr bestehen. Vielleicht weil man nie umhinkommt, sich zu vergleichen und ich eben diesen Vergleich scheue. Mir genügen bei Schulfreunden kleinste Details (– ein Foto von einem netten Urlaubsort, der Nachnamenswechsel als Zeichen einer Hochzeit –), um mich, begleitet von einer kräftigen Portion Selbstmitleid, in der fatalen Sicherheit zu ergehen, dass mein Leben klar gescheitert ist, weil es nie an die Qualität der anderen heranreicht. Zwar will ich nicht in Indonesien Seegurken in den Händen balancieren (– ja, auch so etwas sieht man auf Fotos –), und da ist kein Neid im Spiel. Ich will auch nicht gespiegelt bekommen, dass es anderen umgekehrt vielleicht ähnlich gehen könnte. Mir reicht für meinen Teil, zu glauben, dass der unkommentierte Blick auf sprechende Details anderer Biografien mir automatisch das schlimmste über die eigene mitteilt. Deswegen schlage ich so etwas aus, es sei denn mich beschleicht eine Sentimentalität. Sentimentalität ist ein schlechter Ratgeber. Sie macht unsere Unterhaltungsfilme, unsere politische Kultur flach. Die einzige Sentimentalität, der ich eine Überlebensfunktion zutraue, ist die vom Schlage Paulis oder Manfreds. Bitte halten Sie mich trotzdem nicht für verloren.

Wenn Sie über frühere Bekannte aus Bukarest schreiben, erkenne ich darin ein wenig das Sich-in-alle-Winde zerstreuen: Aus dem Abschlussjahrgang meiner Schule ist jeder gefühlt weit weg irgendwo, von Norddeutschland bis nach Österreich und in der Schweiz, manche irgendwo in Afrika unterwegs oder mit Amerikanern verheiratet. Ich habe es noch nicht gelernt, auf diese Art erwachsen zu sein. Es fühlt sich merkwürdig an. Mein Abitur liegt etwa 11 Jahre zurück. In der Schule saßen in der Regel die ruhigen und arbeitsamen Schüler ganz hinten, oder die, die trotz mangelnder Lust auf die Fächer in ihrer Ablehnung wenigstens verstanden, nicht zu stören oder aufzufallen. Es war ein Vorteil, sich still zu stellen, um nicht beteiligt zu werden. Wer glaubte damals schon, dass aus einem stillen Wasser aus der letzten Reihe jemand wird, der in Südafrika bestehen kann? Die Schulzeit galt es „rumzubringen“. Manchmal bedauere ich unseren überwertigen Realismus in dieser Zeit. Er hat dafür gesorgt, dass kleine Abweichungen darüber entschieden, ob man seine Jugend unter Gleichaltrigen genießen kann, oder nicht.

Da Sie auf die Mehrsprachigkeit kamen: Ich wollte immer gerne zu Hause sein im Latein, war es in der Schule in diesem Fach auch am ehesten. Wie oft habe ich mir ausgemalt, die wirkliche Intonation eines Vergil oder Ovid im Ohr zu haben, mit dem Zungenschlag der Römer dasjenige richtig sprechen zu können, was heute weitgehend von italienisierten Ausspracheweisen überlagert ist. Wie gerne hätte ich die authentische Wirkung auf die Zeitgenossen erlebt, wenn sich ein von einem Martial-Epigramm geschmähter antiker Promi am nächsten Morgen doch wieder aufs Forum wagen muss. Mir ist die Lust am Englischen von einer Lehrerin vermiest worden, die einen enormen Pessimismus gegenüber deutscher Sprache und Kultur mit naiven Blicken über den großen Teich verband und sich schon beim simpelsten Allgemeinwissen blamierte. Und die Lust am Französischen kam erst in einem Alter, in dem ich mit dem Sprachenlernen enorme Schwierigkeiten hatte.  Die Lust am Latein konnte ich mir retten. Der Schulstandort meiner Kindheit und Jugend wurde zwischenzeitlich aufgelöst, das Gebäude umgebaut. Wo früher Kinder lernten, leben nun pflegebedürftige Menschen. Auch das ist ein Dilemma: Um unsere Städte hier in Norddeutschland liegt oft eine dünn besiedelte Region herum, in der es sich statistisch gesehen schnell alt werden lässt. Dieser Trend verstärkt sich immer weiter. In dieser Gemengelage (Rückbau und Zerstreuung meiner Generation), komme ich mir manchmal vor wie ein lebendes Fossil. Man braucht Fenster und Ventile, um nicht zu versteinern. Meine Panikattacken sagen, dass ich diese Fenster nur selten öffnen kann.

Was sie über die Ironie in Rumänien sagen, ist hochinteressant. Mir ist aus eigenem Erleben natürlich nicht gegenwärtig, wie in Rumänien vor der Wende Sprache politisch missbraucht wurde. Wenn, dann kann ich mir nur vorstellen, wie es totalitäre Regime halt tun: Man mischt ganz oft das Wort „Volk“ allen Kontexten bei, um damit Widerstandslosigkeit gegen die offizielle Rhetorik zu erzwingen: Wer Volk ist, der könne eben nicht mehr dagegen sein. Und wenn diese Restriktionen dann wegbrechen, die Sprache frei wird, können sie manche – so scheint es mir aus Ihrer Schilderung – nicht mehr verwenden, zumindest nicht als Sprache, in der man sich jetzt mit den wesentlichen Dingen noch konfrontieren kann. Sie haben Recht mit dem, was Sie am Anfang ihres Briefes bemerkten: die kommunistische Diktatur hat in gewisser Weise den Erfolg auf ihrer Seite, das Gleichgewicht in der Gesellschaft auch noch über ihre eigene Dauer hinweg zu stören, Sprache dauerhaft in Schieflage gebracht zu haben. Regime haben unter Umständen ganz ausgeklügelte Sprachkodexe und größere Zeitenwenden bringen gerne Wächter auf den Plan, die schauen, dass danach eben auch anders geredet wird. Der Schriftsteller Franz Fühmann hat das in seinem Ungarn-Tagebuch „22 Tage oder Die Hälfte des Lebens“ mal ganz treffend über die Sowjetunion an einem Beispiel aus dem Alltag verdeutlicht: Da geht man (in den 70er-Jahren) in Ungarn über die Straße, es prangt ein Schild vor einem Restaurant: „Hier Spezialitäten der sowjetischen Küche“. Und das tragische ist, dass mit so einer Sprachregelung all die hunderte Regionalkulturen im Begriff „sowjetisch“ nivelliert sind und nicht mehr zu existieren scheinen. Was wird aus ukrainischen Pyrischky, was aus litauischen Cepelinai?

Man sieht heute in unseren Breitengraden kaum noch etwas von der Misswirtschaft (in Rumänien vielleicht eher?), über ostdeutschen Städten wie Bitterfeld hängt kein Feinstaubschatten mehr, man leidet dort nicht mehr im Kleinkindalter an gewissen Atemwegserkrankungen, das war früher anders. Ich weiß nicht, ob Franziska Henn mit Ihnen darüber geschrieben hat. Über ihre Freude, dass die Mauer offen ist. Freude, was anderes war ja gar nicht vorgesehen, ist es bis heute nicht (was ihre undifferenzierte Form ganz allein schon verdächtig macht, denn das Zeitalter von Verordnungen sollte vorbei sein). Das ganze bedeutet aber auch einen Knick in der Literatur: Das Schreiben war nach der Wende in vielerlei Hinsicht kein Skandal mehr. Es gibt einige ostdeutsche Autoren, die sich in den 80er Jahren von dem prägendsten Thema überhaupt (der zu langen Existenz der Mauer) zu literarischen Hochleistungen treiben ließen. Dazu zählen für mich Autoren wie Monika Maron, Irina Liebmann, Barbara Honigmann aber auch Bert Papenfuß, Peter Wawerzinek und Elke Erb. Nicht alle konnten sich nach 1990 so behaupten wie vielleicht Christa Wolf, Eva Strittmatter oder Günter Kunert. Manchen Autoren hatte man auch das Trauma, an dem sich am besten in und durch Literatur leiden ließ, entzogen. Der westdeutsche Literaturbetrieb strafte sie aber noch vor dieser Entwicklung mit Missachtung, hat sie teilweise klammheimlich zu Übergangstalenten erklärt, denen das Talent mit dem Publikum verloren gegangen zu sein schien im bloßen Verlust des Landes. Dass die Gegenwart „nicht mehr schmerze“ seit dem Fall der Mauer, ist übrigens Wortlaut eines ostdeutschen Autoren, dessen Namen ich hier bewusst nicht nennen werde. Vielleicht braucht Ihre, braucht meine Generation diesen Schmerz weniger zum Schreiben als den Müßiggang, der, wie sie sagen, besonders in der Literatur zu suchen ist und unserer Gesellschaft so fehlt. Aber, liebe Frau Grigorcea, ich glaube Sie sind dann doch zu klug, um den virtuellen Klick nach Rumänien mit dem zu verwechseln, was ich mit „sich sehnen“ meine. Holt ein Klick für Sie wirklich unmittelbares Erleben ein? Diese Ambivalenz, die allen Betrachtungen der eigenen Herkunft von „woanders“ innewohnt? Sie sprachen ja von dem Rumänien der Jetztzeit, nach den Wahlen, von einer kleinen Lese-Elite. Ich sah zwischenzeitlich auch ein Interview, das Sie im Jahr 2015 dem 3sat-Magazin Kulturzeit über den Streit um Flüchtlingsroute über den Balkan gaben, auch wenn das Rumänien nur am Rande streift. Alles keine ermutigenden Zeugnisse. Meine Großmutter sprach viel von Ostpreußen, besonders ihrer Heimatstadt Olsztyn. Zeitlebens gab es kaum einen Landstrich, mit dem sich so viel Sehnsucht verband, ein Weg zurück war undenkbar und nicht gewollt. Auch das ist Sehnsuchtsambivalenz: Reden und nicht können. Man hatte nach der Flucht durch Arbeit und Heirat seinen Platz einfach dort gewonnen, wo man halt war. Das Sehnen aber hörte auch mit Gründen nicht auf. Verzeihen Sie, wenn ich einfach so erzähle und zu wenig Frage-Angebote unterbreite. Fühlen Sie sich bitte frei, zu erzählen, was immer Sie mögen, um das Schreiben nicht in ein starres Frage-Antwort-Spiel abdriften zu lassen. Ich schätze spannende Geschichten sehr. Haben Sie ein Auto? Würden Sie mir die Geschichte zu ihrem ersten Auto erzählen?

Wir schreiben uns ja digital, ohne Papier, ohne das Kratzen eines Federhalters auf rauer Pflanzenfaser. Überhaupt, wie halten Sie es mit dem digitalen Leben und Schreiben? Mein Umfeld besteht zum großen Teil aus Leuten, die privat und beruflich im Digitalen zu Hause sind. Sie alle spüren in gewissen Situationen eine große Frustration, reden von „digital detox“, das sie sich für Urlaubszeiten vornehmen, meist wird nichts draus, weil viele Entspannungsangebote digitaler Natur sind. Wenige Auswege, viele Verlockungen. Aber noch zu Ihren Werken: Woran arbeiten Sie gerade? Sie schrieben von Gründen, den Produktionsdruck des Journalismus so nicht mehr zu wollen. Ist ein neuer Roman in Planung? Wenn ja, wie kommen Sie zu Ihren Themen? Wie sind sie zu denen in „Das Primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ gekommen? Wie arbeiten Sie? Von der ausgearbeiteten Struktur zur Niederschrift eines Textes, oder frei fließend vom Schreiben zu einer sich immer weiter ergebenden Struktur? Das sind sicher Fragen, bei denen die Leser dieses Briefwechsels vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber es beruhigt mich. Mich beruhigen Schriftsteller, die in aller Entschleunigung Gescheites über ihre Arbeit sagen, voller Faszination vom Schreiben sprechen können. Und wie sieht es mit dem Gedankenstau aus? Wenn es Ihnen beim Schreiben die Sprache verschlägt, würden Sie beißen, wie das Kind von dem Sie berichteten?

Mit schelmischen Grüßen aus dem Mecklenburgischen,
Carlo Ihde

Brief nach Schwerin versendet (Grigorcea an Ihde)

Lieber Herr Ihde,

haben Sie vielen Dank für Ihren Brief.

Vorgestern Abend, bin ich, nachdem ich ihn gelesen hatte, zum Hauskonzert eines alten Nachbarn gegangen. Auf seinem Flügel wurde Beethoven, Chopin und Lipatti gespielt, und ich musste an Sie denken – welch eine Gnade, dass das Klavierspielen seit zwanzig Jahre zu ihrem Leben gehört! Wen spielen Sie am liebsten?

Meine Neujahrsvorsätze befolgend, war ich in diesem Monat vier Mal in der Oper und einmal auch bei einer Lesung, die aber leider ausfiel, und auch nach meinen fünf eigenen Lesungen bin ich gern länger geblieben, mit den Leuten, habe mit Champagner – oder Champagner-Ersatz, je nachdem, was vorhanden war – angestossen und Gespräche über Kunst und Politik geführt.

Wir leben in schlimmen Zeiten, Herr Ihde, was können wir tun, um die Menschlichkeit und das Schöne aufrechtzuerhalten? Man kann den „alternative facts“ nirgends entkommen, die Schamlosen sind an der Macht. Orwells Dystopie ist Realität geworden.

Dabei muss ich an Orwells Manuskripte denken, wie sie, auf der Schreibmaschine getippten, Seite um Seite handschriftlich nachbearbeitet wurden, fast jede Zeile wurde durchgestrichen und neu geschrieben, mit blauer Tinte, oder mit dunkelblauer, dunkelgrüner oder schwarzer. Man könnte anhand der Manuskriptseiten untersuchen, wie Orwells Gemütslage war beim Schreiben, ob er fest in die Tasten gehauen hat, einen Satz einfach oder mehrfach durchgestrichen hat usw. Er hatte „1984“ in einer Zeit geschrieben, die weit sinnlicher war als unsere, in der ein Mensch mit weit mehr Stoffen und Gerüchen in Kontakt kam und zum Schreiben, zum Kommunizieren und überhaupt zum Botschaften verbreiten weit mehr Körpereinsatz benötigte. Daher frage ich mich, ob uns die mangelnde Sinnlichkeit unserer Welt, die uns ja gewissermassen abstumpft, dieses schnellere Gleiten durch das Leben, das uns die technische Entwicklung ermöglicht hat, uns als Menschen nicht auch minder schuldfähig gemacht hat, wenn wir nun als Bürger gefährliche Demagogen unterstützen oder uns nicht genug gegen ihre Machtübernahme wehren. Wir können heute viel mehr machen als unsere Vorfahren, nehmen aber viel weniger wahr von der Welt, können daher auch viel weniger überlegt und wenn, dann viel weniger konsequent agieren. Und diese Rückentwicklung scheint erstmal kaum aufhaltbar. Wir sind alle dauerabgelenkt von den Möglichkeiten der weltumspannenden Kommunikation, müde und ausgelaugt vom Sortieren der Informationen, die über uns einbrechen, sind im entscheidenden Moment abwesend, bestenfalls laut daherkasperlnd im eigenen Echokeller.

Was tun? Oder, wie es Orwell formulieren würde, WAS TUN?

Ich bin davon überzeugt, dass uns nur noch die Sinnlichkeit retten kann. Wir müssen uns mehr spüren, die anderen mehr spüren. Es braucht Musik, die mehr ist als nur Funkstörung, es braucht Literatur, die mehr ist als nur ausgedörrte Konzeptliteratur, mehr Diskussionen, die keine Metadiskussionen sind, es braucht mehr Begegnungen, mehr Sinnlichkeit auch in der Esskultur, mehr Spaziergang, mehr Rückbesinnung auf das Wesentliche, auf die tiefen Bedürfnisse, auf die Freuden des Lebens.

Dafür bräuchte man mehr Zeit, könnten Sie einwenden. Aber malochen die meisten von uns nicht, um in diesem Rad des Konsums weiterzudrehen, um sich Dinge zu leisten, die sie wegen der erschöpfenden Lebensart kaum geniessen können? Wie es schon bei Epiktet hiess: „Denn sie wollen das, was zu ihrem Glücke beiträgt, aber sie suchen es, wo es nicht ist.“

In Rumänien meiner Kindheit hatten viele Menschen, die ich kannte, einen jour fixe: Meine Grossmutter traf ihre Freundinnen jeden Donnerstag zum Kartenspiel, meine Eltern trafen ihre Kollegen von der Uni jeden Samstag zum quasi-heimlichen Video-Nachmittag, meine Nachbarin hatte einen Lesezirkel, jeden Sonntagmittag ass man mit Freunden usw. Auf dem Land hatte jedes Haus eine Bank vor dem Tor, auf dem sich bis tief in die Nacht die Nachbarn unterhielten, und im Winter musste man kaum noch den Schnee zwischen den Häusern wegschaufeln, weil die Menschen mit ihren vielen Nachbarsbesuchen die Wege plattgestampft hielten. Jetzt kennen sich viele Nachbarn nicht mehr, weder in den Städten noch auf dem Land. Und ich kenne niemanden mehr in Rumänien, der einen jour fixe hätte.

Haben Sie einen jour fixe mit Freunden, Herr Ihde?

Sie fragen, ob ich Sehnsucht habe nach meinem Geburtstort. Das ist eine romantische Frage und Sie treffen damit genau das Thema der Sinnlichkeit. Es braucht ein Innehalten im Alltag, ein Zulassen der Melancholie, um sehnsüchtig zu werden. Dies aber gilt in unserer tüchtigen Welt als Abweichung von der Norm, als Hinnahme eines Aussenseitertums.

Letzten Sommer, als ich eine Lesereise durch Norddeutschland hatte, ist mir in Pinneberg vor der Drostei ein orientalisch aussehender Mann aufgefallen, der bei Regen auf einer Bank sass, regungslos, und auf den leeren Platz schaute. Meine Tochter, die mich auf der Lesereise begleitete, musste sich noch draussen austoben und auf allen Wackelpferden reiten, und so waren draussen im Regen nur wir und der reglose Mann auf der Bank. Zum Schluss ist meine Tochter zu ihm gelaufen, weil sie meinte, es sei eine Statue. So wie er dasass, hätte man auf der Bank, seinem Sockel, schreiben können: „Sehnsucht!“

Diese Manifestationen der Sehnsucht sind für viele von uns primitiv, nicht wahr? Ein Exhibitionismus, eine Zurschaustellung der Unangepasstheit. Sollte der Mann des öfteren so auf der Bank in Pinneberg sitzen, ist er bestimmt ein öffentliches Ärgernis.

Nun, als Künstlerin habe ich es leichter mit der Akzeptanz meiner Sehnsucht.

Gewiss habe ich Sehnsucht, nach „meinen Orten“, die es so nicht mehr gibt. Aus einer Sehnsucht heraus habe ich übrigens meinen zweiten Roman, „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, geschrieben. Die Hauptpassage des Buches besteht aus einem Spaziergang durch Zürich, auf dem sich die Protagonistin in ihrem geliebten Bukarest wähnt: „(…) denn das habe ich so an Zürich gemocht, dass ich die Orte erkannte, an denen ich noch nie zuvor gewesen war, es ist mein Bukarest gewesen, aber nicht das nämliche, in dem ich nur ein paar Strassen und Quartiere kannte, sondern jenes, das ich immer als ganz gewähnt hatte, mein Treppenhaus mit seiner angestauten Stille und der schweren Tür mit dem klebrigen Löwengriff, ein bestimmter Einfall des Mondlichts, das die Geometrie der Strasse aufhebt, und ein kleiner Star, der mit seinem Pfeifen Gebell nachahmen will, mitten in der Nacht (…)“

Zum „kleinen Star“ habe ich eine Anekdote: Als man für ein Literaturfestival in Bukarest diese Passage ins Rumänische vorabübersetzt hat, hat die junge Übersetzerin den kleinen Star, den Vogel, mit „kleine Diva“ übersetzt: „und eine kleine Diva, die pfeift mitten in der Nacht.“ Ich musste den Text auf rumänisch vorlesen und kam plötzlich so in eine andere Geschichte hinein, die über ein angesagtes Bukarester Viertel ging, das man mit Zürich vergleicht. Diese Geschichte hat dem Publikum sehr gefallen, es gab tosenden Applaus.

Ob ich Sehnsucht nach Rumänien habe? Die Frage klingt schlüssig, zielt aber zu weit, als dass man aufrichtig darauf antworten könnte. Ich könnte aus dieser Sehnsucht nach Rumänien eine Masche machen, mein Erkennungsmerkmal als Autorin, aber das würde meine Themen zu einem Metathema bündeln und erstarren lassen, nicht wahr? Dann ginge es just gegen mein Credo, dass es mehr Sinnlichkeit braucht im Leben.

Ich habe oft die Sehnsüchte anderer zu meinen gemacht: Die Sehnsucht meiner Grossmutter nach ihrem Akazienwald, durch den sie in der Jugend immer geritten war, die Sehnsucht meiner Eltern nach dem Orient, den ich dann selber in Tausendundeiner Nacht suchte, die Sehnsucht eines Romanhelden nach der Geliebten, oder später, als ich Simultanübersetzerin im Bukarester Kunstkino war: die Sehnsucht nach der Italianità.

Gewiss war dies ein Antrieb für mein Schreiben: Der Wunsch, mit meinen Geschichten mindestens  ebenso grosse Sehnsüchte zu wecken wie die von mir empfundenen.

Wonach sehnen Sie sich zurzeit, Herr Ihde?

Welche Gedanken treiben Sie in ihrem Alltag um?

Nun, was mich in letzter Zeit so umtreibt, ist die Überlegung, wie weit man mit der Sinnlichkeit fuhrwerken kann. Wie lässt sich das Leben feiern, inwieweit kann man das Schöne geniessen, setzt dies doch in unserer Welt gewisse Ausgaben voraus, in einer Zeit voller gesellschaftlicher Ungleichheit. In Zürich zum Beispiel gibt es ein Silvesterfeuerwerk am See für 80.000 CHF (um die 75.000 Euro), da werden 3,5 Tonnen Feuerwerkskörper in die Luft gejagt, Hundertschaften von Vögel und Kleintiere verschreckt und die Luft vergiftet, vor allem bei Nebelwetter. Kann man die Feuerwerkkunst noch geniessen? Ist es noch ethisch und schön? Ich bin darin gespalten. Es ist Tradition und als solche gemeinhin positiv behaftet.

Und dann den Champagner, den man gerne trinkt, ich zumindest, bei feierlichen Anlässen, die Musikfestivals, die man besucht, eine Kutschenfahrt im Schnee mit den Kindern, die Blumensträusse vom Florist: Darf man sein Geld verprassen, während andere an Hunger leiden, Medikamente und eine warme Decke bräuchten?

Andererseits kann ich das Kleinkrämerische nicht leiden, den Geiz. Der rumänische Schriftsteller und Mönch Nicolae Steinhardt, dessen im kommunistischen Gefängnis verfasstes „Tagebuch der Glückseligkeit“ ein Kultbuch war in meiner Studienzeit, ähnlich wie Khalil Gibrans Buch „Der Prophet“ in der westlichen Welt, hat ein schönes Plädoyer gegen den Geiz und für die Verschwendung, die allmählich zur Opfergabe und, weitergeführt, zur Aufopferung führt. Er fängt bei Judas an, der nicht versteht, warum Jesus sich die Füsse mit teurem Öl salben lässt, statt das Öl zu verkaufen und das Geld an die Armen zu verteilen – und endet bei den adligen Männern der russischen Literatur, die sich in Casinos ruinieren und für kleine Streitigkeiten bereit sind, ihr Leben in Duellen zu riskieren.

Nun, Herr Ihde, da wir beim Thema Grosszügigkeit und Geld verweilen, erinnere ich mich an die Autorin Felicitas Hoppe, die mir einst zu Tisch – mit einem Enthusiasmus, der jegliche platte Ironie tilgte – zurief: „Geld ist mein Lieblingsthema.“ Die Art, wie sie es gesagt hat, einfach und geradeaus, ein Satz mit so vielen Implikationen und Weiterführungen, hat sich mir tief eingeprägt. Später, als uns Felicitas eine Karte geschickt hat, aus den USA, wo sie auf den Spuren des sowjetischen Schriftstellerduos Ilf und Petrow reiste, musste ich wieder an die Aussage mit dem Geld denken. Und wenn ich an den Romanhelden Ostap Bender denke, kommt in mir eine Nostalgie auf, nach der Zeit, als ich bei meiner Grosstante in den Bergen unter einer Silbertanne lag und las und heimlich hoffte, dass es den Ganoven Ostap Bender tatsächlich gibt und wir irgendwann ein Team werden.

Haben Sie Ilf und Petrow gelesen, Herr Ihde? Welchen Stellenwert hatten die beiden in der DDR?

Übrigens haben Ilf und Petrow Amerika in einem mausgrauen Ford bereist, Felicitas aber, die mit dem Buch in der Hand reiste und das Beschriebene mit dem, was sie selber beobachten konnte abglich, hat die Reise in einem roten Ford Explorer unternommen.

Ich freue mich, dass Sie mich nach meinem Auto fragen, Herr Ihde. Wie kommen Sie eigentlich darauf? Ich kann aber schöne Geschichten mit Autos erzählen – die schönste ist vielleicht die mit dem beigefarbenen Peugeot, den mein Vater am Ende seines Dienstes in Bagdad gekauft hatte. Er hatte lange Flügel und Katzenaugen und war im Bukarest meiner Kindheit, als da nur Dacias, Trabis und Pobedas herumfuhren, eine wahre Sensation. Mein Vater war mit dem Auto aus Bagdad in einer abenteuerlichen Fahrt über Syrien, die Türkei, Griechenland und Bulgarien nach Bukarest gekommen und sein linker Arm war gebräunt, weil er ihn während der Fahrt lässig aus dem Fenster gehalten hatte. Überhaupt hatte er mit dem Auto allerlei Geschichten erlebt: Im Irak hatte er einen spektakulären Unfall, bei dem sich das Auto überschlug und alle eingekauften Parfümflaschen zerschellten. Kurdische Bauern hatten ihn gerettet und mit seiner ganzen Habe, bis auf die allerkleinsten Münzen, ins Spital gebracht. Dann hatte er in Griechenland nach dem Weg zum antiken Theater von Epidaurus gefragt und ein Wirt hatte dem anderen zugerufen, auf das arabische Kennzeichen von Vaters Peugeot deutend: „Jorgos! Ein Chinese!“

Dieser Peugeot war mein Auto, zumindest gefühlsmässig ist es bis heute das einzige Auto, in das ich begeistert eingestiegen bin, ohne dass die Begeisterung mit einer Zweckmässigkeit verbunden gewesen wäre, denn ich bin damit nicht viel herumgefahren worden.

Jetzt in Zürich besitzen wir einen Opel, den wir gebraucht gekauft haben, weil uns mein Vater ein Auto schenken wollte und wir wiederum umsichtig sein wollten, bei den Schweizer Preisen. Wenn er auf dem Parkplatz steht, neben Audis und Bentleys, wie gestern bei der Eislaufbahn, könnten die Leute denken, wir seien Exzentriker.

Mein Mann Perikles sagt gelegentlich, dass früher viele Industrielle die Künste unterstützt haben, aber dass deren Kinder heute ihr Geld lieber anderweitig verwenden, zum Beispiel auf den Kauf eines teuren Autos. Das ist, wenn man die Schweizer Parkplätze betrachtet, recht plausibel.

Aber andersherum, was uns Künstler anbelangt: Kann man sich denn überhaupt noch guten Gewissens den schönen Künsten hingeben, während die Welt auf beherzte, tatkräftige Aktivisten aller Art wartet, auf Friedensaktivisten, Naturschutzaktivisten, Tierschutzaktivisten, Frauenaktivisten, LGBT-Aktivisten und auf Ärzte ohne Grenzen?

Diese Frage treibt mich seit längerem um: Was kann man mit Kunst in Zeiten grosser Not und Ernsthaftigkeit verrichten?

In meiner Kindheit, im kommunistischen Rumänien, wurde die Kultur hochgehalten. Bücher, von denen manche als Samisdat, in Handschrift, zirkulierten, waren ein Fenster zur Welt und, weil sie meist von den grossen Themen Liebe und Tod handelten, galten sie im diktatorischen Willkürregime als ein Hort der Menschlichkeit. Nun, da ich auch Autorin bin, erzähle ich das oft – und dass ich fest davon überzeugt bin, dass uns die Literatur zur Empathie erzieht, und zwar durch die Herausforderung und eben Zumutung, in andere Welten einzutauchen, fremden Gedankengängen zu folgen.

Was aber kann ich als Literatin in der Schweiz tun im aktuellen Weltkontext, wenn so viele Flüchtlinge nach Europa wollen? Seit mehr als einem Jahr organisiere ich mit einer Freundin vom Theater in Zürich monatliche Benefiz-Lesungen für Flüchtlinge, mit jeweils drei Schriftstellern und zwei Schauspielern, die Abende sind mittlerweile zu einem Treffpunkt für Autoren geworden. Nach den Lesungen offerieren wir eine warme Suppe, und die Leute sitzen um einen langen Tisch und reden bis in die Nacht hinein über Kunst und Politik. Es gibt eine Spendenbox, und den Inhalt schicken wir vollumfänglich an die Schweizer Flüchtlingshilfe in Griechenland. Wir organisieren diese Abende, um Geld zu sammeln für die Flüchtlinge, um das Thema Flüchtlingshilfe hochzuhalten und dabei Farbe zu bekennen, auch um ein fixer Autorentreffpunkt zu sein, uns jenseits des Marktes und des Literaturbetriebs zu treffen und auszutauschen. Wir haben kein Budget für Honorare und Werbung, also wird diese Benefiz-Lesungsreihe allein vom Willen der Autoren aufrechterhalten, von deren Grosszügigkeit und der Sehnsucht aller nach gehaltvollen Gesprächen jenseits von Bühnen und Egotrips.

Sie schreiben mir von ostdeutschen Autoren, deren Themen nach der Wende kein Skandal mehr waren und die deswegen in Vergessenheit geraten sind. Nun, gewiss ist die öffentliche Anerkennung das Eine, abhängig von Moden und Konjunkturen, und der literarische Wert eines Buches das Andere. Leider wird heutzutage auch die Literatur über den Markt definiert, es gibt kaum mehr Raum für Diskussionen über Sprache und Stil, die Literaturkritiker selbst reden verknappt, in Sentenzen. Da darf man weder den Erfolg noch den Misserfolg seines Buches persönlich nehmen, denn es hat nichts mehr mit einem zu tun: Es ist ein Missverständnis.

Nichtsdestotrotz haben drei meiner Lieblingsautoren aus der DDR das Thema Diktatur literarisch überlebt: Ingo Schulze, Durs Grünbein und Eugen Ruge. Neulich las ich wieder „Cabo de Gata“ von Eugen Ruge und erquickte mich an der Feststellung, dass Literatur vor allem Sprache ist und die wahre Kunst Sinnlichkeit.

Zum Thema literarischer Erfolg aber noch dies: In Rumänien bekommen Häftlinge für jedes während der Haftzeit publizierte Buch eine Haftminderung von einem Monat. So hat zum Beispiel der einflussreichste Medienmogul, Dan Voiculescu, der auch Vorsitzender der Konservativen Partei war und schliesslich des Betrugs überführt wurde, in nur zwei Jahren sage und schreibe zehn Bücher geschrieben – eines davon mit dem Titel: „Die Menschheit – wo geht sie hin?“ Die vielen inhaftierten Politiker, Beamten, Fussballklub-Besitzer greifen also eifrig zur Feder, um früher freizukommen. In den letzten Jahren sollen 188 Häftlinge 429 Bücher verfasst haben. Bei der Grossdemonstration gegen das Amnestiegesetz der neu gewählten Regierung war der beliebteste Slogan der 70.000 Demonstranten in Bukarest an den Premierminister Liviu Dragnea adressiert und lautete: „Dragnea, nu uita: Asteptam si cartea ta!“ („Dragnea, vergiss es nicht: Wir erwarten dein Buch!“) Da hat ein rumänischer Autorenkollege kommentiert, dass bei so viel Publikum das erwartete Buch sicher ein „best cellar“ wird.

Nun, Sie fragen nach den Schreibblockaden. Ich hatte bis jetzt keine, im Gegenteil: Da ich mit zwei kleinen Kindern einen turbulenten Alltag habe, staut sich das, was ich schreiben will, in meinem Gedächtnis an. Ich versuche mir aber vorzustellen, was so eine Blockade verursachen könnte: Vielleicht eine Depression? Oder das Wegfallen des Adressaten meiner Texte?

Gibt es einen Moment, um mit der Kunst aufzuhören? Vielleicht wenn die Kunst, die man gerne macht, aus der Mode kommt? Oder wenn man selber aus dem einen oder anderen Grund nicht mehr die Kraft und den Antrieb hat, um auf der Höhe seiner Kunst zu sein? Mit diesen Fragen befasst sich mein Mann Perikles Monioudis in seinem jüngsten Roman, „Frederick“, ein Buch, das anhand der Biografie von Fred Astaire über den Künstler im allgemeinen geht. Der Roman ist aus der Perspektive des Teufels erzählt, der die Risse in Fred Astairs Biografie sucht, ihn an seiner Tanzkunst zweifeln lassen will. Warum aber macht Frederick weiter, was treibt ihn an?

Für mich kann ich sagen, dass mich der Wunsch antreibt, für bestimmte Bilder und Stimmungen den richtigen sprachlichen Zugang zu finden. Bei meinem ersten Roman, „Baba Rada“, hat mich das Bild eines zugefrorenen Sees im Botanischen Garten Bonn so deprimiert, dass ich diese Stimmung unbedingt benennen wollte. Ich habe aufgeschrieben, dass es ein Tag war so grau, dass Himmel und Erde nicht zu unterscheiden waren. „Im gleichmässigen Grau markierten schwarze Punkte ein verlassenes Vogelnest oder den Ort, an dem eine Seerose ertrunken war, und an diesen Punkten war die ganze Welt festgenagelt.“ Ich schrieb weiter, ohne ein Vorhaben, einfach weil es sich so leicht weiter schrieb, und irgendwann begann ich, in dieser vereisten Kulisse, die unverhofft ein Dorf im überfrorenen Donaudelta war, Menschen auftreten zu lassen: die alte Rada mit ihrer Albinatochter Ileana, Ileanas Geliebten, Nelu, der den beiden einen gefesselten Mann bringt und bei ihnen verstecken will gegen Bezahlung, den orthodoxen Dorfpopen mit seiner schönen Frau, einen Fischer, der später zum Heiligen wird, einen ehemaligen Milizmann, der zum Wilderer wird und schlimm endet usw. Der Roman ist eigentlich eine komische Geschichte über die Klaustrophobie, ein Schelminnenroman – ich zitiere hier die Kritiker –, und Baba Rada eine Mutter Courage, die die magische Kraft des Erzählens verkörpert.

Ich habe nach dem zweiten Roman nun auch ein Kinderbuch geschrieben, „Mond aus!“ Es ist ein Einschlafbuch über einen Wolf, der unbedingt schlafen will und nicht kann. Ihm ist der Mond zu hell und die Frösche am See sind ihm zu laut, und er ist müde und wütend und ruft: „Mond aus!“ Es ist eine Geschichte, die ich mir für meine Kinder ausgedacht habe und aus der ich nun auf Matineen und Märchenfestivals vorlese. Ich trete dabei mit einer rumänischen Konzertpianistin auf, Ana Silvestru, die eigens eine Partitur für das Buch zusammengestellt hat, mit Bach, Debussy, La soiree dans Grenade, Claire de lune, Tschaikowsky, George Enescu und Mussorgsky. Die zweite Auflage des Buches soll mit CD sein. Die Zeichnungen im Buch hat die Schweizer Illustratorin Anna Luchs beigesteuert: Wir haben uns beide einen struppigen, bösen, wenn auch kleinen Wolf vorgestellt. Der erste Kinderbuchverlag, dem wir das Buch gezeigt haben, wollte die grausamen – auf Schwiizerdütsch „gfürchigen“– Szenen abgemildert haben: Nicht so viele Schatten im Wald, keine Nahaufnahmen, weil die Verzerrungen beängstigen, und die Tiere sollten den Mund nicht so weit aufreissen. Hinterher ist mir aufgefallen, wie weltverharmlosend die meisten Kinderbücher sind und wie viele Schrecken eine Verharmlosung mit sich tragen kann.

Zum Beispiel hat mich die Anekdote mit Ihrem Neffen und dem doppelten Pauli an eine Szene im Film „Prestige – Die Meister der Magie“ erinnert: Der Zauberer zeigt einen kleinen gelben Vogel vor, dann klatscht er in die Hände, und der Vogel ist weg. Ein kleiner Junge im Publikum beginnt zu weinen, seine Mutter tröstet ihn: Der Vogel ist ja nicht wirklich weg, er kommt wieder! Und siehe da, die Faust des Zauberers öffnet sich und daraus fliegt der kleine gelbe Vogel. Der kleine Junge weint aber noch lauter, mit Terror in den Augen: Das ist aber nicht der gleiche Vogel! Es ist nicht der gleiche Vogel! Seine Mutter tröstet ihn weiter: Doch, doch, natürlich ist es der gleiche Vogel. Das Kind hat Recht, sagt der Magier im Vorbeigehen. In seinem Zimmer schüttelt der Magier den ersten Vogel tot aus dem Ärmel.

Nun, man ist natürlich befangen in diesem Doppelgänger-Topos, fest damit verbunden die Angst, den Gemeinten, das Eigentliche, die eine Liebe und Wahrheit aus den Augen zu verlieren, aufs übelste von der Welt getäuscht zu werden. Was, wenn Ihr Neffe irgendwann erfährt, dass man ihn hintergangen hat, dass es nicht DEN Pauli gibt, sondern zwei – mit dem Verschollenen sogar drei? Das man ihn belogen hat, weil man sich mit seiner Traurigkeit und mit seinen Fragen nicht herumschlagen wollte?

Vielleicht würde es aber auch gut ausgehen, und er würde alles einfach hinnehmen, mit der Grossmut des Liebenden, denn, wie der Apostel Paulus über die Liebe sagt: „Alles trägt sie, alles glaubt sie, alles hofft sie, allem hält sie stand.“

Sonnige Grüsse aus Zürich,
Ihre Dana Grigorcea

30. März 2017 – Brief nach Zürich versendet (Ihde an Grigorcea)

Liebe Dana Grigorcea,

es hat etwas länger bei mir gedauert, die Arbeitspflichten haben mich voll im Griff. Und auch einige Ängste. Es mag absurd klingen, dem Erscheinungsbild nach handelt es sich um eine Stressdepression. Die Angst, den nächsten Spaziergang, die nächste Autofahrt nicht zu überleben… Die Angst, dass es das plötzlich war mit dem Leben, führt bei mir seit einiger Zeit zu Panikattacken. Ich bekomme den Kopf nicht mehr frei und mir fehlt der Glaube, dass mir Dinge Spaß machen können. Ich hatte mich etwas zurückgezogen.

Haben Sie aber vielen Dank für Ihren letzten Brief, den ich intensiv gelesen habe und aus dem mir das Wort „Hauskonzerte“ nicht mehr aus dem Sinn geht. Auch so eine schöne Tradition von der ich dachte, sie sei fast ausgestorben, bis mich die lebhaften Worte in Ihrem Brief an das Gegenteil erinnerten. Zugegebenermaßen musste ich Lipatti erst einmal googeln und etwas nachhören, habe es aber nicht bereut. Überhaupt bin ich ein intensiver Nachgoogler, ich traue Menschen, die mein Vertrauen haben, zu, mich auf Dinge zu stoßen, die mein Bild von der Welt weiter anreichern. Vielleicht sind ambitionierte und exzessive Nachgoogler die Melancholiker der Neuzeit. Zum Klavier so viel: Ich spielte recht viel Bach, nach dem „Wohltemperierten Clavier“ in meiner Jugend einiges von den „Inventionen“. Am meisten reizen mich heute vom Material her aber Bachs Französische Suiten, besonders in der Interpretation von Andras Schiff. Aber wenn ich Martha Argerich am Flügel sitzen sehe, vergesse ich das alles gerne auch schnell und liebe ihren Liszt genauso wie ihren Rachmaninov. Musikalisch hat mich immer die Breite interessiert, aber auch die gestörte Perfektion. Das mittelmäßige Concerto Grosso eines weitgehend unbekannten spanischen Hofkomponisten interessiert mich weniger als ein gut gemachter Folksong aus den 60ern – es muss ja nicht Bob Dylan sein, der hat m. E. nur sehr bescheidene Dinge dahingeklampft. Es gibt ja so eine unangenehme Angewohnheit in der deutschen Radiolandschaft, dass selbst Sender, die klassische Musik spielen, das Prinzip des Formatradios adaptiert haben und mit ihren Stücken und Moderationen einen sehr begrenzten Ausschnitt nur darstellen können. Das darf man ihnen keineswegs verzeihen oder durchgehen lassen. Gerade weil ich Ihre Einschätzung nur teilen kann: Uns geht die Sinnlichkeit verloren, oder ist vielleicht schon verloren, wenn selbst musikalische Sinnlichkeit schon „Format“ haben muss um gesendet werden zu können. Wer wirklich noch Sinn in sich hat und seine Synapsen gerne trainiert, der nimmt solche Radioangebote wahrscheinlich einfach gar nicht in Anspruch, geht lieber in die Oper, macht Musik mit Freunden, auch Hausmusik. Denn alles, was für die Dauerbespaßung und Dauerbespielung größerer Empfängergruppen geeignet sein soll, ist einem gewissen Konformitätsdruck unterworfen. Sich dem zu entziehen, macht jedes Unterfangen von vornherein unrentabel. Es gilt, diesen vielen Angeboten individuelle Chancen abzutrotzen. Chancen darauf, kurz vor dem Abschalten etwas mehr an Geist mitgenommen zu haben als man dalassen müsste, wenn man der Dauerbespielung ins Netz ginge. Diese Chance bietet jedes Angebot. Unser Umgang mit den Medien muss nur trickreicher werden, will man nicht, dass die Weltzersplitterung mit einem selbst ihr Spiel treibt. Wir müssen sie austricksen.

Etwas Zweites noch zur Musik: Ich erinner‘ mich noch gut an meine Schulzeit. Wir waren in der fünften und sechsten Klasse auf dem Gymnasium verpflichtet, Blockflöte zu lernen. Ein engagierter Musiklehrer der alten Schule machte es möglich. Er war zu dem Zeitpunkt auch schon dicht an das Rentenalter herangerückt. Aber eine Tradition gab es bei uns: Immer zum Frühjahr und vor Weihnachten mussten alle Flötenschüler der zusammen acht Klassen aus den Stufen fünf und sechs ein Konzert in der dem Schulgebäude benachbarten Kirche spielen. Ein Wahnsinn, wenn teilweise über 100 Blockflöten auf das Kommando eines alten Mannes am Klavier einen Kirchenraum in Schwerin zum Beben brachten. In der Menge konnte jeder Schüler seine Angst überwinden, individuell nicht zu genügen. Nicht musikalisch zu sein, spielte bei so einfach technisch erlernbaren Dingen wie dem Flötenspiel keine Rolle. Und gerade sich nicht für musikalisch zu halten, sorgte bei manchen Schülern für ein beglückendes Erlebnis: Sie konnten von sich behaupten, in einem Kirchenkonzert Flöte gespielt zu haben. Bis heute gilt die Blockflöte als eher pädagogisch gemeint, was schade ist und ihrem Potential nicht gerecht wird.

Ein schönes Beispiel der Unsinnlichkeit der Mächtigen ist dieser Tage der türkische Präsident Erdogan, obwohl er eigentlich nur zuwider jeder Logik handelt – und Logik und Sinn haben wir aufgeklärten Westler schon seit dem 19. Jahrhundert für einen Widerspruch zu halten gelernt. Jemand anderem das vorzuwerfen, was man selber tut: unlogisch. Redefreiheit in Europa ist ein hohes Gut. Die Verweigerung dieses Gutes aus demokratischen Gründen jemandem vorzuwerfen, aber als Staatschef auf dem Weg zur Autokratie genau dies im eigenen Land mit ungeliebten Kritikern zu tun: unlogisch. Mir ist wichtig, dass wir aber auch aufzeigen, dass diese Unlogik im Dienste der Rechtfertigung des gesellschaftlichen Rollbacks nicht nur eine Frage des schlechten Denkens sondern auch der Unsinnlichkeit ist. Sinnliche Menschen halten etwas aus, sie sind generös ohne Attitüde, sie öffnen ihre Herzen, auch wenn alles um sie herum warnt oder Fragezeichen hat. Sie verstehen etwas von der Welt, weil sie verschiedene Modelle der Auseinandersetzung mit der Welt und dem Selbst kennengelernt haben und sie auf ihre jeweiligen kulturellen Kontexte beziehen können. Sinnlichen Menschen schmeckt eine Welt nicht, in der jeder, der ohnehin schon genug hat, meint, es käme beim Menschen nach wie vor aufs blanke Sattwerden an.

Ich habe Bekannte aus China und Indonesien. Auch wenn ich kein großer Freund des Fleisches bin, lasse ich mich gerne inspirieren, versuchte kürzlich erst eine deutsche Interpretation eines chinesischen Nationalgerichts namens Hong Shao Rou. Allein, darüber ins Gespräch zu kommen, Garzeiten zu diskutieren, sich im Geschmack anzunähern, das ist sehr spannend. Ich stelle mir oft vor, wie irgendwelche bornierten Nationalisten in meinem Land traurig und mit unbereichertem Gaumen in der Ecke sitzen und das Leben, trotzdem es sie ganz passabel versorgt, verachten – unfähig, aus dieser besonderen Form des Hamsterrades auszubrechen. Genauso gerne koche ich übrigens Coq au vin, der betörende Moment, wenn der Cognac auf das angeschwitzte Huhn kommt, ist immer wieder ein Highlight. Man muss sich diese kleinen Momente gönnen und in ihnen ein wenig von der Bandbreite des Möglichen durchscheinen lassen. Wer sich nicht einmal ansatzweise daran macht, das Spektrum des Lebens auszuloten, der wird auch an der Vielfalt nie Genusserfahrungen machen. Aber was verlangt man auch von einer Gesellschaft, die gerne Kochsendungen im Fernsehen schaut, aber selber nichts ausprobiert? Sowieso ist diese Schau-Kultur, diese Kultur des passiven Konsumierens von Medieninhalten, die einem das Leben abnehmen, ein gigantisches Unding. Unsinnlich.

Wenn ich so überlege, ist das von Ihnen angesprochene Daherkasperln auch in mir angekommen. Dürfte ich eine Idee äußern, dann würde mir vorschweben, einfach mal ein paar Schriftsteller ihre Lieblingsgeschichte zu ihrem Lieblingsgericht samt Rezept in einem Buch veröffentlichen zu lassen. Und da geht’s dann weiter: Wer  nimmt so etwas wahr in einer Zeit der Dauerbespaßung? Wer traut dem schriftstellerischen Wort zu, eine zweite Sinnlichkeitsschicht über die des Kochvorgangs zu legen, die den Genuss  mehr als nur dupliziert, wer traut der Schnelllebigkeit einer Medienlandschaft, in der Kochen gleich Event sein muss, zu, Platz für die Verlangsamung zu haben, Platz dafür, dass Essen zur Kultur erst durch die Menschen wird, die mit ihr einen ausgearbeiteten und in Worten fassbaren Umgang finden? Wären auch die Zeiten für so ein Buch gar nicht schlecht, so würde vor einem authentischen Statement gelebten und beschriebenen Genusses immer eine Art Marktperspektive stehen. Und die ist ungünstig.

Sind wir daher weniger schuldfähig? Sind wir auf dem Weg zur Infantilgesellschaft? Täglich werden hunderte Stunden Videomaterial bei youtube hochgeladen, 13-jährige geben allen Ernstes „Youtube-Star“ als Berufswunsch an – wie mir eine Kollegin kürzlich über ihren Neffen berichtete –, ein Großteil des Materials besteht darin, dass sich Menschen wortreich darin suhlen, wie andere ihnen bei den trivialsten Stationen ihres Lebens zugucken. Aber: Man muss da nicht mitspielen. Es verspricht kurzfristig Aufmerksamkeit. Aber die Kehrseite ist immer, dass das nur unter Aufgabe vieler der Aspekte geht, die demokratische Gesellschaften mit den allgemeinen Persönlichkeitsrechten schützen. Im digitalen Zeitalter boykottiert Geltungssucht die Integrität der Persönlichkeit, unter dem Deckmantel des Spaßes. Das ist unsinnlich, im besten und im schlimmsten Sinn. Die Durchschnittsperson taugte noch nie als Inhalt, außer den Voyeuren vielleicht. Sind Sie eigentlich bei Facebook?

Kürzlich war ich mit Freunden im Leipziger Szenestadtteil Plagwitz zum Brunchen und fragte mich, ob das nicht auch eine Form von Blase ist, in der man da lebt. Vor zehn Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, ein kleines Cafe/Restaurant könne sich von rein veganen Frühstücksangeboten über Wasser halten, schon allein weil ein Kaffee ohne ‚echte‘ Milch ein absoluter Rausschmeißer gewesen wäre. Heute hat es den Hype-Status schon hinter sich gelassen, ist in bestimmten Blasen zur Normalität geworden. Man bleibt dort unter seinesgleichen, mit dem Beigeschmack des ‚Besser-Essens‘, ‚Besser-Denkens‘. Auch das ist unsinnlich, wenn Essen, wenn Genuss zuvor richtig gedacht werden muss, wenn der sinnliche Genuss nur gefiltert durch ein bestimmtes Weltbild erlaubt ist. Und wer so und so isst, der verleibt sich seine wohlportionierten Weltgewissheiten ein. Lügen wir uns in die Tasche, weil das „ganze“ Leben an solchen Orten nicht abgebildet werden kann? Oder können wir ohne diese entspannte Kiezkultur mit unseresgleichen dieses überfrachtete Leben gar nicht mehr führen? Kriegen wir ohne überschaubaren unmittelbaren Lebenskreis irgendwann alle Panikattacken und eine tiefe Angst von Weltverlorenheit? Warum machen nur reflektierte Menschen es sich zum Vorwurf, dass sie manchmal eben auch Zeiten brauchen, in denen die abständige Welt nicht auf sie einstürmt? Wir haben so Gedanken, die geeignet sind, dass wir uns den Genuss gerne versagen oder nur mit bösen Hintergedanken zugestehen können, aus denen Überlegenheit wird.  Sie haben Recht, wir brauchen mehr von den Dingen, für die es mehr Zeit bräuchte um sie vollen Herzens zu erleben. Müßiggang zum Beispiel. Tage, die nicht Urlaub sind, und trotzdem mit Spaziergängen, mit Kochen, Lesen, mit Musikhören verbracht werden. Mit Aktivitäten, bei denen man nicht stirbt. Literatur scheint für viele immer weniger dazuzugehören, weil sie offensichtlich zu viel Zeit braucht. Ein Text, der gelesen, wieder gelesen werden will, für den es vielleicht einen inneren Dialog des Lesers mit sich über seine Lektüreerfahrung braucht: Diese Verlangsamung stört immer mehr im Alltäglichen. Immer öfter scheint es so, dass die einzigen Menschen, die überhaupt noch lesen, wirkliche Qualität nicht zu schätzen wissen, und literarische Qualitätsunterschiede gar nicht zu erkennen vermögen. Hat Ihnen mal jemand vorgeworfen, Ihre Bücher seien völlig unverständlich? Und da Sie „ausgedörrte Konzeptliteratur“ zur Sprache brachten: Es wird doch immer suggeriert, der Markt wolle das so… Gerade wieder jetzt im März zur Leipziger Buchmesse. Da lagen sie dann wieder, die ganzen Regionalkrimis. Das ist in Deutschland zu einer echten Seuche geworden und je mehr ich Schreibende sehe, die bei einem Regionalverlag ebensolche Krimis veröffentlichen und sich darüber als Schriftsteller wähnen sehe, wird mir ganz blümerant. Braucht ein randvoller Büchermarkt wirklich Literatur nach Schemen? Kaufen wir Bilder von Malern, die nach Zahlen malen?

Oft tröstet nur ein Blick ins eigene Bücherregal: All die Literatur und Musik, die uns wirklich voranbringt, gibt es dort ja weiterhin: Das sprachlich anstrengende, das nachdenkliche, das, wo einzelne ausgearbeitete Sätze so eine beglückende Kraft haben, dass man wünscht, es möge daraus eine Art Bibel werden, die immer weiter tradiert wird und somit das Besserungsversprechen der heutigen Menschheit einer zukünftigen gegenüber einzulösen vermag. Und neben den zigtausend Neuausgaben, die am Tag ihrer Auslieferung meines Erachtens schon publizistisches Altpapier sein müssen um gefallen zu können, gibt es hin und wieder einen Glücksgriff wie kürzlich bei mir das Buch „So viel Anfang war nie“ von Christhard Läpple.  Wenn Verleger mich hören könnten, sie müssten meine Sätze für Zeichen eines ganz abgestandenen und überholten Kulturpessimismus halten. Das wären sie auch, wenn ich behaupten würde, als Leser und Buchkäufer auf dem heimischen Markt heimatlos geworden zu sein, was ich nicht bin. Aber weil ich das meiste nicht für lesenswert halte und diese Darbietung von Literatur als totes Papier nicht für sonderlich attraktiv, bin ich ein großer Verfechter des Vorlesens. Ich halte zwar die klassische Buchlesung für ein typisch europäisches Relikt, das auch bei spannenden Stoffen eher dazu geeignet ist, den Kreislauf zum Erliegen zu bringen und die Füße zum Einschlafen. Aber ich bin ein großer Freund der Lesebühnenkultur. Allerdings: Poetry Slam – in Deutschland macht ja mittlerweile fast jedes Autohaus und jeder Stadtteiltreff zum Sommerfest ‚irgendwie auch einen Poetry Slam‘ – ist mir schon wieder zu sehr auf Applaus eingestellt, oder auf Ahnungslosigkeit, wie man junge Leute für Literatur begeistern kann.

Sie sprachen auch vom Hamsterrad, das mir, wenn auch deutlich anders als Ihnen, wohlbekannt ist. Der lange Dauerstress hat bei mir zu einer Angststörung geführt. Das absurdeste, das mir in meinem Leben jemals passiert ist. Es ist absurd, Angst in absoluten Ruhesituationen zu haben. Diese Angststörung äußert sich vor längeren Reisen und den eingangs beschriebenen Situationen.  Sie klingt aber ab, da ich mittlerweile über einige Techniken verfüge, eine richtig heftige Panikattacke hatte ich nun schon seit etwa zwei Monaten nicht mehr.

Vielleicht fehlt mir die Einbettung in ein dichtes soziales Netz, wie man es in ‚traditionellen‘ Gesellschaften immer noch vermutet. Ist natürlich ein Vorurteil, heißt aber: Wo die kapitalistische Hamsterrad-Welt noch ein bisschen außen vor bleiben darf, da sind die Menschen in der Regel noch dichter beieinander und in dem Ort, in dem sie leben, näher an ihrem Hier und Jetzt. An dem, was sie eigentlich angeht. Wie Sie es mit diesem jour fixe beschrieben: Meine Mutter hat dies mit ihren Freundinnen, und zwar in ihrem Hier und Jetzt. Jeden Freitag treffen sich die Frauen abends zum Töpfern. Zumeist mit einer Flasche Wein. Die Tonfiguren können sich sehen lassen: Nicht der Drang nach Perfektion gibt ihnen Form, sondern die Kommunikation, die Freundschaft, das schöne Gefühl, die Arbeitswoche geschafft zu haben. Als ich jünger war, war der Freitag bei mir ähnlich reserviert: Musik oder Theater improvisieren. Alles zunächst ausprobiert und dann jahrelang praktiziert. Als das noch so war, litt ich nie unter Ängsten. Es gab immer wieder Zeiten, in denen ich beginnen musste, auf etwas zu verzichten. Es war zeitlich nicht mehr zu machen, örtlich schwierig und so weiter. Musik und Theaterszenen zu finden, das hat heute keinen Platz mehr in meinem Leben. Und das macht mir Angst.

Sie schrieben davon, dass man einer Künstlerin ihre Sehnsucht eher durchgehen lässt, oder sich eine Künstlerin die eigene Sehnsucht eher durchgehen lässt. Aber ärgert man sich nicht gelegentlich auch darüber? Dass man trotz aller Reflektiertheit so einen Rest von mitunter dumm wirkendem Sentiment nie loswird? Ich fand es beeindruckend, wie Sie die Möglichkeit durchschaut haben, aus einem Sehnsuchtsland eine Masche zu machen, die Ihnen der Literaturbetrieb dann womöglich anhängen könnte, daraus ein Etikett machen könnte. Diesen Gefallen darf man einerseits dem Betrieb nicht tun. Andererseits wäre es völlig schade und ungerecht, würde man noch über die sinnlichsten Ihrer Sätze die Folie namens „Rumänien“ legen, nach Spuren suchen, nach Schlüsseln zum Sinn hinter den Sätzen. Ich habe oft überlegt, ob ich gut damit beraten wäre, mich als Spätgeborener der DDR nach diesem Land zu sehnen, das ich praktisch kaum bewusst erlebt habe. Es lohnt nicht. Meine Sehnsucht zielt eher auf die Zeit vor der Angst: Alles möge so viel Spaß machen wie früher. Und wenn man den Kurzschluss zieht, dass früher nichts angstbesetzt war, dann könnte auf einmal jede Vergangenheit als Sehnsuchtsbild taugen, auch eine schlechte. Wahrlich, wir leben auch in der Gegenwart nicht auf großem Fuß. Vermutlich auch nicht der Mann in Pinneberg, wobei ich davon ausgehe, dass Sie ihm seine norddeutsche Sturheit verziehen. Er saß wohl nicht in böser Absicht so für andere verstörend auf der Bank. Kann man ‚verstörend sitzen‘?

Ich habe tatsächlich Bücher  von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow aus dem Nachlass meiner Großmutter übernommen, so unter anderem den Band „Beziehungen sind alles“… Die beiden mussten in der DDR stark gelesen worden sein. Im Bücherregal meiner Großeltern standen eigentlich nur Bücher, die über die Lesezirkel vertrieben wurden. Mein Vater liest heute praktisch gar nicht, war in seiner Jugend aber auch Mitglied in so einem Zirkel. So schön der regelmäßige Umlauf und das Ankommen von Büchern im eigenen Haushalt für Autoren auch klingen mag und auch in der DDR Kultur hochgehalten zu werden schien, Ilf und Petrow hatten diesen Umlauf nur, weil sie als ungefährlich im Staatssozialismus ostdeutscher Prägung galten. Und wie ich gerade nochmal in dem Buch „Beziehungen sind alles“ blätterte, entdeckte ich einen handschriftlichen Zettel von mir, ausgerissen aus einem Notizblock der Deutschen Bahn. Dem Anschein nach muss ich den Zettel vor etwa zehn Jahren da hineingesteckt haben. Darauf zwei Worte „pragmatische Aphorismen“.  Ich schrieb in der Zeit ziemlich intensiv eine Art Tagebuch oder Journal, wie immer man das tägliche Geschreibsel eines Zwanzigjährigen nennen möchte, und las Ilf/Petrow in einer Zeit, als Günter Grass in der Öffentlichkeit irgendwie demontiert wurde, und die einzige andere große Person der zeitgenössischen Literatur in Deutschland (mit Ausnahme von Martin Walser) immer noch Christa Wolf war. Die Erinnerung an beide, Grass und Wolf, fällt heute einer auf Aktualität ausgerichteten Gesellschaft schwer, nur noch die Literaturwissenschaft verwaltet ihr Werk, ob man wie Christa Wolf nun schon knapp sechs Jahre tot ist, oder so wie Grass erst zwei. Ilf und Petrows pragmatischer Aphorismus „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen“ aus einem der Essays hatte für mich eine unmittelbar über den beschriebenen Bus hinausreichende Evidenz: Wollen nicht Diktaturen dies auch? Oder das Literatur-Feuilleton selbst, das diktatorisch manche Autoren niederschreit? Und heute erstrecht: In Russland, in der Türkei, in Serbien: Einer lenkt das Land, macht sich groß daran. Bis zu dem in allen Diktaturen äußerst pragmatischen Aphorismus: „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen…“ Daran schließen sich viele Folgefragen an: Wenn die Gesellschaft Amok fährt, sollte man nicht lieber aussteigen? Oder selber fahren? Selber fahren: Mein erstes eigenes Auto übernahm ich wie Ilf/Petrow ebenfalls von meiner Großmutter. Sie beschloss irgendwann, dass auch kleinere Fahrten für sie zu viel sind  Das Auto wird hierzulande immer noch als ein Garant von Freiheit und Unabhängigkeit verstanden. Ich fragte Sie danach, weil ich vermute, dass beim Verhältnis von Autoren zum Auto – ähnlich wie beim liebsten Gerichte – noch kleine Schätze zu heben sind. Die Geschichten vom Peugeot Ihres Vaters sind ja wirklich köstlich. Erheitert war ich auch von der Notiz, dass in Rumänien so viele Autoren eigentlich Kriminelle sind, so gesehen ist es ein Witz.

Auch wenn es seltsam klingen mag: Es freut mich zu hören, dass der turbulente Alltag Sie tendenziell eher mit mehr Ideen beschenkt, als er Ihnen vielleicht Gelegenheiten schenkt, sie gleich auf Papier zu bringen. Dieser Überschuss, dieses Gefühl, hinterher zu hecheln und dann doch im Kurzzeitspeicher nach diesem einen Satz zu kramen, den man unausgesprochen auf der Zunge hat und für den man dann am Schreibtisch Entsprechungen suchen möchte, und dann vielleicht doch nur einen Ersatz findet. Mir geht es oft so: „Gedacht, unmittelbar für gut befunden aber nicht aufgeschrieben“ bedeutet: Der Satz, die Idee ist weg und zeigt sich wieder, wann sie will, kann sein drei Wochen später, kann sein nie. Und dennoch schürt es Zutrauen zum eigenen Gehirn, zur eigenen Kreativität: Dieses Mehr ist immer in einem und es findet seine Ventile so oder so. Wem fließen schon Sätze einfach immer so zu?

Das müssen schöne Zeilen sein für den Verlag, der sich Ihres Kinderbuchs nicht hat annehmen wollen. Ich beobachte in meiner Familie, dass wir genau das wollen, wo die von Ihnen geschilderten Bedenken des Verlags liegen. Wir wollen, dass unsere Jüngsten all das bekommen, was ihnen hilft, ein realitätsgerechtes Bild von der Welt zu erhalten, gepaart mit der Sinnlichkeit der Musik und dem Wechselspiel von Empfindungen, bei denen man meines Erachtens nicht nur lernen muss, die negativen auszuhalten, sondern auch den positiven ihren richtigen Wert beizumessen. All das geht nicht, wenn Kinderbücher entweder rein pädagogisch sind oder nur weltverharmlosend. Aber auch Bücher „für Erwachsene“ tragen die von Ihnen beschriebene Verharmlosung in sich, wenn sich damit Geld verdienen lässt. Wahrscheinlich werden weder Sie noch ich irgendwann mal einen 700-seitigen Wälzer von dieser Marke „Historienroman“ oder „Krimi“ schreiben, die vor den Regalen auf gesonderten Tischen mit Aufsteller empfohlen werden. Auch das ist eine Rolle, die man spielt. Die Themen sind andere, der Wille nicht da, im großen Zeilenschinden mitzuwirken oder mit zu lügen. Ein gut verkaufbarer Roman über das Mittelalter erfindet in der Regel weder das thematische noch das sprachliche Rad neu. Ich bin nach einer Veranstaltung auf einem Philosophie-Festival in Köln mal von einem großen und sehr bekannten Berliner Verlag angeschrieben worden. Einer Dame aus dem Akquise-Team fiel in Köln meine Art auf, mich humoristisch und in rhytmischer Sprache, die man von Poetry-Slams halt so kennt, auf grundlegende Fragen des Daseins und besonders unserem Scheitern an der Welt zu werfen, und schrieb mir einen Brief mit einem Satz, der auch gestandene Autorenkollegen von mir damals echt erstaunte: „Wir könnten für Ihre Texte das beste verlegerische Umfeld bieten.“ Und das mir, publizistisch gesehen damals absolut ein Niemand. Ich hätte stutzig werden sollen: Ein Verlag, der sein Jahresgeschäft gerade mit einem Buch über die Darmflora in Sack und Tüten hatte und gedachte, weitere Autoren nur aufzunehmen unter der Maßgabe, dass sich mit ihnen nahtlos genau an diese Form von Büchermacherei anknüpfen ließe, war nach meinem Empfinden eigentlich genau nicht das, was ich leisten konnte. Ich fühlte mich geehrt, fuhr einige Mal nach Berlin, holte die Lektorin vom Verlag ab, genoss mit ihr einen guten Café Latte in einem benachbarten Café im Hochsommer, während ein Gewitter aufzog und ich mit Staunen in der nur mäßig sich abkühlenden Luft stand. Machte ihr insgesamt fünfzehn verschiedene Themenvorschläge für populärphilosophische Bücher – versehen je mit einer Art Klappentext – doch was soll‘s: Ein monatelanges Hin und Her, viel Arbeit investiert, meine „Geistesblitze“ schlugen nicht ein, waren zu sperrig, und wenn sie populärer waren, dann entweder zu flapsig oder unerklärlich ähnliches. Ich schaue auch heute noch regelmäßig ins Programm der Neuerscheinungen des Verlags um zu gucken, ob es nicht mindestens diese oder jene Idee von mir in die Feder eines anderen Autors und an den Stand auf der aktuellen Buchmesse geschafft hat. Ich habe den Misserfolg dieses Buchprojektes – wie Sie anmerkten – wirklich nicht persönlich genommen, denn es hatten die Leser, um die es bei einem Buch zuförderst geht, gar nicht erst die Chance mit ihrer Aufmerksamkeit abzustimmen. Sie stimmten bisher nicht gegen mich. Also mache ich irgendwie weiter, auf meinem ganz bescheidenen Niveau.

Vor wenigen Wochen kam das schöne kleine Bändchen aus dem Göttinger Wallstein-Verlag bei mir zu Hause an. Unser erster Austausch am Ende des Bandes zeigt, auch wenn er natürlich im Umfang gegen die anderen Korrespondenzen nur einen vorläufigen Stand zeigt und wir eigentlich schon drüber sind, doch ganz schön die vielen offenen Fäden, nicht nur in unserer Diskussion, auch in denen der anderen. Das finde ich als Bild ganz schön. Wie sich auf dem Cover der Ausgabe der „horen“ aber verdeutlicht, gibt es geografisch ein deutliches Berlin-Übergewicht. „Interessante Zeiten, könnte man sagen“, und wahrscheinlich muss man in diesen Zeit in Berlin leben. Aber wer wären wir, wenn wir nicht Pflichtveranstaltungen gerne ausschlügen?

Mit den besten Grüßen
Carlo Ihde

Brief nach Schwerin versendet (Grigorcea an Ihde)

Lieber Herr Ihde,

beim Lesen Ihres Briefes sind meine Gedanken immer wieder um dieselbe Frage gekreist: Wie haben Sie es eigentlich mit dem Tanz? Ergibt sich in Ihrem Leben die Möglichkeit zu tanzen oft oder eher selten, und sind Sie eher jemand, der am Rande sitzt?

In meinem Umfeld in Bukarest wurde immer viel getanzt, während meiner Wanderjahre durch Belgien, Österreich, Deutschland und Frankreich habe ich ebenfalls viel getanzt, und auch jetzt in Zürich lasse ich keine Gelegenheit dazu aus.

Ich habe an vielen Orten getanzt, auf Geburtstagsfesten in Wohnungen, in den Küchen der Studentenheime, auf Straßenfesten, in Discos, Bars. In Straßburg zum Beispiel gab es eine Bar, „Les Aviateurs“, wo die Kundschaft immer alles mitgesungen hat beim Tanzen, lauthals; dann die Bälle in Wien, „alles Walzer“ bis in den Morgen, auf manchen Literaturfestivals am letzten Abend, auf Hochzeiten oder auf Tauffesten, manchmal in Rumänien auch auf Gedenkfeiern für die von uns Gegangenen, zu ihren Ehren. Sehr gerne habe ich Kreistänze, aber auch Reihentänze, wie sie beispielsweise im Orient getanzt werden. Ich mag auch tanzend die anderen Tänzer beobachten, viele meiner Freundschaften haben sich beim Tanzen gefestigt, könnte ich sagen. Ich habe bisher an fast allen Orten, an denen ich gelebt habe, getanzt, tanzend bin ich sozusagen heimisch geworden. Die Art zu Tanzen ist, unabhängig vom Tanz, eine Signatur, finden Sie nicht auch? So wie die Handschrift auch – aber die ist im Verschwinden begriffen.

Vor drei Jahren bin ich eine Woche in Rio de Janeiro gewesen, zur Fussball-Weltmeisterschaft. Sie erinnern sich vielleicht an das Halbfinale Deutschland-Brasilien, das 7:1 ausgegangen ist. Ich habe das Spiel in eine Strandbar gesehen: Alle Strandbars hatten einen Fernsehen hinausgestellt, sowie Liegestühle, Hocker und sonstige Kisten zum Sitzen, fröhliche Improvisationen. Fast alle Anwesenden waren Brasilianer und hatten das gelbe Brasilienleibchen an. Nach dem Spiel war erst einmal eine große Stille. Dann aber führ eine Putzkolonne vorbei, Männer im orangfarbenen Overall, die sich an den Sitzenden vorbeischlängelten und riefen: „Cuidado, aus dem Weg, Leute, macht Platz.“ Und wie sie so riefen und in die Hände klatschten, begann sich ihr Händeklatschen zu rhythmisieren, und dann schlug einer von ihnen den Sambaschritt ein – und noch ein weiterer, und die Leute jubelten ihnen zu. Jemand fing an, auf einem Bongo zu schlagen, und immer weitere standen auf, schwangen die Brasilienfahne und tanzten mit. Irgendwann tanzten wir alle am Strand und, sobald der Bongotakt anhielt, riefen wir laut: „Deutsch-land!“ Und wieder: „Deutsch-land!“ Was war das für ein Fest!

Überhaupt habe ich die Tanzkultur in Brasilien sehr genossen, auch, dass der Tanz sehr eng mit dem Humor einherging und mit einer großen Gelassenheit. Und als die Argentinier herreisten zum Finale, habe ich beobachten können, wie sie sich in der Nähe der Clubs ein frisches Hemd anzogen und sich die Haare gelten im Seitenspiegel ihrer staubigen und vollbepackten Autos.

Ich mag es, wenn sich die Leute herausputzen, um zu feiern, somit die Idee von einer Feier zelebrieren.

Auch ich bin jemand, die mich herausputze, um tanzen zu gehen. Eine Ausnahme habe ich nur in Berlin gemacht bei den Technopartys, die ich mit meinem Mann besucht habe.

Über meinen Mann habe ich dann manches über die Rave-Kultur in Berlin gelernt und auch die Künste bestimmter DJs schätzen gelernt.

Irgendwann möchte auch ich eine DJ-Ausbildung machen und auflegen. Wenn ich schon keine Korrepetitorin bin …

Jetzt in Zürich gibt es ausgelassene Terrassenfeste – hier wird im Sommer gern auf Dachterrassen gefeiert oder am See, in Strandbars oder in Ruderclubs. Solche Feste mag ich besonders.

Einmal war ich auch auf dem Opernball, aber da war es leider zu eng, um richtig zu tanzen, und als ein Journalist kam mit einer Kamera, wollten sich alle nur noch fotografieren lassen und drängten sich zusammen in Grüppchen.

Dieser Fotofetischismus, der mit den Neuen Medien aufgekommen ist, hat auch eine klaustrophobierende Stillhaltekultur hervorgebracht. Dieser Stillhalteimperativ vermag zu deprimieren, meinen Sie nicht auch?

Ich bin in vielem nicht ihrer Meinung, was den Internetkonsum anbelangt: Die Melancholie, die sie bei den „ambitionierten, exzessiven Nachgooglern“ sehen, könnte leicht zu einer Trägheit werden, wie früher das Zappen vor dem Fernsehen. Es gibt ein Maß im Genuss – maßlos ist nur der Rausch. Kraft zu finden nach dem Rausch ist wiederum eine Kunst und hat wieder mit Maßhalten zu tun. Hier sei die Mäßigung nicht mit Verklemmung zu verwechseln, sondern mit einer Éducation sentimentale.

Hier möchte ich auch Ihre Kritik an der Esskultur und besonders an der veganen Kultur ansprechen: Sie schreiben mir, es sei unsinnlich, wenn man sich Überlegungen macht zum Essen und überhaupt zum Genuss, „wenn der sinnliche Genuss nur gefiltert durch ein bestimmtes Weltbild erlaubt ist.“ Und damit kritisieren sie die veganen Lokale und ihre Freunde, mit denen Sie vegan gebruncht haben im Leipziger Szeneviertel Plagwitz. Bedarf Genuss demnach einer Impulsivität, einer Unbedachtheit, ist Zügellosigkeit daher Genuss? Genießt man eher im Unwissen um die Umstände des Genusses?

Aber nein, lieber Herr Ihde, der wahre Genuss ist nur mit einem Sinn für Ästhetik und eben auch für Ethik verbunden. Und der Entschluss, keinem Tier Leid zuzufügen, ist zweifelsohne redlicher als das Gegenteil. Ich verneige mich vor meinem veganen Freund, dem Schriftsteller Rolf Lappert. Es braucht mehr Menschen wie ihn und wie Ihre Freunde aus Leipzig!

Ich erinnere mich, wie nach der Wende in Rumänien ebendiese Frage aufkam, ob ein ästhetischer Genuss eine Ethik voraussetzt oder nicht. Es ging damals um die rumänischen Schriftsteller, die mit dem kommunistischen Regime paktiert und über ihre Literatur die Botschaften des Regimes verbreitet hatten. Eine ähnliche Diskussion führte man beispielsweise an deutsche Filmakademien zu Leni Riefenstahl – und über die DDR.

Wir leben in Zeiten, die Begriffe wie „das Schöne“ und „das Gute“ umschreibt, wie alles, das keine Brüche aufzeigt und sich nicht relativieren lässt. Denn im Relativieren wähnen wir uns tolerant – jedem eben das Seine, und jeder versteht darunter, was er will. Am Ende gähnt ein Spleen und ein Desinteresse aus allem, eine Überbeschäftigung mit dem, was wir meinen uns selbst zu sein und wiederum der Schrecken, dass auch das sich im Ungefähren auflösen könnte.

Auch ich bin auf Facebook, auf Twitter, habe einen Instagram-Account und verfolge zwei Blogs – darunter einen über die Oper, raffiniert geschrieben und voller Intrigen und Kontroversen, fast ein Fortsetzungsroman. Ich versuche aber, meine Online-Zeit einzuschränken, um auch dazu zu kommen, allein zu sein und mich zu langweilen.

Ich langweile mich eigentlich nie, versuche es aber immer wieder, als Psychohygiene. Ich glaube, man müsste die Langeweile neu entdecken – damit würde man viele Ängste abbauen. Sonst ist man online immer in Gesellschaft; in diesem Fall ziehe ich die analoge Gesellschaft vor, nicht zuletzt, weil ich beim Kommunizieren gerne gestikuliere und auch die Gestik der Menschen beobachten mag.

Neulich habe ich auf eine Frage der „Zeit“, nach dem, was ich am Schweizer Literaturbetrieb am meisten schätze, geantwortet, das Beste seien die Apéros. Ich bin eine große Profiteurin der Apéro-Kultur, und ich bin das gern. Es sind jene Momente, wenn die Anspannung von der Anreise und der Lesung in mir abfällt und zugleich die Müdigkeit noch nicht eingesetzt hat, da kann ich zuhören und erzählen und mich amüsieren.

Nun, ich schreibe Ihnen diesen Brief auf dem Balkon unserer Zürcher Wohnung, und die ganze Balustrade ist voll mit blühender Kapuzinerkresse. Kapuzinerkresse hatte meine Großtante im Garten ihres Ferienhauses, und der Anblick hat immer die langen Sommerferien angekündigt. Ich habe vor kurzem auf einer Lesereise durch Österreich erfahren, dass man sie auch essen kann – für mich fast ein Sakrileg.

An der Kapuzinerkresse vorbei und zwischen den feinen Blättern eines Akazienbaumes schaue ich auf ein besetztes Haus. Es hätte abgerissen werden sollen, um Platz zu machen für teure Familienwohnungen, aber die Nachbarn haben das Bauvorhaben angefochten – wegen der besonderen Architektur, dem zu befürchtenden Lärm und dem Baumsterben –, und bei dem kurzzeitig leerstehenden Haus wurden vor zwei Wochen bemalte Laken ausgehängt, darauf die Ankündigung, dass hier nun ein „Frauensquat“ wohnt, der sich mit Familie Kröte unterschreibt. „Queer, feministisch, freundlich, aber widerspenstig“ steht auf der Zeichnung eines großen Krötenkopfes. Und ebenfalls per Laken-Banner wurde zum Solidaritätsbrunch geladen, „Alli cho!“ (Kommt alle!) Die Frauen deckten einen langen Tisch, flankiert von zwei riesigen Blumensträußen, machten einen vegetarischen Brunch mit Hummus und viel ausrangiertem Bio-Gemüse und brachten Kaffee und Tee in Thermoskannen herbei.

Ich kam kurz vorüber, erkannte unter den Frauen die Leiterin des Babyschwimmens und eine Freundin meiner Lieblingsbuchhändlerinnen, sozialisierte ein bisschen und fühlte mich dabei in meinem farbigen Kleid und den Sandalen mit Absatz auf der falschen Party: Alle Frauen trugen schwarz – schwarze Hotpants, schwarze T-Shirts, schwarze Turnschuhe und einen kleinen, schwarzen Rucksack. Irgendwann umarmte mich die eine Engländerin und rief in die Runde: „There ist no dresscode in solidarity, right?“ Das war sehr nett.

Am nächsten Tag kam die eine Frau zu mir ans Tor und zeigte mir ihr T-Shirt: Schwarz mit farbigen Vögeln drauf, Kolibris mit langen Schnäbeln. Das habe sie für mich an, sagte sie.

Es ist lustig zu beobachten, wie die Passanten anhalten, um die Texte auf den Laken zu lesen. Auf dem einen Banner am Hauseingang steht: „She thought she could, so she did.“ Vor dem Banner mit dem Krötenkopf und dem Schriftzug „queer, feministisch, freundlich, aber widerspenstig“ stehen jetzt ein Vater und ein Sohn, beide in weißen Hemden und heller Hose, der Vater hat den Arm um den Sohn gelegt – die sehen aus wie aus einer Werbung für Lebensversicherungen oder Edeluhren.

Ein leiser Windzug, und die feinen Akazienblätter zittern, ebenso meine Kapuzinerkresse. Ich habe ein Déjà-Vu.

Lieber Herr Ihde,
bleiben Sie gesund und mit einem positiven Gefühl der Welt gegenüber!

Herzliche Grüsse aus Zürich,
Ihre Dana Grigorcea