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Carmen-Francesca Banciu Mirela Ivanova

7. Juni 2016 – Brief aus Stoupa (Griechenland) nach Sofia abgeschickt (Banciu an Ivanova)

Brief nach Bulgarien
Stoupa 17 Mai – 7 Juni

Liebe Mirela,

ich halte den Atem an und warte. Jeden Tag wird meine Zukunft neu entschieden. Meine Zukunft und Deine. Und die unserer Kinder. Und die der Kinder der Kinder der Kinder.
Meine Enkeltochter spürt meine Spannung und hält den Atem an, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie ist erst drei Jahre alt.
Meine Enkeltochter weiß nicht, was Europa bedeutet. Und doch werden die nächsten Wochen ihr weiteres Leben prägen. Entscheiden.

Ich schreibe Dir aus der Nachbarschaft. Aus Griechenland. Nein, nicht aus dem Griechenland, das in den Schlagzeilen steht. Nicht aus dem unruhigen. Aus dem anarchischen Athen der Protestierenden. Nicht aus dem aufgelösten Camp in Sechovo – Idomeni an der Bulgarischen Grenze. Nicht aus der Gegend, die mit Stacheldraht Europa von Europa trennt.

Ich schreibe Dir aus einer Gegend, die schon seit der Antike besteht. Und davor. Über die selbst Homer geschrieben hat. Aus einer Gegend, wo die Mani-Türme über die Gegend wachten und Schutz boten gegen Eindringlinge. Eroberer. Plünderer. Piraten. Und heute die Orte geworden sind, wo die Schönheit der Umgebung bewundert werden kann.

Ich schreibe Dir aus einer Gegend mit Menschen, die Europa lieben und ihm gleichzeitig skeptisch gegenüber stehen. Weil sie Europa nicht mehr verstehen. Aus einer Gegend am Fuße der Berges und gleich am Meer. Aus einer Gegend, die überlebt hat, weil das Meer und die Berge hier so nah beieinander liegen. Weil es das Meer mit seiner nicht endenden Bewegung gibt. Weil es die Sonne gibt. Den Sand. Und den Fisch. Die Olivenhaine. Die Zitronen. Den Feta, den Wein. Die wunderbaren Tomaten. Und den menschlichen Zusammenhalt.

Noch gibt es den Fisch. Und den ganzen Reichtum, den man in Nordeuropa Armut nennt, der aber die Menschen hier überleben läßt. Und solange es das alles gibt, wird Griechenland überleben. Griechenland, das alte und das neue. Das ewige Griechenland. Es wird mit oder ohne Europa überleben. Wie die Berge und das Meer. Und der Kreis der täglich neu geborenen Sonne.
Solange wird Griechenland überleben. Und das gibt mir bei den täglichen Herausforderungen unserer Zeit ein Gefühl von Erleichterung. Von Hoffnung, Von Schutz.

Ich schreibe Dir am Anfang eines sich heiß ankündigenden Sommers. Inzwischen geht es gar nicht mehr. Oder gar nicht mehr nur um Griechenland. Inzwischen ist der Grexit die kleine Bedrohung.

In Österreich waren Wahlen. Und die Rechten haben sehr knapp verloren. La Mustatză, würde man auf Rumänisch sagen. Am Schnurbart vorbei ist die Schere gehuscht und hat knapp den Schnurbart verpasst. Verschont?
La Mustatză haben die Rechten verloren. Und wir alle fürchten, das ist eher ein Aufschub als ein Sieg.
Eine Warnung für uns alle. Für Europa. Für die Welt.

Wellenwolken hängen über Europa. Und bringen alles durcheinander. Sogar das Wetter ist durcheinander geraten.
Das ist kein Wetter. Es ist Unwetter. Gewaltig. Zerstörerisch. Es überkommt einen. Überfällt. Bricht über uns herein. Bricht über unsere Länder herein. Über Deutschland, Frankreich, Rumänien, Bulgarien. Fast über ganz Europa.
Sogar das Wetter ist durcheinander geraten. Wie in den rumänischen Balladen, wo die Naturgewalt die Stimmung der Menschen ausdrückt. Und das Unglück der Protagonisten ankündigt.
Aber ich glaube nicht an die Aussagekraft der rumänischen Doinen und Balladen. Mit ihrer fatalistischen Botschaft. Mit ihrer den Menschen belehren wollenden Schicksalsergebenheit. Trotzdem würde ich es gerne wissen: Übt das Wetter seinen Einfluss auf die Menschen aus und lässt sie in die Irre gehen? Lässt sie panisch unter der Droge der Angst reagieren?
Sind die Reaktionen der Menschen beeinflusst von der gewaltigen Kraft der Natur? Oder reagiert die Natur auf den Irrsinn der Menschen?
Wer war zuerst, das Huhn oder das Ei?

In Frankreich wird gestreikt was das Zeug hält. Und die Briten werden in einigen Wochen wählen. Und viel zu viele sprechen von Brexit. Und sie machen so viel Stimmung gegen Europa, dass man sich fragt, ob die Briten verstehen, was sie sich selbst antun, bevor sie überhaupt Europa etwas antun werden. Sie glauben sich von dem sinkenden Schiff zu retten. Sie werden Schottland und Irland und Wales verlieren. Und sich zu einer kleinen Provinz degradieren. Meine britischen Freunde hier in der Mani sagen, sie werden einen griechischen Pass beantragen, wenn das passieren sollte. Sie wollen Europäer bleiben. Sie wollen die Vorzüge des Vereinten Europa nutzen. Sie hoffen, wie ich, auf einen Funken Verstand.

Einen Funken Verstand werden einige der Britten haben und die EU Befürworter werden La Mustatză gewinnen. Und sie werden es schaffen, England in der EU zu halten. Ein Funke Verstand kann Vieles retten. Wird das aber ein Sieg sein? Oder bloß ein Aufschub?

Ausstritt-Sehnsüchtige gibt es überall! Sie überraschen mich immer wieder. Es überrascht mich zu sehen, wie Errungenschaften für selbstverständlich gehalten werden. Manche wollen alles zerstören und wegradieren, Verschwinden lassen. Andere glauben, sie müssen zerstören, um neu und besser aufzubauen.
Wie fragil das europäische Gebilde ist, und wie sehr uns dies bewusst wird!

Ich frage mich und Dich, wie die Stimmung in Bulgarien ist.

Gruß nach
Ich schreibe Dir in der Hoffnung, dass bei Euch in Wirklichkeit die Nachrichten besser sind und die Zukunft hoffnungsvoller aussieht als das, was ich in den Zeitungen lese.
Bulgarien und Rumänien werden immer wieder in einem Atemzug genannt. Und oft in einem negativen Zusammenhang.

Ich bin nicht die einzige, die sich fragt, ob wir vor den Trümmern Europas stehen. Und doch bin ich voller Hoffnung, dass ein Wunder geschieht.
Ist es so weit gekommen, dass man nur noch auf Wunder hoffen kann? Dass nur noch ein Wunder dieses Gebilde retten kann? Man nennt es oft schlicht Europa. Aber ich selbst bin damit nicht zufrieden. Wo waren wir vor der Wende. Und vor dem Beitritt zur EU, wir Rumänen und Bulgaren? Waren wir nicht auch in Europa, in einem geteilten Europa?
Und wieder ist Europa geteilt. In pro und contra EU. Und Wieder soll Europa geteilt werden. In für und gegen Flüchtlinge. Pro und contra Integration. Pro und contra Islam. An all dem kann Europa zerbrechen. Zersplittern. Zerfallen. Pro und contra Griechenland. Pro und contra Schengen-Öffnung. Pro und contra Türkei-Deal. Pro und contra Türkei EU-Beitritt.

Und die, die für die EU sind, sind selbst untereinander geteilter Meinung. Pro und contra Hilfe für Syrien. Pro und contra Waffenembargo für Syrien. Pro und contra Verlängerung der Sanktionen für Russland.

Ich trete einen Schritt zurück. Und betrachte das Bild vor mir.
Es sieht erschreckend aus. Ich will nicht sagen hoffnungslos. Dabei hat es für uns Osteuropäer so hoffnungsvoll angefangen. Vor mehr als einem Viertel-Jahrhundert.

Ich wollte Dir über dieses Gefühl zur Zeit des Umbruchs schreiben. Über die berauschende Zeit nach der Revolution. Über dieses Gefühl, alle Türen und Tore stehen weit offen. Einladend. Und alles ist möglich.
Ich habe dieses Gefühl nie vergessen. Und manchmal, wenn ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, nähre ich mich aus diesem Gefühl.
Vielleicht werde ich Dir doch noch irgendwann darüber schreiben.
Jetzt beschäftigt mich die Gegenwart viel zu sehr.

Nicht nur Osteuropa war voller Begeisterung.
Wie konnte es kommen, dass die Europa-Euphorie sind ins Gegenteil gewendet hat. Und immer weniger Unterstützer sie für wünschenswert halten?
Wie konnte es so weit kommen, dass man bei aller Unvollkommenheit, nicht die Vorteile und die Bedeutung des Ganzen sehen kann.
Ich weiß nicht, ob mein Brief dich entmutigen wird. Oder aufregen. Dich auf mich wütend machen wird.
Ich bin keine Pessimistin. Ich bin nicht katastrophengeil. Ich klage ungern. Ich spreche eher mit mir selbst. Ich weiß nicht, ob ich Dir den Brief überhaupt schicken soll. Vielleicht schlafe ich erst einmal darüber.
Liebe Mirela,

wieder habe ich deinen Brief nicht abgeschickt. Ich breche immer wieder ab. Weil mein Brief nur einen Teil meiner Gedanken ausdrückt.
Ich bin heute am frühen Morgen aufgewacht. Viel zu früh. Ich hätte lange schlafen wollen, da ich bis tief in die Nacht hinein gearbeitet habe. Aber ich bin keine Tagschläferin, gehöre einfach nicht zu den Tagschläfern.

Ich bin heute viel zu früh am Morgen aufgewacht. Der Himmel war blau und lichtvoll. Und das Meer funkelte. Und ich hatte jeden Grund, mich von dieser unsagbaren Schönheit erfüllen zu lassen. In ihr aufzugehen. Und doch spürte ich das Herz von Nebel verhüllt. Und einen unsichtbaren Stein. Etwas Gewichtiges erschwerte meinen Atem. Seit einiger Zeit passiert mir das immer öfter. Ich ertappe mich dabei, mich zu fragen, wohin, sollte es schlimm werden in Europa. Mit jüdischen Familiensträngen und mit einer halbafrikanischen Enkeltochter. Mit Ansichten, die in keine Schublade passen. Und einem Konto, das bei weitem nicht überbordend ist.

Ich habe meinen Brief schon so oft angefangen. Aber jeden Tag brechen neue Nachrichten herein. Immer erschreckender, So dass ich erst durchatmen muss, bevor ich weiter mache. Und ich am liebsten warten will, in der Hoffnung, am nächsten Tag wird der Schrecken bloß ein Alptraum gewesen sein. Der Schaden behoben. Die Welt, soll ich sagen – wieder in Ordnung? Oder soll ich sagen, – wieder beim Alten? (Ich bin ja grundsätzlich nicht gegen Veränderung und Fortschritt.)
Die Geschwindigkeit, mit der die Bedrohung wächst, lässt mir gar keine Zeit, meine Gefühle zu bezähmen. Meine Gedanken zu ordnen. Jeder Tag, an dem ich Deinen Brief nicht zu Ende bringe, macht den Brief zur Geschichte. Macht die Ereignisse, die mich bedrücken, zu einem Teil unserer Geschichte. Macht den Brief zur Chronik einer Zeit, die in die Geschichte eingehen wird.
Und ich frage mich, wie es Dir so geht, wenn Du morgens aufwachst und die Nachrichten hörst. Ich frage mich, wie es euch da oben geht. Mit Bulgarien, das an Griechenland grenzt, ein zweifach von der Krise geplagtes Land. Mit einer Grenze zur Türkei – die uns allen inzwischen große Sorgen macht. Mit einer Grenze zu Rumänien, dem von Russland zum neusten Feind auserkorenen Land. Ich frage mich, wie es euch geht, als Mitglied der EU und der NATO unter diesen Umständen. Und wie das Weltgeschehen von euch her betrachtet aussieht. Wie groß eure Angst ist, die Welt könnte bald wieder aus den Fugen geraten.

Es gibt immer öfter Momente, wo ich mich frage, haben wir die Büchse der Pandora geöffnet, als wir im Osten Europas nach Freiheit und Selbstbestimmung, nach freier Meinungsäußerung gestrebt haben und in unseren Ländern vor einem Viertel Jahrhundert die Diktatur abgeschafft haben. Ich will nicht diskutieren, ob es Revolutionen waren. Um mir selbst diese Frage zu beantworten, habe ich darüber auch ein Buch geschrieben: War es ein Putsch, war es Kitsch oder gar eine Revolution?
Haben wir die Büchse der Pandora geöffnet? Haben wir 1989 selbstsüchtig die Welt endgültig aus dem Gleichgewicht gebracht, wie mein Vater „mich und Meinesgleichen“ bis zu seinem Tod beschuldigte?
Was wäre aus uns geworden, wenn Rumänien und Bulgarien immer noch unter der Knute der Sowjets stünden? Was wäre aus unseren Ländern geworden, und wie hätte die Lage im Europa des Jahres 2016 ausgesehen? Hätte sich England überhaupt den Gedanken eines Brexit geleistet? Hätte sich Erdogan getraut Deutschland zu drohen?
Aber vielleicht hätte es Erdogan gar nicht gegeben. Und die EU wäre nicht in der Krise. Und der IS wäre gar nicht entstanden. Weil niemand Interesse daran gehabt hätte, diese Bande heranzuzüchten.
Und Russland würde es auch nicht geben. Sondern immer noch unseren übermächtigen Bruder, mit seiner unbesiegbaren Roten Armee. Der über uns wacht – mit Zähnen und mit Dornen.
Jeder Tag in dem ich meinen Brief nicht beende, macht die Entscheidung schwieriger, Dir zu schreiben. Besser gesagt, das Geschriebene loszuschicken, loszulassen.

Ich möchte mich nicht erschrecken lassen von Nachrichten. Von politische Analysen. Prognosen. Von der Angst vor dem (politischen) Kalkül und der Bedrohung durch die Herrschsüchtigen. Die Gierigen. Durch die Geldgeier. Die Machthungrigen. Die rechthaberisch Besessenen. Ich will nicht glauben, dass alles, was uns Hoffnung gemacht hat in den letzten Jahrzehnten wie ein Kartenhaus zusammenstürzt. Wie eine Sandburg implodiert oder explodieren kann. Und doch weiß ich, dass wir alle Teil eines Ganzen sind, und was immer passiert, es wird unser Leben nicht unberührt lassen. Es trifft uns alle.
Ich schreibe Dir aus Griechenland. Aus dem Griechenland, das es weiterhin geben wird. Ich schaue aufs Meer. Auf das Meer, das immer da sein wird. Solange es die Welt gibt. Und schöpfe Kraft, um weiter zu machen. Schöpfe Kraft, um davon etwas weiter zu geben.

Ich bin neugierig auf Deine Antwort. Auf Deine Sicht der Dinge. Über Deine Hoffnungen und /oder Ängste.
Ich hoffe, dass wir uns auch begegnen werden.
Und noch mehr hoffe ich, dass meine Fragen sinnlos, alle meine Sorgen unbegründet und bald Vergangenheit sein werden.
Deine
Carmen-Francesca

PS
Ich schicke Dir noch ein paar Bilder von hier. Und es beruhigt mich sagen zu können: Das Meer ist das Meer ist das Meer. Das Unendliche. Das unendlich Wechselhafte. Die einzige Konstante in diesem Ozean von Unsicherheiten.

PPS
Ein kleines Video habe ich noch für dich aufgenommen. Über das nie endende Zauber des Meeres. Ich will diesen Zauber in mir aufbewahren, um weiter leben zu können.

Das Video kommt mit der nächsten Post.

 

29. Juni 2016 – Brief in Sofia abgeschickt (Ivanova an Banciu)

Liebe, verehrte Carmen Francesca,
damals, bei meiner ersten Begegnung mit Griechenland, das für mich zugleich Westen und Europa bedeutete, hätte ich auch sehr viel kleinlicher und unpathetischer sein können und den Nachbarn, die so laut und wild gestikulierend redeten, mit arroganter Skepsis begegnen können, doch meine Entscheidung fiel anders aus. Ich fuhr später ja oft nach Griechenland und weiß inzwischen, dass es eine Frage der Wahl ist, was wir sehen wollen, was wir verstehen und was wir den anderen und uns selbst verzeihen wollen. Ich finde, so ist das auch mit Europa: Unmöglich, es zu denken außerhalb ihrer funkelnden Vielfalt von Menschen, Geschichte, Lebensformen und Charakteren, es zu versimpeln zu administrativen Klischees und Zahlen. Es ist eine Frage der Wahl, ob wir den Menschen in seiner Vielfalt und Einzigartikeit in den Mittelpunkt stellen und im glühenden politischen Sommer des Brexit dem Hauch der Renaissance gestatten, unseren Intellekt und unser Gemüt zu erhellen, uns wieder an den symbolischen und normativen Kapitellen der Eckpfeiler Europas zu orientieren und unser Europa wiederzuerbauen.
Morgen oder übermorgen schreibe ich dir wieder darüber, wie lang ich an meinem Kontinent des Geistes und der Worte gearbeitet habe.
Deine Mirela

Den 29.06.16
Sofia

2. Juli 2016 – Brief in Sofia abgeschickt (Ivanova an Banciu)

Liebe, verehrte Carmen Francesca,

dies ist der zweite Brief, in dem ich dir vom utopischen Europa meiner Jugend erzählen will, einem Europa, das untrennbarer Teil von mir war, in Worten aufzitterte und mich, die Zersplitterte, wieder zu einer Einheit fügte, verschwiegener Kontinent meines Geistes, dicht besiedelt von Sehnsüchten, Poesie und Fantasie. Ich bewohnte diesen Kontinent zugleich wachend und schlafend, in Büchern und Träumen, einsam oder in heimlichen Mitteilungen.
Ich war wohl etwas vorschnell mit meinen Metaphern und Bestimmungen, darum halte ich hier inne, hole Atem und sage erst einmal etwas Klärendes über die Zeit des schon gelockerten Kommunismus, in der ich aufwuchs. Die Ideologie ragte zwar noch unerschütterlich wie ein Fels in der Lebenssphäre eines jeden von uns auf, in der öffentlichen ebenso wie in der privaten, aber im Inneren muss es schon Risse und Abplatzungen gegeben haben, auch wenn sie außen noch unsichtbar waren. Auch ich war ein Kind dieser seltsamen und trüben, alles einebnenden, uniformierenden, verstaubten Zeit, war Pionierin mit dem roten Halstuch, Mitglied des Komsomol und Inhaberin des roten Mitgliedsheftchens…
Es ist keineswegs überflüssig, gerade jetzt wieder über gerade jene Zeit zu sprechen, wo alle hysterisch auf das Referendum der Briten reagieren und massenhaft, wie die Papageien, nur die möglichen Negativfolgen nachplappern, die „schrecklichen Unzulänglichkeiten“ des vereinten Europa. Es ist nicht überflüssig, dass vor allem wir Osteuropäer uns in Erinnerung rufen, wie giftig-erstickend und von Deformationen entstellt das „östliche Lager“ war hinter seiner ideologischen Fassade: ungerecht, ja, grausam in seiner sozialen Gleichmacherei.
Meine Kindheit und Jugend verbanden sich nie, ja, berührten sich nicht einmal mit Europa: wir lebten in einer gemäßigten, auch die Lebenshorizonte eingrenzenden Armut, geduckt unter die niedrige Decke des Gestatteten und des (Un-)Möglichen, und es gab nur einen riesigen und reich bestückten Platz, das war die Bibliothek. Ich las gierig, und alles, was mir in die Finger kam und mal verstand, mal nicht. Eine Furcht erregende, aber auch inspirierende Eklektik, Second-Hand-Erfahrung, war das, die mich wohl immer gezeichnet hat.
Die Gewalt war glitschig und klebrig sogar in der Luft: wie die Lüge, inmitten derer ich aufwuchs. Sie überflog mich urplötzlich und fügte mir Schmerz im direkten Wortsinne zu. Ich war schon Schülerin des Deutschen Gymnasiums in Sofia. Damals gab es drei Sprachgymnasien in der Hauptstadt, die hinter vorgehaltener Hand als „elitär“ bezeichnet wurden: das deutsche, das französische und das englische; als viertes gab es natürlich noch das russische. Die Aufnahmeprüfung für diese Gymnasien war sehr schwer. Nach der Vorbereitungsklasse, die ganz dem Spracherwerb gewidmet war, schlug meine Klassenlehrerin, eine alte, vornehme Dame mit blau gefärbtem Haar, die wir mit „Genossin“ anreden mussten, so absurd dies auch klang, ausgerechnet mich vor, in den Sommerferien an einem Ausbildungslager für Komsomol-Aktivisten teilzunehmen. Sie mochte mich wohl mehr als die übrigen, hatte Gefallen gefunden an meinem wachen Verstand, meiner raschen Auffassungsgabe, meiner Andersartigkeit und Freiheitsliebe… Heute denke ich, sie hat mich als Gleichgesinnte im Nichteinverständnis mit den Absurditäten des Systems betrachtet, und das ironische Lächeln in entsprechenden Momenten war das Zeichen unserer Verschwörung.
Diese Genossin Donkova also setzte sich dafür ein, dass ich ausgewählt wurde, und so fuhr ich in den Sommerferien zur Gruppenleiterausbildung. Ich erinnere mich an einen stickigen Saal; die Luft würgte wie eine Schlinge. Wir waren seit dem frühen Morgen des ersten Tages darin eingeschlossen und wurden mit ideologischen Phrasen überschüttet wie mit Abwasser. Ich hatte das Gefühl, die ausgesprochenen Lügen würden in der Hitze flüssig und legten sich als klebriger Film auf unsere Haut und zogen in uns ein wie eine giftige Creme. Mein Widerwille gegen die Verlogenheit des Ausgesprochenen war so stark, dass ich gegen Abend hohes Fieber bekam und nachts im Flur auf dem Weg zur Toilette ohnmächtig zusammenbrach; dort fand man mich. Ich wollte nur weg, nur fort von diesem Ort, mich retten – so furchtbar erschien mir diese psychologische Vergewaltigung, dieser sich mir aufdrängende Betrug. Am Abend war mein Fieber immer noch nicht gesunken. Offensichtlich war mein Körper mein treuester Verbündeter im Kampf um meine junge Seele. Nachts kam mein Vater, der Arzt war, dann mit dem Krankenwagen und holte mich nach Hause. Einige Tage später bekam ich eine Blinddarmentzündung und wurde eilig operiert. Als dann im Herbst das neue Schuljahr begann, war ich gleichsam kuriert auch von den kommunistischen Klischees und der Verlogenheit und den inszenierten Ritualen der Ideologie. In diesem unglaublich spannungsgeladenen Sommer begann ich auch Gedichte zu schreiben, so sehr dürstete ich danach, mich zu finden abseits des Herdentums der bereitwilligen Unterwerfung und der schillernd-trügerischen Halbwahrheit der Worte und Gesten, kurz: Ich entdeckte die Poesie. Die wahre, große Poesie – und lief von der Schule fort, um zum Lesen in die Bibliothek zu gehen.
So begann Europa, mich zu besiedeln – durch die deutschen Expressionisten und die französischen Symbolisten packte es mich und machte mich zu seinem inbrünstigen Untertan. Denn im Alter von 15 Jahren entdeckte ich mit weit aufgerissenen und vor Aufgewühltheit feuchten Augen die unermesslichen Weiten der Freiheit, war gefesselt von der Möglichkeit der Flucht in die Worte, war bereit, mich von ihnen, glühenden Kohlen, verbrennen zu lassen, mich von ihrer stürmischen Kraft entwurzeln und forttragen zu lassen, fort aus der Mittelmäßigkeit der alltäglichen Existenz. Später, auf der Universität und nach meinem Abschluss, ließ meine Leidenschaft für den deutschen Expressionismus und den französischen Symbolismus keineswegs nach; ganze Tage verbrachte ich in der Bibliothek, blätterte nun auch in Bildbänden mit Reproduktionen, las Biografien von Dichtern und Künstlern, verglich Übersetzungen, nicht nur aus unterschiedlichen Jahren, sondern auch aus verschiedenen Epochen und stellte mir eine Karte der Sehnsuchtsorte zusammen mit Städten, Galerien, Museen, Kathedralen und Büchern.
Oh Gott, klingt das nicht heute, in der von allen Seiten auf uns einprasselnden Informationsflut, geradezu unglaubwürdig? Unvorstellbar? Jetzt liegt alles nur noch einen Mausklick entfernt, aber damals, in der von Verboten abgeriegelten Welt war es ein Ereignis, einen Blick werfen zu können auf eine Aktzeichnung von Egon Schiele oder eine Landschaft von August Macke – ein Ereignis, das mich tagelang aufwühlen, beunruhigen, in Nachdenken stürzen konnte. Heute ist das Leben gekennzeichnet von virtueller Zugänglichkeit und Leichtigkeit; doch so fehlt ihm diese leidenschaftliche, schicksalhafte Hingabe, mit der wir es erkundeten, uns unsere Vorstellungen bildeten und ihm Sinn gaben in dieser Zeit der Abriegelung. Wir, die an unserer Unruhe erkennbare, auf andere Horizonte schauende unsichtbare Gemeinde denkender, nicht-einverstandener Menschen, wir bauten und vervollständigten in unseren Gesprächen und Träumen die Utopie von Werten, die wir mit jenem Europa gleichsetzten, dessen Möglichkeit wir erhofften.
Ich erinnere mich auch an einen Fall, einen sehr bezeichnenden sogar, aus meiner Studentenzeit: In den Stunden über Sowjetliteratur waren vom ganzen Studienjahrgang nur mein Kommilitone Alexander und ich anwesend, ein wacher, neugieriger Mann, der zwar auch las, aber vor allem ein besessener Cineast war. Er wusste über Filme aus Europa, die er nie gesehen hatte, mehr als jeder andere, und konnte sie Szene für Szene getreu nacherzählen. In den Stunden über Sowjetliteratur nun wurde er nicht müde, die Dozentin über den Film „Doktor Schiwago“ auszufragen – damals war es verboten, über den gleichnamigen Roman von Boris Pasternak zu sprechen, ja, sogar über Pasternak selbst –, doch Alexander wollte, dass ihm in allen Einzelheiten eben über den Film erzählt wurde … Das mag sich heute maniakalisch anhören, vielleicht sogar lächerlich, aber das war es nicht.
Europa mit seinen geistigen Werten vermittelte uns Stützpunkte, an denen wir uns aufrecht halten konnten, damit uns der Mut nicht sank und wir nicht aufhörten, uns dem Zynismus und der Dämlichkeit des sog. „entwickelten Sozialismus“ zu widersetzen, der ideologischen Blindheit und der schizoiden Atmosphäre, die uns erstickte. Europa, das war Streben nach dem uns genommenen, dem seines Wesens beraubten hohen Platz, war der Phantomschmerz in unseren Seelen.
Ich war in Berlin, als die Mauer fiel. Ich erinnere mich noch an die Euphorie, mit der die bis dahin verbotene Welt gestürmt wurde, an den Jubel und die Tränen der Menschen, das Leuchten auf ihren Gesichtern, wie sie sich massenhaft in den Armen lagen und über ihnen die Freiheit blinkte wie ein Heiligenschein.
Ein Jahre später war ich wieder in Berlin, als die Bruchstücke der Mauer schon wie hässliche Wunden im Herzen der Stadt aufragten, als der Ausverkauf der Bruchstücke Un-Freiheit auf dem Markt nahe dem Brandenburger Tor begann. Darin drückte sich das ungesunde Verlangen aus, sich ein Stück Erinnerung zu kaufen, ein Souvenir an die Ideologie von Zwang und Gewalt. Ich blieb fast drei Monate und durchquerte die geteilte, zerstückelte Stadt, beobachtete ihr seltsames und leidenschaftliches, aus grotesken Widersprüchen bestehendes Leben, fuhr weiter nach Heidelberg, Amsterdam und Paris, kehrte wieder zurück und … kurierte mich so von der Utopie Europa.
Befreit von allen Extremen meiner Jugend, blieb ich zurück im konkreten Rhythmus des Existierens, im Puls eines Alltags, in dem es alles gibt und dies Alles – von der brodelnden Kultur bis zum Konsumwahn – von den Menschen verwandelt wird in Zeichen und Sinn.
Liebe, verehrte Carmen Francesca,
vom Fall der Berliner Mauer bis heute ist so viel Zeit vergangen, oder auch so wenig, wer weiß. Nun bedeutet Europa mehr als geistige Freiheit und Aufstellen von Werten, jetzt sprechen wir darüber und erleben es durch alle möglichen und unmöglichen administrativen Jargons, Ängste, Grenzen, die Wunden gleichen, die nicht verheilen wollen, und durch Mauern in uns, die nicht fallen wollen. Doch wir können nicht aufhören, es zu besingen oder zu kritisieren, es zu ersehen oder zu verlassen. Europa heißt, zu verstehen, was Weite heißt, es an dein Herz zu drücken und ihm dort Platz zu schaffen.
Das werden wir sicher in unseren nächsten Briefen tun, hofft
mit Grüßen aus Sofia
deine Mirela Iv.

den 2.07.2016

16. September 2016 – Brief in Sofia abgeschickt (Ivanova an Banciu)

Hochgeschätzte, liebe Carmen-Francesca,
den ganzen glühenden Sommer lang machte mir mein rechtes Auge zu schaffen; es schien zu rebellieren, sich zu weigern, die Welt zu sehen, entzündete sich, schwoll zu, füllte sich mit Blut. Darum habe ich dir auch so lange nicht geschrieben.
Es war wirklich ein seltsamer Sommer, in dem ich wegen der Unmöglichkeit zu schreiben, ja, sogar zu lesen, Gott weiß was nicht alles überdachte und mir ins Gedächtnis rief. Ich fuhr zwei Mal an die bulgarische Schwarzmeerküste, in die kleinen Städtchen im Süden mit ihrer unverwechselbaren, so ganz anderen Atmosphäre.
Pomorie ist auch der Ort, an dem der tragischste bulgarische Dichter, Pejo Javorov, der im Jahre 1914 Selbstmord beging, annähernd ein Jahr gelebt hat, Anfang des 20. Jahrhunderts und zugleich in der Endlosigkeit der Zeit und der Naturgewalt des Meeres. Daher ist jede Reise nach Pomorie für mich ein mystisches Erlebnis. Ich sitze stundenlang auf den Felsen, auf denen auch Javorov einst in seiner Einsamkeit saß, ausgestoßen und den Einheimischen fremd, die ihn „der Schatten“ nannten. Ich gehe über die Uferpromenade, über die auch er gegangen ist; jetzt hat man auf ihr riesige Felsbrocken aufgereiht, in die Verse von ihm eingemeißelt wurden. Und das kam mir dabei in den Sinn: Ist nicht der Dichter immer ein Flüchtling, ein Verbannter, selbst in seiner eigenen Heimat, ja, sogar seiner eigenen Welt? Gespürt habe ich das immer, ich habe es mit dem Bewusstsein und sogar der Haut erfasst und es als Metapher verwendet; jetzt aber weiß ich es – klar, entschlossen und ohne tröstliche Illusionen.
Ich vermute, diese meine zugleich inspirierende und unbarmherzige Erkenntnis kommt her von meiner europäischen kulturellen Codierung, über die ich nicht müde werde, nachzudenken: diesen leidenschaftlichen Hang zum Komplizierten, genauer müsste ich sogar sagen: zur komplexen Vielfältigkeit.
In einem Restaurant am Kai angekommen, es ist Spätnachmittag und noch immer heiß, beobachte ich die Menge der Sommerurlauber, eine lärmende, wimmelnde, lebendige, in ihrer Halbnacktheit ungezwungene Lavamasse, die sich voranschiebt und laut palavert über die bevorstehenden, schlichten Vergnügungen. Die Leute gehen an und von Bord der kleinen Cruising-Boote, füllen die Restaurants, von überall ertönt Musik, die Rufe der Kinder erfüllen den Vergnügungspark – und ich erhasche im Halbdunkel etwas Rabelais-haftes, etwas Patriarchales, eine nicht in Worte zu fassende Lebensfreude. Zugleich stelle ich mir vor, wie an der französischen Küste ein durchgedrehter Fahrer mit seinem Eiswagen in eine Party reinfährt, ein Blutbad anrichtet und mit dem Tod die Feierstimmung in Fetzen des Entsetzens reißt.
Soll man das Europa der Widersprüche nennen? Oder Europa des Nichtverstehens der anderen? Oder der gemütsschlichten Toleranz? Haben wir vielleicht unbemerkt die Werte eingetauscht gegen Konsumentenannehmlichkeit und Überangebot, die so attraktiv und glänzend sind, dass die, die sie betreten, ihre zivilisatorischen Grundfesten nicht bemerken, nicht zu ihrem Geist und ihrer Kultur vordringen? Oder die Möglichkeiten gar nicht erst vermuten, die jenseits des scheinbaren Wohlstandes auch eine soziale Ordnung gibt?
Ich hatte das Glück, Europa genau so, in seiner Transzendenz, zu entdecken, vermutlich, weil ich Schriftstellerin bin. Mir war Zeit geschenkt worden, ausgedehnte Stunden, in denen ich nur mir gehörte, mir und den Worten – im Künstlerhaus Edenkoben und im Atelier der Bamberger Villa Concordia, in meinem Zimmer im Literarischen Colloquium am Wannsee in Berlin und im Literaturhaus auf der Fasanenstraße. Es war bemessene, doch grenzenlos verfügbare Zeit, in der ich arbeiten konnte. Das fehlt mir hier zuhause.
Darum träume ich auch davon, mal das eine, das heimische Europa zu durchqueren, mal das andere, das Europa meiner Sehnsucht. Ich teile sie in meinem Inneren, sodass ich mich überall zuhause, an meinem Platz fühlen kann.
In den nächsten Tagen schreibe ich dir noch einmal, liebe und geschätzte Carmen-Francesca. Der Herbst naht, und mein rechtes Auge wird sicher bald ganz ausheilen, nicht nur, damit ich meine Lieblings-Jahreszeit in ihrer ganzen Pracht sehen kann, sondern auch, um Einblick zu nehmen in das äußere Geschehen, in Europas Tagebücher der Unruhe.
Herzlich aus Sofia, deine Mirela
16.09.2016

16. Oktober 2016 – Brief nach Sofia versendet (Banciu an Ivanova)

22. Sept, New York – 16 Oktober, San Francisco

Liebe Mirela,

es ist langer her, dass ich Dir das letzte Mal geschrieben habe. Der Rhythmus meiner Tage hat sich unerwartet beschleunig. Ich glaubte, Dir schnell antworten zu können auf Deine so ausführlichen Briefe. Und dann überrumpelten mich die Aufgaben. Existentielle Aufgaben, die sofort erledigt werden mussten. Gesundheitliche Prüfungen. Berufliche Pflichten. Der Alltag und die Vorbereitungen für eine große Lesereise in die US. Die letzten Korrekturen für die Übersetzung „Berlin is my Paris“, die noch erscheinen musste vor der Abreise. Und die Korrekturen für „Filuteks Handbuch der Fragen“ ein altes Buch im  neuen Gewand mit Anmerkungen. Ein Buch geschrieben noch in der Zeit, als Europa ein unerreichbarer Traum schien. Noch aus der Zeit, als ich in Rumänien lebte, und in Deutschland übersetzt werden musste.

Ich wollte Dir vor der Abreise schreiben, denn es sind so viele Nachrichten über uns hereingebrochen. Dann hat es doch nicht geklappt. Eine zweimonate-lange Lesereise nimmt mehr Vorbereitungszeit in Anspruch als gedacht.

Keine Spur von Sommerloch in diesem Jahr. Weder bei mir. Noch in den Berichten der Zeitungen. Die Presse brauchte sich nicht Nachrichten aus den Fingern saugen. Die Fakten waren da. Und sie waren. Sie sind.  Immer noch bedrohlich. Der Brexit ist doch gekommen. Oder vielleicht doch nicht. Wer weiß das schon. Denn die Britten wollen sich viel Zeit nehmen. Und ob sie am Ende nicht doch bleiben werden? Wird sich zeigen.

Überraschungen in der Politik sind keine Neuigkeit.

Ich schreibe Dir aus NYC, wohin ich immer wieder ankomme. Und woher ich immer wieder weg gehe. Bis ich die Stadt endgültig verlassen werde, um weiter nach Cleveland, und dann auf die Westküste zu fliegen.

Auch dort werde ich weiter amerikanischen Studenten aus meinen Büchern lesen und über Europa erzählen. Über Berlin und Rumänien. Über Kommunismus, Revolution und die ideologische Kluft, die droht zu entstehen,  wenn ein politisches System wegfällt und das andere, das scheinbar erfolgreiche, seine Mitte verliert. Und darüber, dass Menschen Ideologien vermissen. Und sie mit Religion kompensieren wollen. Und Religionen meistens genau so intolerant, einengend, bedrohlich oder gar kriminell sein können wie fundamentalistische Ideologien.

Billie Lawless  – The Politician  

Die Studenten sind sehr gut vorbereitet und überschütten mich mit Fragen.

Sie sind gierig zu wissen Sie wollen von mir hören über Revolution, Befreiung, Wiedergeburt in einer anderen Sprache. In einem anderen Land. Über integriert  oder ausgesperrt sein. Angenommen oder isoliert, ghettoisiertsein im neuen Land.  Sie wollen hören, wie Europa mit sozialer Ausgrenzung umgeht. Und ob es Ausgrenzung basierend auf Rasse , auf Hautfarbe in Europa gibt.

Wir reden über ihre Ängste und die Last das Leben mit Schulden anzufangen, weil man studiert hat. Über das Recht auf Bildung und angemessenes und bezahlbares Wohnen, die große Herausforderung eine Familie zu gründen, Kinder zu großzuziehen. Und sie fragen sich, wie ihre Eltern das schaffen konnten.

Wir sprechen über ihre Sorgen und Hoffnungen. Über das Recht auf angemessene Arbeit und das Recht auf Urlaub. Über europäische und amerikanische Lebensart. Über amerikanische und europäische Werte. Über soziale Gerechtigkeit. Über eine humanere Gesellschaft. Über Ausbeutung von Mensch und Natur.

Und ich erzähle ihnen über die Werte, die mir wichtig waren und ich in einer Diktatur vermisste. Über die Hoffnungen, die wir im Osten vor der Wende mit dem freien Europa verknüpft haben. Und die Du in Deinem Brief so treffend beschrieben hast. Ich lese ihnen aus meinem Buch „Berlin ist mein Paris“. Und versuche Ihnen ein Bild über unser Leben hinter dem Eisernen Vorhang  zu vermitteln.

Über das berauschende Gefühl der Freiheit nach dem Fall der Mauer.

Über den Mut, zu bleiben im eigenen Land.

Über den Mut wegzugehen in die Welt.  In meinem Fall nach Deutschland.

Über Krisen und Zusammenbrüche während der Ankunft und der Anpassung.

Über das Sich-wiederfinden. Sich neu gebären. Das Leben neu anzufangen in einer neuen Gesellschaft. In einer sich erneuernden Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die sich selbst neu definieren muss. In einem zusammenwachsendem Land.  In einer zusammenwachsenden Stadt. In einer neuen Sprache.

Über die Ankunft in ein Leben, das von uns die Verantwortung und den Mut verlangt, es mitzugestalten unter den neuen Umständen. Und aus dem neuen Land eine Heimat zu machen. Sich einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Teil davon zu werden.

Ich spüre ihre Ängste und ihre Hoffnungen. Manche wollen hoer bleiben, Manche wollen gehen. Manche wollen nach Europa. Manche waren schon dort und vieles erscheint ihnen humaner zu sein. Erstrebenswerter. Und die bevorstehende Wahlen sind nicht weniger daran Schuld.

Es ist eine wichtige Zeit hier, voller Spannung und Sorgen. Eine Zeit, die in jeder Hinsicht Amerika verändern wird. Nicht nur Amerika. Die ganze Welt. Die ganze Welt zittert. Und fragt sich: Wie ist es so weit gekommen.  Und man versucht inzwischen von allen Seiten, in letzter Minute, die Dinge zu beeinflussen. Die Katastrophe abzuwenden. Den über alles und jeden trampelnden Trump zu stoppen.

Der Wahlkampf hat die Gesellschaft hier polarisiert. Die Luft knistert, wenn über die Wahlen gesprochen wird. Die Wahlkampagne hat ein noch nie zuvor bekanntes Schmutzniveau erreicht. Die Gesellschaft  ist schockiert und doch macht sie mit. Und will, dass Blut fließt. Oder mindestens Federn gelassen werden. Und lässt die Politiker in der Arena sich gegenseitig die Augen ausstehen. Die Federn ausrupfen.

Ich schaue mir die Debatten im Fernsehen an. Und blicke zurück auf Europa und wünsche mir, möge es bei uns nie so weit kommen, dass Politik und Spektakel so nah beieinander liegen. Das Spektakel und unfaire Konfrontation Kompetenz und würdevolles  Verhalten überschatten und unser Leben bestimmen können. Unser Leben und die Zukunft unserer Kinder.

Ich schaue mir die Debatten an. Und plötzlich ist Europa so weit gerückt. Nicht nur geographisch. Es ist weit, weil es hier kaum vorkommt in den Nachrichten. Weil auf dem ersten Blick man glauben mag, die Welt geht weiter auch ohne Europa.

Bald sind es dreißig Jahre seit den Revolutionen in Europa. Seit den Revolutionen die Europa verändert haben.

Die die Welt verändert haben.

Die Hoffnung auf Erneuerung versprochen haben.

Bald sind es dreißig Jahre  seit den Revolutionen in Europa.

Wird Amerika seine eigene Revolution haben. Und wie wird sie aussehen.

In Cleveland im Rock and Roll Hall of Fame Museum  kann man vieles erahnen. Es ist eine Lektion in Geschichte. Eine Lektion über die Zukunft. Hier kann man vieles über Revolutionen verstehen. Über das unaufhaltsame Bedürfnis nach freier Entfaltung und Ausdruck. Über das Bestreben nach Freiheit. Über die Wut und den Groll,  der in Kunst transformiert werden kann.

Über die revolutionäre Macht der Musik. Und der Worte.

Bald sind es dreißig Jahre seit den Revolutionen in Europa. Seit den Revolutionen, die Europa vereint haben. Für einen Augenblick der Geschichte?

Für einen Augenblick der Geschichte, Europa zu einem Ort des Friedens gemacht haben.

Was wird aus Europa werden. Und wie wird es sein Versprechen einhalten. Die Herausforderungen sind immens. Der Flüchtlingsstrom stellt unser Kontinent und besonders die EU auf eine harte Prüfung.  Und ich halte die Daumen, dass Europa die Prüfung besteht.

Aber Europa sind wir. Wir alle, die an Europa glauben.

Gibt es eine Europäische Identität? Die Studenten hier wollen auch darüber wissen. Und darüber möchte ich im nächsten Brief schreiben.

Ganz herzlich

Deine

Carmen-Francesca