Irena Brežná – Anna Schor-Tschudnowskaja
2. Mai 2016 – Brief nach Basel versendet (Schor-Tschudnowskaja an Brežná)
Wien, den 2. Mai 2016
Meine liebe Irenotschka!
Im Frühling, wenn die Natur erwacht, voller Kraft und Selbstvertrauen, wenn sogar die Luft wie verjüngt erscheint, will man gerne glauben, dass alles auf der Welt richtig und sicher ist. Doch vor zwei Jahren wurde einem ausgerechnet im Frühling angst und bange. Auf den Maidan in Kiew, wo Scharfschützen mehrere Dutzend unbewaffneter Männer und Frauen getötet hatten, folgte die Annexion der Krim. Mut wurde mit Niedertracht vergolten. Ich verfolgte den Maidan, sah zu, wie sie sich mit bloßen Händen gegen Maschinengewehre stellten – und siegten. Und während sie noch ihre Toten begruben, schnitt sich der bis an die Zähne bewaffnete Nachbar, der sich von Finnland bis nach Japan erstreckt, grinsend und sich im Eifer der Selbstverliebtheit die Hände reibend, ein Stück ukrainischen Staatsgebietes ab – bemäntelt von einer ohrenbetäubenden, unverfrorenen Lüge. Wissenschaftler und Journalisten wählten für diese Lüge den sonderbaren Begriff „Informationskrieg“. Auf diesen folgte der „hybride Krieg“ im Osten der Ukraine. Beide Kriege dauern bis heute an, täglich hören wir von neuen Opfern. Haben wir etwas gelernt in diesen zwei Jahren? Schwer zu sagen. Erinnerst Du Dich noch an unser Buch zum Tschetschenienkrieg, Irenotschka, das ich vor zehn Jahren mit Martin Malek herausgegeben habe: Europa im Tschetschenienkrieg. Zwischen politischer Ohnmacht und Gleichgültigkeit? Mir ist bis heute nicht klar, was angesichts von „Informations-“ und „Hybridkriegen“ überwiegt – Gleichgültigkeit oder Ohnmacht. Oder ist das am Ende ein und dasselbe?
Nadeschda Mandelstam, die Witwe des Dichters Ossip Mandelstam, hat einmal geschrieben: „Einsamkeit bedeutet nicht, daß Freunde und Bekannte fehlen würden – davon gibt es immer jede Menge –, sondern das Leben in einer Gesellschaft, die keine Warnungen hört und mit geschlossenen Augen weiter den Weg des Brudermordes geht, alle und jeden mit sich ziehend.“1 Diese Worte waren auf die UdSSR der Stalinzeit gemünzt, aber sie weisen, so denke ich, darüber hinaus und haben bis heute von ihrer bestechenden Wahrheit nichts verloren. Meine Ängste betreffen exakt diese Form der Einsamkeit.
Mag sein, dass ich meine besondere Sensibilität für diese warnenden Stimmen meiner Herkunft verdanke. Nicht von ungefähr ist mir Dein Buch Die beste aller Welten, diese unschätzbare künstlerische Erkundung einer von einer Scheinwelt vereinnahmten, von ideologischem Nebel durchtränkten kindlichen Seele, so lieb und teuer. Es ist mir nicht zuletzt deshalb so wertvoll, weil ich mich in der Hauptfigur selbst erkannt habe. Ich irre doch nicht in der Annahme, dass wir eine vergleichbare Herkunft teilen? Dass weit hinter uns eine längst vergangene, doch vergleichbare Erfahrung liegt? Ein vergleichbares Fundament? Und dieses Fundament wirkte so stabil, nicht wahr?
Mein Leben gründet auf einer Kindheit in der Sowjetunion. In einer Welt, von der alle denken sollten, sie sei für die Ewigkeit gemacht. Nein, so sollte man nicht nur denken, so dachten tatsächlich alle, denn sogar diejenigen, die sie bekämpften und die Zerstörung des Monstrums herbeisehnten, spürten zu ihrer Verzweiflung, dass es ewig leben würde. Diese sonderbare Welt des leuchtenden Menschheitstraums und des massiven Staatsterrors hielt sich für die Krönung der Geschichte, für endgültig und damit für unsterblich. Zukunftsangst kannte man nicht. Was für eine Freude! In dieser Atmosphäre verlief meine Kindheit, wir wuchsen auf mit der Überzeugung, allzeit festen Boden unter den Füßen zu haben. Selbst während der Perestroika wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass die UdSSR sterblich sein könnte. Und der Erfahrung der Unerschütterlichkeit des Daseins und der nostalgischen Rückbesinnung darauf konnten seltsamerweise weder der Fall der Berliner Mauer, noch die rapide fortschreitende Auflösung des Sowjetregimes, ja nicht einmal der Zerfall der Sowjetunion etwas anhaben.
Wir haben nun bald drei postsowjetische Jahrzehnte der bitteren „Entzauberung“ dieser sowjetischen Stabilitätsillusion hinter uns. Und immer noch wissen wir kaum etwas über diese Entzauberung. Wie lebt es sich nach der Illusion von Stabilität und Langlebigkeit? Nach dem Traum, die zwischenmenschlichen Beziehungen und das soziale und politische Leben um alle Misstöne und alle Unmenschlichkeiten zu bereinigen, der in Massenterror umgeschlagen ist und Millionen Menschen das Leben gekostet hat? Nach dem geplatzten Traum von der Errichtung einer neuen, nie dagewesenen, „grundgerechten“ Gesellschaft mit einer „grundsoliden“ Zukunft, gemacht für die Ewigkeit? Das kindliche Gefühl der unbedingten Stabilität eines sinnreichen Lebens ist nicht nur im individuellen Gedächtnis verankert, sondern auch im kollektiven. Als ich im Januar dieses Jahres eine Petersburger Studentin, die in der nachsowjetischen Zeit geboren ist, fragte, was die Sowjetunion für sie wäre, antwortete sie nach kurzem Nachdenken: „Etwas ungeheuer Stabiles, das zerbrochen ist.“ Der unübersehbare Widerspruch in ihrer Antwort störte sie dabei nicht im Geringsten. Im Gespräch mit jüngeren Menschen kann ich oft einen gewissen Neid heraushören. Denn die russische Gesellschaft hat immer noch kein Ziel, keine Vision, keine klar formulierte Langzeitperspektive – weder im Privaten, Zivilen, noch auf staatlicher Ebene. Ihr fehlt die berückende Zukunftsvision, die sinnstiftend für die Gegenwart wirken könnte.
Doch auch in der westlichen Kultur ist dieser Blick in die Zukunft heute mühsam. Anstatt Hoffnungen zu wecken, lösen Zukunftsversprechen eher Argwohn als Vorfreude aus. Das 20. Jahrhundert hat zu beiden Seiten der Berliner Mauer den Glauben an eine „lichte Zukunft“ schwer erschüttert. Und wenn ich in Österreich oder Deutschland, in England oder Frankreich die vielen begeisterten Anhänger des Putin-Regimes sehe, wird mir klar, dass diese schmerzliche Glaubenserschütterung nicht nur ein russisches oder osteuropäisches Problem ist, sondern zumindest ein gesamteuropäisches. Deshalb ist der ukrainische Maidan für Europa so eminent wichtig – er hat in aller Deutlichkeit offenbart, wie klein sein Glaube an sich selbst und die eigene Zukunft geworden ist. Eben diesen Schwachpunkt des modernen Europas, und vielleicht seinen gravierendsten, macht sich Putin so erfolgreich zunutze, indem er mit seinem „Informationskrieg“ das Primat des Faktischen und der Bedeutung zu untergraben sucht.
Wie der britische Journalist Peter Pomerantsev in seinem Buch Nichts ist wahr und alles ist möglich erklärt, hat sich die russische Gesellschaft in den letzten Jahren zu einer „fragilen Realityshow“ gewandelt, in der Worte und Taten nur Verwirrung stiften und jeden Realitätsbezug verloren haben. Pomerantsev vertieft sich zwar nicht in die Geschichte der Sowjetunion, aber es scheint durchaus plausibel, dass die komplette Beseitigung der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge die Traditionslinie des sowjetischen Terrors fortschreibt. Da fällt mir ein, wie der Lyriker Naum Korshawin von einem deutschen Kommunisten erzählte, der sowohl bei den Nazis als auch bei den Sowjets im Gefängnis sitzen musste. Korshawin wiederholte, was der Deutsche gesagt hatte, und diese Worte prägten sich mir tief ein. Wenn sie schlugen, sagte er, schlugen sie hier wie dort, ohne Unterschied. „Aber bei der Gestapo schlugen sie mich, damit ich die Wahrheit sagte, und beim NKWD, damit ich log.“ Korshawin ergänzte: „Diese Pathologie war unser Leben. […] Den Menschen wurde jahrzehntelang eingeredet, sie wüssten, was sie nicht wussten und sie dächten, was sie nicht dachten.“ Da ließe sich noch anfügen: Die sowjetische Geheimpolizei redete den Menschen jahrzehntelang ein, getan zu haben, was nicht der Fall war, und die Menschen gingen für das, was sie nicht getan hatten, ins Lager oder wurden erschossen.
Du wirst mir zustimmen, dass diese Haltung zur Wirklichkeit, die über Jahrzehnte hinweg gepflegt wurde und auf der der sowjetische Staatsterror basierte, nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen konnte. Aber welche Spur hinterlässt eine derartig enthemmte Lügenorgie? Was, wenn die Menschen mit der Zeit gar nicht mehr nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge fragen? Was, wenn schon die Frage diskreditiert wird, weil eine Weltsicht, in der es per definitionem weder Wahrheit noch Lüge gibt, so praktisch ist? Das Putinregime manipuliert sämtliche Wahrheiten und Lügen, entstellt sie bis zur Unkenntlichkeit und führt so beide ad absurdum. Der gewohnheitsmäßige Lügner lügt ja, weil er weiß, wie es in Wirklichkeit ist. Und die Lügner, die die Wirklichkeit nur auslachen? Die mit enigmatischem Lächeln jede Moral und jeden Sinn verstümmeln, verdrehen und nach Gutdünken ersetzen und dabei auch die Bedeutung von Wörtern und Begriffen zerstören, die Sprache selbst als Grundlage menschlicher Kultur? Wie kann es sein, dass diese Absurdität Millionen Europäern so attraktiv erscheint?
Der sowjetische Traum von der „Gesellschaft für die Ewigkeit“ ist gescheitert. Vielleicht ist ja das Putins Absurdistan nur die zerstörerische Rache der Putins (von denen es so viele gibt!) für den geplatzten Traum von der Erschaffung der grundsoliden Gesellschaft und ihres Staates? Oder vielleicht nicht nur die Rache, sondern gleichzeitig der Versuch, das illusorische stabile Weltbild mit allen Mitteln wieder ins Werk zu setzen? Ja, genau so: die stabile Illusion wiederbeleben durch die Abschaffung von Wahrheit und Lüge. Aber was soll dieser Stabilität zu Grunde liegen?
In einer modernen Welt ohne Autoritäten und Klassiker, ohne verbindliche Geschmacks- und Qualitätsstandards, in einer Welt, in der alle Kunstrichtungen krampfhaft nach einer neuen Sprache suchen und wo alles, flexibel und subjektiv, immer eine Frage der Perspektive ist – in einer solchen Welt findet man schwerlich Halt. So feiern zahllose Menschen in Russland und darüber hinaus den Triumph von Putins Absurdistan, in dem sie keine raffinierte Form von Gewalt und Terror erkennen wollen, sondern eine neue Ordnung. Diese Ordnung erscheint ihnen deutlich attraktiver als die langweilige, mühselige und hoffnungslos veraltete Freiheit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden und für beide, Wahrheit wie Lüge, die Verantwortung zu übernehmen. In Regimen wie dem Putins ist diese Verantwortung nicht vorgesehen, dort regiert die eigenartige Freiheit, sich vor niemanden für nichts rechtfertigen zu müssen, die Freiheit für Rechtlosigkeit und nackte Gewalt sowie Chaos und Manipulation, die sich nicht mit der Beachtung von Begriffsinhalten oder Gesetzen der Logik aufhalten. Stell Dir nur vor – genau so eine Ordnung prophezeit der oben erwähnte Peter Pomerantsev auch Europa!
Für Pomerantsev hat das Putinregime den „Informationskrieg“ bereits gewonnen. Ich möchte jetzt noch keine endgültigen Schlüsse ziehen. Lieber erinnere ich daran, dass diese politische Ordnung ihren Ursprung im kriminellen Milieu der sowjetischen Straflager hat. Völlige Rechtlosigkeit und der Triumph willkürlicher, nackter Gewalt, die sich über alle Gesetze und Vereinbarungen stellte, kannten bereits die Sowjetbürger, die sie mit dem unübersetzbaren Jargonausdruck bespredél bezeichneten. Allerdings konnte damals niemand ahnen, dass sich die Gepflogenheiten der sowjetischen Straf- und Arbeitslager dereinst in Russland und darüber hinaus derartiger Beliebtheit erfreuen würden!
Der Zustand des bespredél ist ein Ausdruck tiefster Verachtung für die Welt, ein zerstörerischer Zustand, der dem Kreativen, dem Schöpferischen, diametral entgegensteht. Kompensieren wir vielleicht mit dieser zerstörerischen Verachtung den Verlust unserer Träume und Hoffnungen? Mir ist schon klar, weshalb das kriminell grundierte Putinregime so viel Energie darauf verwendet, den europäischen Rechtsstaat zu ruinieren. Doch weshalb eilt dieser ihm auch noch selbst so beflissen zu Hilfe, um die eigenen Grundfesten zu unterminieren, weshalb verstümmelt er die eigenen Prinzipien? Hat die moderne europäische Kultur der zerstörerischen Kraft der Verachtung wirklich nichts entgegenzusetzen? Das scheint mir eine der entscheidenden Fragen zu sein. Alle Aufregung der vergangenen Jahre geht mit der Suche nach entsprechenden Antworten einher.
Im Frühling, wenn die Natur erwacht, hält nicht nur die Freude über den selbstbewussten Auftritt des Lebens Einzug. Mit dem Frühling kommt auch die wunderbare, andächtige Einsicht in die Zerbrechlichkeit. Im Unterschied zu Peter Pomerantsev sieht die Lyrikerin Olga Sedakowa gerade in der Erkenntnis der Fragilität den Nährboden für die Entwicklung einer neuen Zukunftskultur, einer Kultur im weitesten Sinne dieses Wortes. Sie geht davon aus, dass die allgegenwärtige Zerbrechlichkeit der Welt noch nie so deutlich spürbar und damit auch die Verbundenheit aller Dinge noch nie so einleuchtend waren wie heute. Wenn wir uns diese Einsicht bewusst machen, werden wir, davon ist Olga Sedakowa überzeugt, zu neuen Formen solidarischen politischen Handelns finden. Dem möchte ich mich von Herzen anschließen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich seit Langem, dass nichts kostbarer ist als die Gabe, Freude und Licht „aus dem Nichts“ zu gewinnen, aus der kaum wahrnehmbaren Schönheit alter Dächer, dem unscheinbaren Busch am Wegrand, ein freundlicher, zotteliger Hund, den man zufällig auf der Straße trifft… Wer ein Gefühl für die Schönheit und Zerbrechlichkeit des Lebens entwickelt, ist der Welt in Dankbarkeit fest verbunden. Dieses Gefühl mag flüchtig sein, aber sind wir im Grunde nicht ständig auf der Suche nach ihm? Und ist so eine Seelenregung der Dankbarkeit nicht der Quell alles wahrhaftigen Tuns, der Quell des Kreativen, Schöpferischen, im Kleinen wie im Großen? Das ist wohl die einzig mögliche „Stabilität für die Ewigkeit“. Die einzig erstrebenswerte und schutzbedürftige.
Sei umarmt von
Deiner Anna
Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Weiler.
9. Mai 2016 – Brief nach Wien versendet (Brežná an Schor-Tschudnowskaja)
Brief 1 Basel, 9. Mai 2016
Liebe Annočka,
du schreibst von der institutionalisierten Lüge, mit der ich mich gerade ganz konkret befasse.
Vor ein paar Tagen verkündete nämlich am Basler Appellationsgericht der Gerichtspräsident mit undurchdringlicher Miene, die Pappel vor meinen Fenstern, für deren Recht auf Leben ich mich zwei Jahre lang durch verschiedene Instanzen hindurch eingesetzt hatte, müsse gefällt werden, denn der Beweis sei erbracht, dass sie den Menschen bedrohe. In dem Moment dachte ich nicht mehr interkulturell, es überfiel mich nicht der antrainierte Reflex: Ach klar, ich erkenne sie, die Schweiz mit ihrem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis, und wie verblendet war ich gewesen, den hiesigen hohen Wert untergraben zu wollen. Zwar schmerzt die Niederlage, doch sie versetzt mich wenigstens nicht in die altbekannte Ohnmacht, ewige Ausländerin zu sein, die in eine gemütliche Inzucht vordringt und dann per Paragraph da raus verstossen wird.
Am Vorabend war ich vom Literaturfestival in Chiasso zurückgekehrt, wo ich den Sammelband meiner Kriegsreportagen aus Tschetschenien auf Italienisch vorgestellt hatte und danach lauschte ich dem kongolesisch-belgischen Schriftsteller In Koli Jean Bofane wie er in einem vollen Kinosaal so traditionell afrikanisch wie ich es kenne und so utopisch zeitgemäss sagte, wir seien eins, es gebe keine Grenzen, und der 62-jährige behauptete, er könne sich auch in die Innenwelt einer jungen blonden Jacqueline hineinversetzen. Und wenn er Männer gehört habe, die damit geprahlt hätten, Dorfbewohner niedergemetzelt zu haben, habe er vor Absurdität lachen müssen. Ja, er lache jedes mal, wenn er von Gewalt erfahre, und am kühlen 1. Mai führte er uns vor, wie gut er es kann. Seine konsequente Nonchalance euphorisierte mich, und ich nahm sie zum Anlass, meinen Beruf zu wechseln.
Wie leid bin ich es geworden, als professionelle Fremde an Schulen, in Literaturhäusern, in Kirchgemeinden der Schweizer Städtchen und Dörfer aus meinem Emigrationsroman vorzulesen. Keine Fremdin-Folklore mehr. Noch im Kinosaal sitzend verbrannte ich im Geist das interkulturelle Fähigkeitszeugnis, das ich mir selbst ausgestellt hatte. Es hat mich Jahrzehnte lang dazu befähigt im wohligen Schwebezustand zwischen Kulturen zu navigieren, Mentalitätsunterschiede aufzuspüren und zu benennen. Wie viel intellektuelle Kraft habe ich dafür verwendet!
Ab sofort verordnete ich mir einen anderen Blick – bei der Rückfahrt aus dem Tessin über den Gotthard beglückte mich die Berglandschaft umso mehr, da ich sie nicht als zu einem Land gehörig, sondern als ein Prachtstück unseres Planeten anschaute. Kaum hatte ich die „Nationaladjektive“ aus meinem Vokabular gestrichen, überwand ich die Forderung meiner Romanheldin nach dem Recht auf Fremdheit. Diese Erfindung war in Wirklichkeit Schutz – definiere ich mich nämlich gleich selbst als fremd, erübrigt es sich, dass die anderen mich dazu abstempeln und so verletzen. Doch wo es keine eingegrenzte Heimat gibt, wohnt auch keine Fremdheit.
Mit derselben Konsequenz betrachtete ich die Gegner im Gerichtssaal. Sie mutmassten mit tragischen Gesichtern, dass unsere Pappel spielende Kinder erschlagen könnte, ja auch Blinde, die sich voller Vertrauen darunter setzten würden. Unbegreiflich verantwortungslos seien jene – Öko-Terroristen sozusagen -, die Bäume über das Leben eines Kindes stellten. Der Gerichtspräsident zuckte bei dem Szenario zusammen. Ob er es als theatralische Geste einsetzte um seinem Urteil, das wir dank den voreingenommenen Fragen von Anfang an kannten, Gewicht zu verleihen oder ob dieser von Berufs wegen misstrauische Geselle sich der Täuschung hingab, er lausche der Verkündung der Wahrheit, nichts als der Wahrheit? 366 Jahre nach Déscartes Tod, der Skepsis forderte: „Nichts für wahr halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann“.
Müssig hinzuzufügen, dass sich weder Kinder noch Blinde unter der Pappel aufhalten, nur Autos parken etwas abseits. Ein halbes Dutzend Amateurschauspieler verfolgte in Schweizer Dialekten redend verbissen ihr Ziel und zog dafür alle Register. Zwar helvetischer Lokalkolorit (du magst staunen, aber in der Deutschschweiz kann auch ein Gerichtsurteil in Dialekt verkündet werden), doch nachvollziehbar als allmenschliches Phänomen.
Zuerst wurde der Feind mit üblen Eigenschaften versehen. Eine Funktionärin von der Stadtgärtnerei hielt eine theorienreiche Rede, in der sie die Säulenpappel an sich als ein unverschämtes Wesen darstellte – deren flache Wurzeln schlängelten sich weit über ihren Lebensraum hinaus und gierten nach Wasser, das durch den Klimawandel ohnehin immer knapper werde. Und diese unberechenbare Wiederholungstäterin neige zum so genannten Grünastabbruch bei völliger Windstille und alt sei sie, bald würde sie degeneriert sein, also lieber gleich fällen, weg damit, samt den Insekten, die daran klebten.
Unsere Nachbarin Silvia, die nie ohne Lupe spaziert, war von der abschätzigen Haltung ihren summenden Lieblingen gegenüber entsetzt. Entomologen beklagen schon lange die geringe Wahrnehmung des dramatischen Insektenartensterbens seitens der Politik. Die kleinen Lästigen haben keine Lobby wie die Pandabären, dabei vollbringen sie Grosses. Der polnische Schriftsteller Slawomir Mrozek liess in seinem Theaterstück Emigranten zwei Einwanderer aus der polnischen Pampa in einem Pariser Kellerloch Katzen- und Hundefutterkonserven verspeisen und sich dabei über die Abwesenheit von Fliegen wundern. Die Dörfler kommen zum Schluss, dass Gott Paris verlassen hat. Mrozek spottete über seine gottesfürchtigen Landsleute, deren Einsicht aus den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts heute geradezu prophetisch anmutet. Eine Insekten verachtende Stadtgrünfunktionärin wirkt jedenfalls veralteter als sie.
Der allgemeine Fällungsfuror war so stark, dass der Experte von der Baumschutzkommission sich einschüchtern liess, im Flüsterton bescheinigte er dem Baum ausgezeichnete Gesundheit, eine Gefahr gehe von ihm nicht aus, er soll erhalten bleiben. Als ich ihm für seinen Mut dankte, murmelte der Ausländer (deutsche Fachleute sind hier eher geduldet als beliebt), er dürfe mit mir nicht reden, schliesslich arbeite er mit diesen Leuten zusammen. Dabei schaute er so gequält, als könnte ihn im kantonalen Baudepartement für das Äussern von nonkonformem Fachwissen etwas Mächtigeres erschlagen als ein Baum.
Die Verhandlung war ein einziger Verrat an helvetischen Tugenden, auf die meine Romanheldin ein Loblied singt: Sachlichkeit, Genauigkeit, Unbestechlichkeit, begründete Kritik, so notwendig für die Demokratie. An meinen hohen Erwartungen an das Gericht merkte ich, dass ich eine verblendete Schweizer Patriotin geworden war. Mein Glaube, in der Schweiz müsse es gerechter zugehen als anderswo, demütigte mich jetzt und half mir zugleich die mitgeschleppte interkulturelle Altlast abzuwerfen.
Der Gerichtspräsident schickte seinem Urteil voraus, laut Gesetz dürfe es nicht die Regel sein, einen schützenswerten Baum zu fällen, sondern es müsse die Ausnahme bleiben, und dafür bedürfe es Beweise. Und statt der Unschuldsvermutung zu folgen, plapperte er die vagen Thesen der Gegenseite nach, die wir als unhaltbar entlarvt hatten – mein jüngerer Juristensohn Kai und ich hatten uns in unzähligen Stunden in Dendrologie und Rechtswissenschaft vertieft. Pappeln gehören nicht in die Stadt, nacheinander lassen wir alle fällen, redete sich die Abgesandte vom Stadtgrün leidenschaftlisch in ihre Vision einer pappelfreien Stadt hinein, als sei Basel samt unserer Hinterhofoase ihre persönliche Länderei.
Doch das Übelste an der Schmierentragikomödie kommt erst. Im letzten Sommer heulten eines Morgens Sägen auf, junge Männer waren angeseilt auf die Pappel hochgeklettert. Ich rief die Polizei, denn ein Rückschnitt war während des laufenden Verfahrens verboten. Doch als die Polizisten kamen, war die Verstümmelung vollbracht. Die kenntnisreiche Funktionärin, immerhin im Besitze eines Doktortitels, hatte es in ihrer Stellungnahme beschwichtigend eine übliche Pflegemassnahme bezeichnet, aber an der Verhandlung drehte sie es routiniert ins Gegenteil um. Der Baum sei nach dem massiven Sicherheitsschnitt nicht mehr schön und daher nicht erhaltenswert. Und der Gerichtspräsident wiederholte ihren Zynismus als triftigen Fällungsgrund. Wurde die Pappel etwa mit voller Absicht arglistig ihrer Schönheit beraubt?
Ob den Blinden – das Grundstück, auf dem die Pappel steht, gehört dem Schweizerischen Blindenverband – die Hässlichkeit besonders ins Auge sticht? Aber nicht nur der Verlust der Schönheit, auch das liebe Geld wurde bemüht. Eine geschundene Pappel zu pflegen, das koste viel, an den wunden Stellen würden Äste wachsen, die leicht abbrächen. Und der Gerichtspräsident stutzte nicht bei dem Widerspruch, dass der so genannte Sicherheitsschnitt noch mehr Unsicherheit verursache.
Mein dendrologischer Zeitvertreib kostet mich übrigens vier tausend Schweizer Franken für Gerichts- und auch Anwaltskosten der Gegenpartei. Als ich davon meiner tschetschenischen Freundin Zainap erzählte, die als verfolgte Menschenrechtlerin in Bern lebt, lachte sie schallend. Sie beglückwünschte mich dazu, dass mein Anliegen von fünf Richtern, zwei Praktikanten und einem Gerichtsschreiber angehört wurde – wie ungeheuer! – und ich solle mich glücklich schätzen, denn ich müsse mich nicht fürchten nachts von Maskierten verprügelt zu werden, weil ich einen Behördenentscheid angefochten hatte.
Sie war überwältigt vom Beweis des Rechtsstaates, während ich das Vertrauen in ihn eingebüsst hatte. In Tschetschenien verschwänden weiterhin Menschen spurlos, und deren Familienangehörige wagten nicht einmal darüber zu sprechen, geschweige denn dagegen vors Gericht zu gehen. Wollen wir Basel mit Putins kaukasischem Hinterhof vergleichen, wo seine pathologische Marionette Ramsan Kadyrow wütet, und froh sein, dass uns die Behörden für das Ausüben unserer Rechte nicht foltern lassen?
Nach dem Urteil brach im Gerichtssaal Freude aus. Obwohl taktile Nähe in dieser Gegend eher unüblich ist, betätschelten sich unsere Gegner gegenseitig mit gelösten Gesichtern, lachten, nur Lachsbrötchen und Sekt haben gefehlt. Sie waren allzu trunken vom Sieg, um sich ein Wort des Bedauerns abzuringen, dass sie immerhin einen ehrwürdigen Baum fällen. Als ich Zainap von der Ausgelassenheit erzählte, wurde sie ernst: „Das ist dieselbe Mentalität, die uns bombardiert hat, bloss hat sie hier nicht so viel Macht. Es gibt aber immer wieder Zeiten, in denen sie die Oberhand gewinnt.“
Sie haben die Säge, ich habe das Wort. Deshalb schreibe ich über meine Erschütterung, auch wenn sie nur eine Pappel betrifft. Ich habe in die Machtfratze geblickt, sah Lüge und Kleinmut. Respektlos ist die fehlende Sorgfalt und Unabhängigkeit des Gerichtes und dreist, diese Farce als Rechtsprechung zu verkaufen.
Wenn es dir nicht als zu gewagt erscheint, vergleiche ich meinen Pappeleinsatz mit dem für die tschetschenischen Kriegsopfer. Damals vor zwanzig Jahren, als ich in den russischen Kolonialkrieg fuhr, wollte ich ihn zusammen mit Zainap beenden. Ich traf sie in den Ruinen wie sie heimlich halbverbrannte Leichen filmte, um Zeugnis abzulegen. Das Morden, das Verstümmeln haben wir nicht aufhalten können, doch etwas gelang uns. Wir fanden überall Mitfühlende, Mitwütende. Du hast damals mein Porträt von Zainap in der „Berliner Zeitung“ gelesen und mich besorgt angerufen. Ich war einer Russin gegenüber skeptisch, zu gut kannte ich viele deiner Landsleute mit deren notorischen Kolonialreflex. Wie beglückt war ich dann in dir eine Gleichgesinnte zu erkennen.
Während der beiden Kriege hatte ich Zainap zu Veranstaltungen nach Westeuropa geholt, sie berichtete von Gräueln, ich dolmetschte sie und schrieb darüber. Menschen, die nichts von Tschetschenien wussten, öffneten ihre Herzen, gründeten Gruppen, spendeten Geld, fuhren in den Nordkaukasus. Und wir begriffen, dass wir nicht nur an der Ostfront, sondern auch an der Westfront kämpfen müssen.
Auch in unserem Hinterhof regte sich vor zwei Jahren Widerstand. Nik, ein Nachbar, der in der ganzen Welt Schweizer Uhren verkauft, sammelte damals über hundert Unterschriften von Anwohnern gegen den Fällentscheid. Wieviel Prozent der Bevölkerung lässt sich für eine Sache mobilisieren? Auf unseren letzten Aufruf zum Mitmachen, den wir in 180 Briefkästen eingeworfen hatten, meldeten sich zwei Nachbarn. Nik ist zerknirscht: „Sie wollen zwar Bäume vor ihren Fenstern haben, aber wenn es darum geht, etwas dafür zu tun, kriechen sie nicht heraus.“ Würde ich die Passivität in Mittelost- oder Osteuropa antreffen, könnte ich es bequem abtun: Ach, diktaturgeschädigt. Wie viele Dissidenten protestierten offen in der Sowjetunion? 30 auf fast 300 Millionen?
Jetzt kommt ein halbes Happy End – eine von zwei todgeweihten Pappeln darf weiterrauschen, denn eine Vorinstanz hatte meiner Einsprache vor einem Jahr zur Hälfte entsprochen. Hätte ich mich nicht aufgebäumt, wäre die Entwurzelung doppelt so gross. Nik und Silvia gehören zum harten Pappelkern, und Kai hat das Plädoyer im geschliffenen Paragraphendeutsch gehalten. Zainap erzählte mir, dass nach der Niederlage, als Grosny ein Trümmerhaufen war, ein tschetschenischer Kämpfer gesagt hätte: „Wir haben gewonnen, denn wir haben gekämpft“. Ist das bloss Trost? Einsatz für eine Sache ist Bewegung, ich will in Bewegung bleiben. Überall in der fragilen Welt finden sich ein paar Mitbewegte und geben mir Zuversicht, auf festem Boden zu stehen – über dem Abgrund.
Obnimaju Irena
21. Juli 2016 – Brief nach Wien versendet (Brežná an Schor-Tschudnowskaja)
Brief 2 Basel, 21. Juli 2016.
Dorogaja Annočka,
im letzten Brief schrieb ich Dir von unserer Hinterhofgruppe, von der ich annahm, sie würde aus Revolutionären bestehen. Das nächste Treffen soll ein „gemütliches Beisammensein“ werden, schrieb Nachbar Nik auf dem Plakatentwurf. Ich strich das Adjektiv, am wenigsten interessiert mich irgendein Geplauder. Die Gruppen, in denen ich tätig war, setzten sich für die Freilassung von politischen Gefangenen ein, marschierten gegen den Krieg, deckten Kriegsverbrechen auf, wussten Bescheid über viele Folterarten, versorgten Flüchtlinge und nebenbei pflegten sie ganz selbstverständlich die Selbstaufgabe.
In den 70-er und 80-er Jahren arbeitete ich als Koordinatorin für Schweizer Gruppen bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die sowjetische Gewissensgefangene adoptiert hatten. Meine erste Reise nach Moskau während der Perestroika führte logischerweise zu den freigelassenen ehemaligen Dissidenten. Die Begegnung mit ihnen beschrieb ich damals so: „Im Stil dieser Gilde folgen sie dem Gebot der äusseren Bescheidenheit und Grauheit. Die Farbskala wird nach innen verlagert, Farben sind Prinzipien, das Erstrebenswerte ist ein Leben in Wahrheit. Dieses Wort klingt nicht pathetisch oder verschwommen im Land der institutionalisierten Lüge.“
Meine Helden begehrten vehement gegen die Lüge auf, ich bewunderte ihre Unerschrockenheit und sehnte mich danach, eine von ihnen zu werden. Die Bedingung dafür war grausam: Nicht an sich selbst denken, stets der Sache dienen. Und ich tat, was ich konnte – schrieb über sie, lud sie zu Veranstaltungen ein, dolmetschte für sie, machte Fundraising, doch dem Gebot der Grauheit folgte ich nicht.
Einmal wohnte ich in Moskau bei einer geachteten russischen Aktivistin, der ich Geld von einer Schweizer Stiftung für ihr Flüchtlingsprojekt gebracht hatte. Draussen war minus 20 Grad, und ich trug einen dünnen taillierten Mantel. Meine Gastgeberin bestand darauf, dass ich ihren alten groben Pelzmantel anziehe, er war wie ein schwerer Sack, und ich lehnte ihr Angebot dankend ab: „Das ist nicht mein Stil“. Ihr Kopfschütteln über den fehlenden praktischen Verstand – „Aber es ist doch kalt, wozu Stil?“ – war bezeichnend für den kleinen Unterschied zwischen uns: Ich war nicht nur Menschenrechtlerin, sondern auch Künstlerin, gab zwar viel von mir her, aber einen Rest behielt ich, wenn auch nur in Form eines mich durch seine Schönheit wärmenden Mantels.
Die tschechische Journalistin Petra Procházková schreibt im Vorwort zur tschechischen Ausgabe meines Reportagensammelbandes aus Tschetschenien ihren Eindruck von mir: „Als ich Irena zum ersten Mal sah, schien es mir, dass sie nicht in dieses aufgeregte Stimmenwirrwarr, ins Kriegschaos, in die Schützengräber, in Staub und Angst gehörte. Das war 1996. Dann habe ich mit Staunen erfahren, dass diese nobel aussehende Frau es schaffte, mit einer Gruppe tschetschenischer Bäuerinnen zu verschmelzen und russische Soldaten zu täuschen. Als Journalistin, dazu noch aus dem Westen, hätte man sie nach einer Säuberung nicht ins tschetschenische Dorf Sernowodsk hereingelassen. Doch sie konnte wie eine Tschetschenin aussehen, die ins Dorf zurückgeht, um ihre Kuh zu melken. Sie überwand die Kontrollposten, kehrte in die Schweiz zurück und beschrieb alles.“
Ich ahnte nicht, dass man mich so sehen könnte. Während Petra auch äusserlich eine Kriegsreporterin abgab – sie trug Hosen und dazu ein Gilet mit vielen Taschen, als würde sie darin Patronen aufbewahren, stolzierten junge Tschetscheninnen in den Ruinen voller Mienen in Stöckelschuhen und in ihren tiefen Decoltés sah man Goldkettchen, bis die russischen Soldaten sie ihnen raubten. Die Frauen wirkten nicht, als würden sie vor Scharfschützen fliehen, sondern als wären sie auf dem Weg in die Oper. Mir imponierte diese Spielart von Würde.
Der Menschenrechtler Andrei Mironow, der mich mehrmals in den Krieg nach Tschetschenien begleitet hatte, sprach von Petra – sie war nicht nur eine ausgezeichnete Kriegsreporterin, sondern leistete auch humanitäre Hilfe – mit Hochachtung, denn sie selbst habe nichts und helfe stets den anderen. Um Andreis Ideal zu entsprechen, genügte es nicht, sich für Kriegsopfer aufzureiben, man musste selbst am Rande des Zusammenbruchs stehen.
Dieser Asket konnte mich am Silvester 2013 um Mitternacht anrufen, ohne mir gutes Neues Jahr zu wünschen, sondern um die Freilassung von Michail Chodorkowski eindringlich zu kommentieren: „On ne disident, er ist kein Dissident. Er war zwar ungerechterweise im Straflager, aber er hat im Leben lediglich Geld angehäuft.“ Und Andrei wiederholte obsessiv „On ne disident“, und machte mich auf ein Interview aufmerksam, in dem Chodorkowski – ganz russischer Nationalist – bedauert, dass er nicht als Soldat dabei war, wenn das russische Reich das nach Unabhängigkeit strebende Tschetschenien zurückholte, denn das Wichtigste sei, folgerte Chodorkowski, dass Russlands nicht schrumpfe. Andrei beschwor mich, die Begeisterung im Westen für Putins persönlichen Ex-Gefangenen ins rechte Licht zu rücken.
Wie oft mobilisierte ich mich, wenn Andrei nicht locker liess, aufsässig wie er war, aber nie verlangte er etwas für sich selbst. Er sah seine Aufgabe darin, uns, den ausländischen Journalisten, zu Geschichten der staatlichen Willkür zu führen, damit wir sie in die Welt hinaustrugen. Ich hatte inzwischen viele entsetzliche Kriegsschicksale kennengelernt und wollte nichts mehr davon hören, aber wenn Andrei mich zu Folteropfern schleppte, ging ich natürlich hin und berichtete darüber. Er war im ersten russisch-tschetschenischen Krieg Mitglied der Menschenrechtsgruppe von Sergei Kowaljow, spezialisierte sich auf verbotene Waffensysteme, die Russland im Nordkaukasus einsetzte. Aus dem zerbombten Dorf Samaschki schmuggelte er eine Vakuumbombe und legte sie an den Moskauer Konferenztisch, als die russischen Militärs behaupteten, so etwas würden sie nicht abwerfen.
Bevor Andrei in den Krieg in die Ostukraine fuhr, bat er mich, dem italienischen Fotografen Andrea Rocchelli Kontakte zu deutschsprachigen Medien zu vermitteln. Andrei wusste, dass er sich auf mich verlassen konnte, und ich war stolz darauf, zu seinem Freundeskreis von Ausserwählten zu gehören. Wenn er anrief, war es po delu, geschäftlich. Nie hätte ich gewagt, mir die Auszeichnung durch meine Verweigerung zu verspielen. Und das absolut Traurige ist: Andrei gibt es nicht mehr. Eine Mörserrakete hat ihm den Kopf abgerissen.
Beide Andreis wurden am 24. Mai 2014 in Andrejewka, in einem Vorort von Slawjansk getötet, am Vorabend der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Ich nehme es Andrei irgendwie übel, dass er den 30-jährigen Italiener in seinen Kampf hineinzog. Andrei war in Krisengebieten erfahren, auch ich fragte ihn damals in Tschetschenien, ob ich mit den Bäuerinnen in ihr zerbombtes Dorf mitgehen solle, denn ich hatte immerhin zwei Kinder zu Hause zurückgelassen. Sein klares „Geh“ war für mich ein Muss. Auch der junge Andrea hat dem doppelt so alten Andrei wohl vertraut. Andrei war gehetzt, stets einem Staatsverbrechen auf der Fährte. Natürlich machten wir, die für Medien über Russland berichteten, mit, weil wir es sinnvoll fanden, aber wir hatten noch andere Kämpfe, Andrei jedoch hatte nur diesen. Sein Tod hat eine Logik, der von Andrea nicht.
Um Nik gerecht zu werden, muss ich erwähnen, dass mir der Gemütling im Haus gegenüber die Hälfte der Gerichtskosten für den verlorenen Pappelprozess bezahlt hat und die Nachbarin Silvia, die nie Menschen übersät mit Granatsplittern sah, beteiligte sich ebenfalls grosszügig daran. Beide sind nicht nur in der Lage grosszügig zu sein, sondern sie sind es auch. Die Menschenrechtler hingegen waren stets knapp bei der Kasse genauso wie ich. Als ich damals beim blossen Wort Tschetschenien Panikattacken bekam und mehrmals beim Notfall landete, flehten mich die tschetschenischen Aktivistinnen an: „Werde nicht krank, wir brauchen dich“. Das verstärkte nur noch die Panik. Mein Organismus setzte die Krankheit als Schutz ein, aber nicht einmal diese Schwäche wurde mir zugestanden.
Irgendwann musste ich anfangen mich selbst zur Menschheit zu zählen und mir das Ungeheure zugestehen, dass es auch eine hehre Tat ist, wenn ich mich um den Menschen, der ich selbst bin, ebenfalls kümmere. Das war eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad, und sie dauerte Jahre. Ängste plagten mich, diese Gerechten würde mich fallen lassen, wenn ich anfinge über meinen Mietzins nachzusinnen. Ich fand als Emigrantin in der Schweiz keinen Anschluss, russische und tschetschenische Menschenrechtskreise wurden meine Wahlverwandten, ihr Verlust würde Einsamkeit bedeuten, aber ich entschloss mich, von dem zerstörerischen Sektengeist auf Distanz zu gehen, mit welchen Folgen auch immer. Später zeigte sich, dass ich den Einsatz nicht ganz aufgeben musste, es genügt, eine erträgliche Dosis davon zu nehmen, denn etwas Wichtiges ist mit mir geschehen: Ich bin vom Purismus dieser Gruppen nicht mehr abhängig.
Eine Russin, für deren tschetschenisches Frauenprojekt ich mehrmals Geld aufgetrieben hatte, fragte mich in vollem Ernst: Wirst du mich bis ans Lebensende unterstützen? Ich lachte nicht über ihre dreiste Naivität, sondern erschauderte. Sie sah mich gar nicht, ich sollte weiterhin ein Werkzeug bleiben, sollte sie retten, damit sie ihrerseits die Kriegsopfer rettet. Wenn ich es Dir jetzt schreibe, erscheint es mir absurd wie unendlich schwierig es war, mich zu wehren, um aus der Falle herauszukommen.
Vor einem Jahr stand jene Menschenrechtlerin vor dem Empfangszentrum für Flüchtlinge in Basel und wollte um Asyl nachsuchen, stadtsja, sich ergeben, wie es vielsagend auf Russisch heisst. Inzwischen lebte sie in der Ukraine, hatte nämlich ihre westukrainischen Wurzeln entdeckt und half verletzten ukrainischen Soldaten. Sie war völlig ausgebrannt, redete von Dämonen, die durch Russland jagten. Sie zitierte die Bibelstelle, wo Jesus den Dämonen befiehl, in die Schweine zu fahren, und die Schweine rennen dann verrückt durch die Gegend und stürzen sich vom Abhang ins Meer. Das war für die gläubige Katholikin keineswegs eine Metapher. Die Schweine, angeführt vom russischen Präsidenten, würden jetzt Russland ins Verderben stürzen, prophezeite sie, und ihr Gesicht wurde so finster, als wären die Dämonen schon in ihr drin.
Nach langem Hadern mit mir selbst, beschloss ich, mich für ihren Asylantrag nicht einzusetzen, denn sie hatte kein Anrecht auf politisches Asyl, sie war in der Ukraine nicht verfolgt. Die einzige Gefährdung kam von ihr selbst. Sie hat auf sich selbst nicht aufgepasst, und nun sollten es andere für sie tun. Als sie einsah, dass sie mit ihrem Asylantrag keine Chance hat, fuhr sie zurück und seitdem meldet sie sich bei mir nicht mehr. In ihren Augen habe das Gütesiegel einer Menschenrechtlerin verloren.
Ich erlebte auch viel Eifersucht. Kaum half ich Aktivistinnen aus einer Gruppe, schon redeten andere abschätzig von ihnen, beschuldigten sie gar mit dem Geheimdienst oder mit dem bewaffneten Widerstand zusammenzuarbeiten. Ich staunte wie persönliche Ambitionen überhandnahmen, wie die Solidarität schwand, wenn es ums Geld für Projekte oder um Einladungen zu internationalen Konferenzen ging, dabei hatten wir doch alle das selbe Ziel. Und doch begeisterte es mich immer wieder, was wir taten. Trafen wir uns irgendwo und besprachen unsere Aktionen, waren wir ein Teil des Weltgeschehens, wenn auch ein kleiner, wir klagten nicht nur über die grosse Politik, wir setzten ihr etwas entgegen. Nein, einen anderen Freundeskreis wollte ich nicht haben.
In diesem Sommer war in Bern eine Veranstaltung der Schweizer Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker, an der das „Tschetschenienarchiv für Wahrheit und Gerechtigkeit und gegen das Vergessen“, vor allem Videoaufnahmen der Verbrechen der beiden russischen Kolonialkriege, online gestellt wurde. Wie ich an der Präsentation sass, dachte ich an all die zermürbenden menschlichen Beziehungen. Da wurde ständig kleinlich mit mangelnden Sponsorengeldern argumentiert, um die Mitarbeiter gar nicht oder nicht richtig zu zahlen, bis herauskam, dass der Buchhalter, ein Berner, hunderte tausende Schweizer Franken veruntreut hatte. Die Gesellschaft ist seitdem schwer angeschlagen. Auch Zainap sass dabei. Das ist zum grössten Teil ihr Video- und Fotoarchiv. Sie war all die Jahre trotz der enormen Bedrängung seitens der Kriegsopfer fähig, auch in den Helfern Menschen zu sehen. Sie erzählte mir nicht alle Gräuel. Sie schonte mich.
Aus meiner Erfahrung in diesen Kreisen ziehe ich den Schluss, dass man den individuellen Charakter eines Menschen und seine Menschenrechtsarbeit nicht miteinander verwechseln darf. Die Tat soll nur als Tat beurteilt werden. Diese Helfer sind nicht eine bessere Gattung Mensch, sie sind wie andere auch, bloss ihre Arbeit besteht nicht darin, sich um die Entwicklung neuer Waffen zu kümmern, sondern um die Einhaltung der Menschenrechte. Womit man sich täglich befasst, das färbt natürlich ab. Der Anspruch, sich für ein höheres Ziel zu opfern, kann dazu führen, Selbstlosigkeit von anderen herrschsüchtig zu verlangen und in Sachen Selbstversorgung infantil zu bleiben.
In den Schriftstellerkreisen kämpft man auch egomanisch, doch nicht unbedingt für eine gemeinsame Sache, sondern oft für das eigene Werk. Ein ziemlich bösartiger Mensch kann gute Literatur schreiben und ein herzensguter schlechte. Es ist durchaus möglich, dass ein guter Autor gleichsam ein aufrechter Mensch ist. Und wir können miteinander befreundet sein, auch wenn wir die Bücher der Anderen nicht lesen. Es gibt genug Gesprächsstoff: über Verlage, Honorare, Lesungsorte, Stiftungen, Übersetzungen und sonstige überlebenswichtige Dinge. Und über Literatur und die fragile Weltlage.
So viel für heute, Deine Irena
30. Juli 2016 – Brief nach Basel versendet (Schor-Tschudnowskaja an Brežná)
Wien, den 30.07.2016
Meine liebe Irenotschka!
Der Dienst an der gemeinsamen Sache scheint uns beiden im Blut zu liegen. Die gemeinsame Sache! Diese Worten klangen mir immer nach lautstarkem Appell. Schon als Kind war mir klar, dass ich in meinem Leben unbedingt Gleichgesinnte finden musste, mit denen ich gemeinsame Sache machen konnte. Dieser »Sektengeist«, wie du ihn bezeichnet hast, war ein wichtiger Bestandteil der politischen Kultur, in der ich sozialisiert worden bin. »Es lebe die gemeinsame Sache!«, lehrte uns die kommunistische Ideologie. Und daran glaubten wir, selbst wenn wir mit allem anderen nicht einverstanden sein mochten. In der Atmosphäre weitreichender Verbote, in einer Gesellschaft ohne echtes Bürgertum, ohne echte Öffentlichkeit, wo man Zeitungen nur zwischen den Zeilen las und das Eigentliche lieber nicht am Telefon besprach, setzten sich die Menschen in winzigen Küchen zusammen (sonst gab es ja keine Versammlungsorte) und sangen mit dem großen Bulat Okudshawa:
»Kommt, Freunde, nehmt euch bei der Hand,
kommt, Freunde, nehmt euch bei der Hand,
um nicht vereinzelt zu verderben.«
Ein paar Scherzbolde wandelten die letzte Refrainzeile ab und würzten den romantischen Appell (in Anspielung auf die Einzelzellen im Gefängnis) mit politischer oder vielmehr pragmatischer Schärfe:
»Kommt, Freunde, nehmt euch bei der Hand,
kommt, Freunde, nehmt euch bei der Hand,
um nicht vereinzellt zu verderben.«
Kameraden, Gleichgesinnte, Gesprächspartner, »eigene Leute« brauchte jeder für die gemeinsame Sache, wie diese auch immer beschaffen sein mochte: für den Dienst am Theater oder an der Poesie, für den Aufbau der lichten Zukunft, den freiheitsliebenden Kampf gegen das Regime oder für die Herausforderungen des Alltags – des »Alltags der Werktätigen«, wie es damals hieß. Die gemeinsame Sache definierte für alle den Platz in der Welt, wir hatten gelernt, dass er nur kollektiv bestimmt werden konnte, nur mit »seinesgleichen«. Von diesem Gefühl durchdrungen, wollte man keine Zeit mit Konventionellem und Zeremoniellem vergeuden. Die eigenen Leute fragte man nicht, wie es ihnen ging, man gratulierte einander auch nicht unbedingt zum Neujahrsfest. Mit »den Seinen« konnte man in jedem Gespräch und bei jeder Begegnung sofort zur Sache kommen. »Mit den Eigenen« zu sein, hieß, auf der richtigen Seite der Frontlinie zu stehen, auf den richtigen Barrikaden, im Kampf um die gerechte Sache. Es bedeutete auch, zumindest in einem Punkt schon gewonnen zu haben – das Alltagsgrau und die Ödnis der oberflächlichen Unterhaltung waren überwunden. Im Grunde verhieß die Nähe zu »den Eigenen« das bunte, wahre Leben.
Daran glaubten wir. Und dieser Glaube hielt sich teilweise bis heute. Genau wie das Wort: Im Russischen ist »swoj« (einer, der dazugehört) bis heute ein bedeutsamer und zutiefst widersprüchlicher Begriff. Er vereinigt in sich das wunderbare Freundschaftspathos mit der zuweilen kategorischen oder sogar gewaltsamen Abgrenzung von allen jenen, die nicht auf derselben Seite stehen. Das Wort steht für bedingungsloses Vertrauen und zugleich für die Angst vor Verrat. So schlimm es ist, „die Eigenen“ nicht zu finden, ist es noch schlimmer, sie wieder zu verlieren, von ihnen verurteilt und ausgestoßen zu werden.
Du hast natürlich Recht, das hat viele sektenartige Züge. Und obwohl es nicht sein kann, nicht sein darf, dass Zivilgesellschaft, Dissidenten oder Menschenrechtler wie eine Sekte daherkommen, bleibt die Frage nach der Alternative, wenn es anders nicht geht, wenn sie Bedingungen vorfinden, in denen allein der selbstlose, gemeinschaftliche Dienst an der gemeinsamen Sache wenigstens irgendwelche Ergebnisse zeitigt. In Ländern wie der UdSSR oder dem heutigen Russland war und ist die Sache der Menschenrechtler und Dissidenten immer eine gefahrvolle und, so seltsam das scheinen mag, eine einsame: Der Staat versucht sie zu vernichten, die Gesellschaft begegnet ihnen mit tiefer Verachtung, sie dürfen nicht auf Anerkennung, Unterstützung oder Dankbarkeit hoffen. Menschenrechtler und Dissidenten sind Parias. Umso dringender bedürfen sie „der Eigenen“, um überleben und ihrer Sache dienen zu können.
Doch gibt es in solchen Menschen, in einem solchen Leben tatsächlich etwas Graues? Mich erstaunt, was du über das »Gebot der Grauheit« geschrieben hast, und ich muss dir wohl in diesem Punkt widersprechen. An unseren Helden – und sie dürften bei uns weitgehend übereinstimmen – hat mich immer die Spannung zwischen der Selbstaufgabe zugunsten einer überpersönlichen Sache einerseits und dem festen Willen, sich selbst auf keinen Fall preiszugeben, beeindruckt. Und ich hatte immer den Eindruck, am Ende hätte das Persönliche, Einzigartige die Oberhand behalten, als hätte die Hingabe an die gemeinsame Sache dem Leben und den Gesichtern der mir bekannten Menschenrechtler und Dissidenten eine besonders kräftige Farbe verliehen.
Der erste Satz des Nachrufs nach der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau, den die Nowaja Gaseta im Oktober 2006 veröffentlicht hat, ist mir unvergesslich geblieben. Auf der Titelseite war ein großes Schwarzweißfoto, darunter folgte der Text auf schwarzem Grund. Der erste Satz lautete: »Sie war schön.«
Dieser Satz erschütterte mich. Ich stellte mir vor, welchen Horror die Redaktionsmannschaft empfunden haben musste, als sie von der Ermordung dieser mutigen, verwundbaren Frau erfahren hat, die als einzige über Jahre hinweg ausführlich über die Kriegsverbrechen und die zahllosen Fälle von entfesselter Gewalt und Entmenschlichung in Tschetschenien berichtet hatte. In den letzten sechs Jahren ihres Lebens verfasste sie über 500 Artikel für die Nowaja Gaseta. Nach den Worten des Memorial-Mitarbeiters Alexander Tscherkassow war Anna Politkowskaja eine Vertreterin der seltenen Spezies »Menschenrechtsjournalistin«: infolge ihrer journalistischen Recherchen wurden in mehr als 50 Fällen Verfahren eingeleitet.
Selbst an ihrem Moskauer Schreibtisch setzte sie sich mit besonderer Grausamkeit, unmenschlichem, unerträglichem Bösen auseinander, wohin ihr nur sehr wenige folgen wollten. Sie befasste sich mit Folterspuren an Körpern, Vergewaltigungen, Verschleppungen und Erschießungen von Menschen beiderlei Geschlechts aller Altersstufen und Professionen, schrieb über »Konzentrationslager mit kommerziellem Einschlag«, über Leichenhandel, Massengräber und »Stücke menschlichen Fleisches, die von Gefangenen noch geblieben waren«, die die von russischen Truppen durchgeführte »Säuberungsaktion« eines tschetschenischen Dorfes nicht überlebten. Mit diesem Wissen kehrte sie immer wieder nach Moskau zurück, in diese selbstbewusste, pulsierende, dem Glamour und dem großen Geld so zugetane Stadt, um über das Gesehene und Erlebte zu schreiben. Man wollte sie nicht lesen, nicht mit ihr sprechen, und sie räumte selbst ein, dass sie sich kaum noch mit jemandem austauschte. Ihre Arbeit rief ablehnende Reaktionen verschiedener Ausprägung hervor – von Unverständnis und spöttischer Verachtung bis hin zu Empörung und Wut.
Und nun mussten Worte gefunden werden, um die lange Reihe von Publikationen über diese Verbrechen abzuschließen und mitzuteilen, dass ihnen diesmal die Autorin selbst zum Opfer gefallen war. Ich habe die inzwischen leicht vergilbte Trauerausgabe immer noch. Und ich möchte kurz daraus zitieren: »Sie war schön. Und sie wurde mit den Jahren immer schöner. Wissen Sie auch, weshalb? Wir bekommen unser Gesicht zunächst von Gott, später gestalten wir es selbst. Durch unser Leben. Es heißt auch, in reiferen Jahren schimmere die Seele durch das Gesicht. Die Schönheit ihrer Seele. Sie war besonders feminin. Sie konnte bezaubernd lachen über einen guten Witz und weinen über Ungerechtigkeiten.« Auf den Nachruf folgten zahlreiche Bilder. Wir sehen Politkowskaja als junge, attraktive Frau mit schüchternem Lächeln. Nie hatte sie etwas Graues an sich. Sie trug bevorzugt kurze Röcke und figurbetonte Pullover, wechselte ihren Haarschnitt, zog zwei Kinder groß, liebte Hunde.
Wenn ich heute die alten Zeitungsseiten durchblättere, muss ich zwangsläufig an die vielen Journalisten und Menschenrechtler denken, die damals, 2006, als wir um Anna Politkowskaja trauerten, noch am Leben waren. Sie sind nicht mehr da. Zumindest zwei von ihnen möchte ich erwähnen. Natalja Estemirowa wird drei Jahre später, im Sommer 2009, in Grosny ermordet. Auch von ihr sind mehrere gelungene Fotos erhalten, auf allen ist sie als anmutige Schönheit zu sehen. Andrej Mironow sollte beide Tschetschenienfeldzüge überleben, er kam im Mai 2014 in einem neuen Krieg ums Leben, in der Ukraine, in einem Dorf, das durch einen tragischen Zufall seinen Namen trug: Andrejewka. Du warst es ja, die uns in Moskau miteinander bekannt machte, und ich weiß noch genau, wie stark ich damals von Andrej beeindruckt war. Ich weiß noch, wie verwundert ich seine Garderobe betrachtete: Andrej trug einen gestreiften Mantel, der in Farbgebung und Fasson an einen lateinamerikanischen Poncho erinnerte. Auf seinem Kopf saß eine komische Mütze, wie man sie als Kopfputz von Gemälden aus dem Mittelalter kennt. In Andrej war der verkappte Ästhet zu erkennen, der, freilich nicht ohne Selbstironie, auf seinen Kleidungsstil achtete und der sich von der Menge der Moskauer deutlich abhob. Sowohl Andrej Mironow als auch Natalja Estemirowa sind durch dieselbe Zone gegangen, die schon Anna Politkowskaja durchmessen hatte. Sie brannten für ihre Arbeit, brannten aus, hatten aber bis zuletzt nichts Graues an sich, sondern wurden mit jedem Jahr nur noch schöner und klüger. Wie ihnen das gelang, ist mir unerklärlich.
Von zahlreichen Menschenrechtlern und Dissidenten lässt sich mit Fug und Recht behaupten, sie seien mit besonderem Talent gesegnet. Häufig sind unter ihnen talentierte Fotografen und Publizisten anzutreffen, wahre Wortmenschen. Ich habe Andrejs Texte gelesen, er konnte ganz wunderbar schreiben. Dasselbe gilt für den berühmten sowjetischen Dissidenten Wladimir Bukowski und für den Moskauer Menschenrechtler Alexander Tscherkassow von Memorial. Und über den Schreibstil von Anna Politkowskaja wurde schon einiges gesagt, du weißt ja, dass ich auch einmal einen großen Artikel darüber verfasst habe. Ich glaube, sie hat auf eine besonders exakte Art und Weise die Erfahrungen mit dem entfesselten Bösen in einem verbrecherischen Krieg in Worte gefasst. Sie hatte ein fantastisches Gespür für die richtigen Worte. Denn jedes Wort, das nicht richtig sitzt, sondern wie ein Milchzahn wackelt, fällt sofort auf. Und du hast doch auch in einem wunderbaren Text über Sajnap Gaschajewa nicht nur ihren erstaunlichen Mut erwähnt, sondern auch ihre Gabe, die richtigen, treffenden Worte zu finden, die direkt die Seele des Anderen ansprechen.
Darüber hinaus kennzeichnet diesen besonderen Stil, dieses Talent auch ein Mitgefühl für die Opfer, das den analytischen Verstand schärft und den Autoren, wie mir scheint, zusätzliche Kräfte verleiht. Die ORF-Korrespondentin Susanne Scholl sagte über Anna Politkowskaja: »Sie war […] eine Kämpferin für Menschenrechte – in jeder Situation und um jeden Preis. Die, für die sie sich eingesetzt hat, haben sie geliebt – auch wenn sie durchaus ein schwieriger Mensch war.« Ja, sie haben sie geliebt, das hat auch der tschetschenische Politologe Ruslan Martagow so beschrieben: »Sehen Sie, wenn ich sage, dass man sie in Tschetschenien liebte – die ganze Gesellschaft, das ganze Volk (dabei meine ich nicht die Klasse der Bürokraten) liebte sie –, dann ist damit fast noch nichts gesagt. Sie war die Verkörperung unseres Schmerzes, des Schmerzes des ganzen Volkes; sie war die Möglichkeit, diesen Schmerz auszudrücken. Es war tatsächlich so, dass wir in Anna Politkowskaja unsere einzige Möglichkeit dafür hatten. Mir fehlen die Worte um auszudrücken, wie sehr wir sie liebten und wie sehr sie uns nun fehlt.« Anna Politkowskaja selbst sagte über sich, sie sei »ein ganz und gar ziviles Wesen. […] Gerade ich als zutiefst ziviler Mensch [kann] sie viel besser verstehen, die Leiden anderer zutiefst ziviler Menschen: der vom Krieg überrollten Bewohner der tschetschenischen Dörfer und Städte. Das ist alles.«
Du hast Recht, vielleicht brachten sie wirklich nicht genug Anteilnahme auf für uns, die wir helfen wollten, dazugehören, und gemeinsame Sache machen. Einem Menschen, der sich aus Gewissensgründen mitverantwortlich fühlt für die Bomben und Folterungen eines verbrecherischen Regimes, zerreißt es das Herz, und er ist, wie du einmal ganz zutreffend geschrieben hast, auf die mitfühlenden Seelen Gleichgesinnter angewiesen, auf liebende, hilfsbereite Seelen. Nur die inbrünstige Reaktion einer anderen Seele lässt ihm neue Kräfte zuwachsen. Die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen ist zugleich seine Ohnmacht. Aus diesem Grund blieb für uns auch nur die fordernde Freundschaft, »der trommelnde Schmerz der Beunruhigung«, die weniger bittende als gebieterische Ansprache. Mit »den Eigenen« macht man keine Umstände. Man benötigt sie ganz, restlos.
Und doch haben uns all diese Freundschaften, so schwierig sie auch gewesen sein mögen, unendlich bereichert. Indem sie uns zermürbten, forderten, unsere Kraft und Zeit für sich beanspruchten, führten sie uns auf ein Niveau der Selbstaufgabe, von dem aus wir uns selbst wieder entdecken konnten und die fragile schöpferische Balance in uns wieder finden lernten. Streben wir denn nicht zuallererst genau danach, nach dieser fragilen Balance, wohl wissend, dass wir sie immer nur für kurze Zeit erreichen können? Und ist nicht sie die Grundlage für alles Schaffen, für all das Schöne, zu dem wir befähigt sind?
Sei umarmt von
А.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
13. August 2016 – Brief nach Wien versendet (Brežná an Schor-Tschudnowskaja)
Brief 3 Basel, 15. August 2016
Liebe Annočka,
wir beide leben in Ländern, die endlich zugeben, Einwanderungsländer zu sein. In der Schweiz ist dieser Umstand längst auf allen Ebenen der Gesellschaft sichtbar, doch sie hinkt in ihrem Selbstverständnis hinter her. Gerade lud mich der Tages-Anzeiger zu einem Sommergespräch über dieses Thema nach Zürich ein, zusammen mit einem jungen syrischen Zahnarzt, der seit drei Jahren als anerkannter Flüchtling hier lebt. Blend war ein intelligenter und ehrlicher Gesprächspartner. Ich meinte in seiner Schüchternheit all die Verletzungen des frisch Exilierten zu erkennen. Doch er erzählte, er habe schon immer eine zurückhaltende Art gehabt, und diese habe in Syrien seltsam gewirkt, die Schweizer Zurückhaltung allerdings übersteige seine eigene, so dass er hier als kommunikativ auffalle. Auf einmal sehne er sich nach der überbordenden Art seiner Landsleute, die ihn dort so genervt habe.
Die beiden Redakteure wiederum sind Kinder von Einwanderern aus Italien und aus dem Kosovo. So sassen wir zu viert da mit vielen Schattierungen des Einwanderungsschicksals und redeten über Verlust und Gewinn des Lebens in der Fremde und über eine neue Identität. Ich redete am lautesten und gestikulierte wild. Tagelang habe ich mir dann meinen völligen Mangel an Abgeklärtheit vorgeworfen. So könnte man sich eher einen Kriegsflüchtling aus dem Nahen Osten vorstellen, doch dieser war ausgesucht höflich, auch wenn er über seinen Schweizer Kulturschock sprach – an seinem ersten Tag fuhren ein paar Dorfbewohner am Asylheim mit erhobenem Mittelfinger vorbei.
Was ist das für ein Einwanderungsland, wenn sich die Schweiz weiterhin nur über ihre Vergangenheit definiert und all die Zugezogenen in ihrer Vielfalt ignoriert, sie nach ihrem Bild zu erziehen versucht oder sie duldet nach dem funktionellen und abschätzigen Spruch: Sie sollen sich an unsere Regeln halten? Was sind das für Regeln, die ich nicht kennen soll? Sind es nicht universelle Werte, die ich selbstverständlich teile? Einwanderer stehen unter Generalverdacht, Unglück zu verursachen. Ich weiss sehr wohl, warum ich in der Zürcher Redaktion so aufgeregt war. Den unsichtbaren aber deutlichen Stinkefinger erlebe ich auch nach einem knappen halben Jahrhundert. Das Dazugehören muss täglich neu erkämpft, bewiesen werden.
Einerseits will ich in der Rolle einer Theoretikerin des Multikulturalismus nicht stecken bleiben, nur weil ich eine Betroffene bin und mich immer wieder schreibend damit auseinandersetze, andererseits nehme ich solche Angebote an, trete auf und im Grübeln über ein Gesellschaftsmodell komme ich immerhin einen Schritt weiter, wenn auch zu keinem Ziel. Vielleicht drehe ich mich im Kreis und vielleicht sollen in einer offenen Gesellschaft die Fragen offen bleiben.
In Zürich kam mir die Idee eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen den Alteingesessenen und den Zugezogenen wie auch die Idee eines Kongresses, wohin Delegierte aus allen Bevölkerungsschichten strömen würden, um eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft zu machen und das Manifest für eine neue Schweiz vorzustellen. Ich zog den Vergleich zu Lenins und Trotzkis Konferenz in Zimmerwald bei Bern vor hundert und einem Jahr – ich hoffe, meine Ironie wurde verstanden. Gleichzeitig zeigte ich mich unnachgiebig gegenüber der roten Wiese mit dem weissen Kreuz darauf, wo weisse Schäfchen ein schwarzes Schaf hinauskicken. Das ist die Gesellschaftsutopie der rechten Partei SVP, mit solchen Plakaten klebt sie regelmässig das ganze Land zu. An meiner kompromisslosen Ablehnung merkte ich dann den Widerspruch – dass ich keine ideale Besetzung für eine Delegierte wäre, die mit der SVP zu einem Konsens wohl kommen müsste.
Als die Fotografin uns in der Hitze am schattigen Sihlufer knipste, gingen ein paar Jugendliche vorbei, sie riefen uns etwas Überfreundliches zu, das durchaus gerade das Gegenteil davon bedeuten könnte – so interpretierte ich das zumindest. Jetzt stossen sie uns in den Fluss, sagte ich zu Blend, und dieser erwiderte mit einer wachsamen Schnelligkeit: Man muss immer mit allem rechnen.
Dann fuhr ich nach Basel und ging ins Schwimmbad. Viele Sommer lang sah ich dort eine unnahbar wirkende ältere Frau und ich fragte mich, wer sie sei. Auch jetzt war sie dort, der kontrollierte schlanke Körper mit durchgestreckter Wirbelsäule trug den Kopf wie ein Juwel. Und es zeigte sich – mit Recht. Als mein Sohn aus dem Wasser stieg, und ich mit ihm ein paar Worte auf Slowakisch wechselte, geschah etwas Verrücktes mit der Dame. Sie dehnte sich noch mehr in die Länge und erzitterte, als würde sich der bewusste Körper leichtsinnig auf Flügel aus der Vorzeit besinnen und in die Luft abheben und rief aufgewühlt: Slowakisch! Und weg war die Unnahbarkeit. Eine Liebesgeschichte mit einem Slowaken aus fernen Zeiten brach aus der Berlinerin heraus.
Seitdem reden wir miteinander am Beckenrand. Sie betont, sie sei vor Jahrzehnten nicht mit dem Ziel hierhergekommen, in der Schweiz zu leben, sondern wegen einer Stelle als Ärztin. Sie sei deutsch und bleibe deutsch. Sie scheint nicht an der unvollkommenen helvetischen Einwanderungsgesellschaft zu leiden. Meine Theorien über Zimmerwald und Gesellschaftsvertrag warf sie mit einer schlichten Geste ins Wasser: Dieses Schwimmbad ist doch das Gesellschaftsideal! Und auf einmal sah ich das verwirklicht, was ich so verkrampft in der Zukunft gesucht hatte.
Niemand wird hier bevorzugt und niemand benachteiligt, Dutzende Sprachen ertönen, alle möglichen Körperformen befreien sich bis auf ein paar Stofffetzen und werden verletzbar. Und niemand nutzt die Verletzbarkeit aus. Franzosen aus dem Elsass (wohl ursprünglich aus dem Maghreb) schwimmen neben Ex-Jugoslawinnen und Schweizerinnen. Aber wen interessieren solche Zuordnungen? Abstammung als Kriterium für irgend etwas gelten zu lassen, wäre absurd. Alle halten sich an die Regel in der Bahn, dass man rechts schwimmt – es braucht also doch verbindliche Regeln! Ich war in diesem Sommer fast jeden Abend im Schwimmbad und es war mir nicht bewusst, dass ich dorthin nicht nur zum Schwimmen gehe.
Was ist die Vision dieser entspannten und doch reglementierten Schwimmbadgesellschaft? Aus der Wiese, die nicht mit Nationalfarben übertüncht ist, wird niemand hinausgekickt. Hast du den Eintritt bezahlt, gehörst du dazu. Der Rahmen ist vorgegeben, die Inhalte füllen wir selbst. Übertreibe ich es mit der Huldigung eines profanen Ortes und schmälere den politischen Ansatz, wenn ich mich mit dem Bild des Wasserbeckens und der Wiese samt all den badenden, liegenden, hüpfenden, unverbindlich miteinander plaudernden bunten Schäfchen begnüge?
So viel zu meiner Fata Morgana unter der brennenden Sonne – das Phänomen ist wohlgemerkt keine optische Täuschung, sondern eine Luftspiegelung.
Deine Irena
30. Oktober 2016 – Brief nach Zürich versendet (Schor-Tschudnowskaja an Brežna)
Kiew/Wien, Oktober 2016
Meine liebe Irenotschka,
dieses Mal schreibe ich Dir aus Kiew, wo ich an einer internationalen Konferenz über das Verhältnis zur »schwierigen Vergangenheit« teilgenommen habe. Dieses Verhältnis macht, wie Du weißt, auch die Gegenwart nicht einfacher. Und mir erscheint es durchaus konsequent, dass ausgerechnet hier Dispute über die Vergangenheit geführt werden – in einem Land, das nur deshalb von einem Krieg erschüttert wird, weil die Menschen keine Zeit hatten oder zu faul waren, eine weitere Vergangenheit, die nicht vergehen will, in den Griff zu bekommen.
Die Konferenz ist schon zu Ende, ich bleibe noch ein paar Tage, um in der Stadt umherzustreifen. Sie ist von Kastanien übersät. Die Menschen sind sehr freundlich, es gibt jede Menge gemütlicher Cafés und wunderbare Buchhandlungen. Aber unruhig ist es auch. Sogar in Kiew (von der Provinz ganz abgesehen) leben die Menschen in einem sehr zerbrechlichen Frieden und mit andauernden Geldsorgen, wohl wissend, dass die schwierigen Zeiten noch lange anhalten werden. Die Ukrainer beurteilen die Lage erstaunlich nüchtern. Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist, sie lassen den Mut nicht sinken. Von der Zukunft Europas wird hier ohne jedes Pathos gesprochen, wie von einer ganz alltäglichen Sache, doch gleichzeitig wie von einem harten Stück Arbeit. »Zukunft Europas« – diese beiden Worte klingen hier hart und eifrig zugleich, sie sind von echter menschlicher Emotion erfüllt, frei von Erschöpfung, Langweile oder Ironie, die unweigerlich mitschwingen, sobald in Deutschland oder Österreich mit übereinandergeschlagenen Beinen über die Zukunft Europas sinniert wird. Mich verblüfft die Bereitwilligkeit, mit der die Menschen in der Ukraine über diese Zukunft nachdenken und an ihr arbeiten, wie sie ihre Kräfte und ihr Leben dafür einsetzen. Der Glaube an Europa ist hier und heute stärker als der Glaube Europas an sich selbst. Und mir ist klar geworden, dass es auch für mich hier noch einiges zu lernen gibt.
Deine »Schwimmbadgesellschaft« beschäftigt mich sehr, wenngleich ich künstlichen Gewässern immer mit einem gewissen Misstrauen begegne und nur im Meer richtig gerne schwimme − das Meer sieht uns so, wie wir wirklich sind, es fragt nicht nach Nationalitäten und Identitäten, nach diesen hohlen Ideen, mit denen wir linkisch versuchen, uns die Welt untertan zu machen. Auf meinen Spaziergängen durch Kiew denke ich nun über Deine utopische Fata Morgana nach. Ich mag Utopien, ihre Sprache ist mir verständlich und wirkt sogar vertraut, wie diese kastanienübersäte Stadt um mich herum. Aber kann es eine solche Gesellschaft geben, in der Frieden herrscht, weil alle sich an die Regeln halten und bemüht sind, einander nicht zu verletzen? In der alle Bedingtheiten und Unterschiede sich in den mächtigen Weiten des Meeres verlieren? Ich lausche in mich hinein, um zu erfassen, was überwiegt, Glaube oder Unglaube.
Deine Fata Morgana − das Schwimmbad, in dem Menschen aus aller Welt brav ihre Bahnen ziehen − ist einem Sandkasten mit friedlich spielenden Kindern verwandt, die sich bemühen, nicht ohne Erlaubnis ein fremdes Spielzeug zu nehmen. In Teilen ist diese Utopie bereits Realität! Denn obwohl die EU als bürokratisches Wirtschaftsbündnis gilt, liegt ihr doch eigentlich der Wunsch zu Grunde, eine Form des Miteinanders zu finden, die Frieden und Ruhe garantiert. Nie zuvor und in keinem einzelnen Staat war die politische Kultur in so hohem Maße der Idee der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Gewaltlosigkeit im Verhältnis Mensch zu Mensch, Staat zu Mensch und Staat zu Nachbarstaat. Diese Idee ist wohl heute das Wertvollste, das Kostbarste, was Europa mitbringt. Aus der schwierigen europäischen Vergangenheit wurden tatsächlich Lehren gezogen. Aber ich frage mich, Irenotschka, was aus dem Rest der Welt jenseits des Schwimmbadzauns werden soll. Denn die Europäer können die Idee der Gewaltlosigkeit immer noch nicht verteidigen, darin sind sie noch kindlich naiv. Sie lernen unmittelbar im Tun, ohne die geringste Erfolgsgarantie. Und vielleicht bedürfen sie zunächst eines tieferen Empfindens für die Zerbrechlichkeit ihrer friedlichen Weltordnung, dann wüssten sie sie endlich angemessen zu würdigen – so, wie es etwa die sich mühsam aus dem Chaos herausarbeitenden Ukrainer verstehen.
Wenn Finsterlinge und Tyrannen ans Ruder kommen, wenn Kriege wüten, wenn die Erde und ihre Ressourcen mit Waffengewalt aufgeteilt werden, wenn Millionen und Abermillionen ohne Licht und Wasser leben müssen, sind gleich auch die Flüchtlinge da. Sie sind die unvermeidlichen Begleiter menschlicher Notstände, und diese Notstände sind fast ausnahmslos selbstgemacht. Die Menschheit hat seit jeher ihr Heil in der Flucht gesucht. Selbst das heutige Großbritannien versucht sich – zur Gänze – durch Flucht aus der EU in Sicherheit zu bringen! Auch in weiteren europäischen Ländern schauen Menschen wehmütig nach Australien oder Neuseeland und würden sich gern auf einer einsamen Insel verstecken. Oder sie umgeben sich mit hohen Zäunen – auch das ist eine Form von Flucht.
Und dieses kindliche Moment, das gibt es auch bei Flüchtlingen und Migranten. Sie können nicht sprechen, wissen nicht, wie man sich korrekt benimmt, sind direkt und verschreckt in ihrem Nichtwissen. Sie sind auf Hilfe angewiesen. Sie werden zurechtgewiesen und über elementare Dinge belehrt. Nur bekommen sie weder Zärtlichkeit noch Rührung zu spüren. Immer hängt über ihren Köpfen, mal ausgesprochen, mal aus Höflichkeit unterdrückt, die Frage: Was wollt ihr hier, wieso seid ihr hier, mit welchem Recht? Migranten und Flüchtlinge sind wie ungewollte Kinder. Sie werden gefürchtet. Sie sind ungezogen, sie verstoßen gegen die Regeln. Bestenfalls werden sie geduldet, geduldig umerzogen, im schlimmsten Fall entledigt man sich ihrer und gibt sich der Illusion hin, so Ruhe und Frieden bewahren zu können. Aber lassen sie sich so erhalten?
Bulgakow schenkte in dem Kultbuch Meister und Margarita seinem in der UdSSR unter Stalin leidgeprüften Helden im Jenseits Ruhe, kein Paradies, sondern Ruhe, schöpferische Ruhe an der Seite der geliebten Frau, inmitten schöner Natur und im Kreise von Gleichgesinnten und Freunden. Diese lyrische Utopie Bulgakows stellte zumindest für Vertreter der sowjetischen Intelligenz eine ernsthafte Konkurrenz zur lichten kommunistischen Zukunft dar. Aber eben im Jenseits. Im Diesseits hatte Bulgakow keinen Winkel der Ruhe vorgesehen.
Hier in der Ukraine sehe ich, wie sich die Menschen Chaos und Aggression widersetzen, deren Macht ihre eigenen Kräfte und Möglichkeiten um ein Vielfaches übersteigt. Aber sie widersetzen sich weiter. Besonders die Jungen. Sie wissen, dass keine Ruhe einkehren wird. Und dass sie das fragile Gleichgewicht immer wieder mutig von Neuem erringen und sich durch die turbulenten Zeiten schlagen müssen. Und ich hatte den Eindruck, dass auch in England vor allem die ältere Generation in Panik verfallen war, in eine Abwehrhaltung gegen die Zukunft, die gar nicht die ihre ist, sondern die der jungen Generation, die aber wiederum nicht mehr versteht, wieso die Festschreibung von Grenzen, Sprachen, Stilen und Kulturen dem Leben Sicherheit verleihen sollte! Sicherheit bedeutet für die junge Generation Risiko, Flexibilität, Ambivalenz und beständiger Wandel, Offenheit und Unbestimmtheit. Sicherheit vermittelt ja das Gewohnte. Und für die Jugend von heute sind gerade Unbestimmtheit und Wandel das Normale, sie sind die charakteristischen Merkmale ihrer Zeit. Wir leben in einer Welt, die sich mit jedem Jahr schneller und furchtloser verändert. Kaum kann man sich davor verstecken.
Angeblich sollen Flüchtlinge und Migranten in Zukunft in den europäischen Gesellschaften nicht mehr Minderheiten sein, sondern die Mehrheit stellen. Interessant, wie das wohl aussehen wird! Denn die zentrale Erfahrung, die sich Migranten und Flüchtlinge während ihrer Wanderschaft zu Eigen machen, ist ja die Kunst des Fremdseins. Und mit den Jahren wird man überall zum Fremdling, in der Fremde ebenso wie in der verlassenen Heimat. Wenn ich auf meine 25jährige Emigrationsgeschichte zurückblicke, kann ich nicht behaupten, dass ich mich integriert hätte. Möglicherweise in meinem Gebaren, nicht aber mit dem Herzen. Vor allem habe ich in all den Jahren gelernt, in der Fremde zu leben. Über 25 Jahre hinweg habe ich mich daran gewöhnt, ringsum immer Ausland zu sehen. Ich bin, wie die Titelheldin Deines letzten Buches, eine »undankbare Fremde«. Nur bin ich ein paar Jahrzehnte nach Dir ausgewandert, und ich bin nicht vor den Ketten der Panzer geflohen, sondern aus den Trümmern des Imperiums, das diese Panzer einst in Dein Heimatland geschickt hatte. Unsere Emigrationsgeschichten sind sehr verschieden, keine Frage. Aber in einem zentralen Punkt stimmen sie doch überein – in dem langen Weg der Abstoßung, der strikten Zurückweisung der Fremde, in der wir zu leben und in der wir uns mit unserer gesamten Lebensgeschichte zu verwurzeln hatten. Rückblickend muss ich einräumen, dass ich wesentlich heftiger zurückgewiesen habe als ich zurückgewiesen wurde.
Nie habe ich in der Fremde bei den Menschen in meinem Umfeld Geringschätzung oder Hass auf mich verspürt. Ich konnte bei ihnen ohnehin fast nie etwas spüren, alles um mich herum war gedämpft und in Pastelltönen gehalten. In dieser gedämpften Atmosphäre verkümmerten meine Wahrnehmungsorgane! Ich war ja aus einer Gesellschaft gekommen, die ein feines Gehör für das treffende Wort, für Gedichte und Lieder entwickelt hatte und die schöne, effektvolle Taten zu schätzen wusste. In der Fremde umgab mich dagegen die fade, seichte Stille der Normalbürger, die in ihren gesegneten Friedenszeiten ihre Tage mit der gemütlichen Einrichtung im Privaten zubrachten.
Jeder Migrant, jeder Flüchtling flieht vor einer Not, einer historischen Explosion, einer menschlichen Tragödie. Und in dem Land, in dem er Zuflucht findet, kann niemand (niemand!) ermessen, wie diese Not tatsächlich schmeckt und welche Tragweite seine Tragödie hat. So wenig Du, Irenotschka, 1968 in der Schweiz die mit der Sowjetidee verbundenen hochfliegenden Hoffnungen und das eisige Entsetzen angesichts der sowjetischen Panzer auf den Straßen von Prag erklären konntest, so wenig konnte ich in den 90-ern in Deutschland in Worte fassen, was der demütig ertragene Hunger und die maßlos naive Perestroika-Begeisterung waren, über die wir nicht einmal mitbekamen, wie unser Land mit seinem in Machtspielchen befangenen Regime zerfiel und im Orkus der Geschichte verschwand. »Applaus! Die Zeit tritt auf die Bühne!« sang damals eine sowjetische Rockgruppe. Und wir sangen begeistert mit. In Deutschland hätte ich niemandem diesen Satz vorsingen oder erklären können. Die Menschen um mich herum existierten in einer gänzlich anderen Zeit.
Und es ist extrem schwierig, wenn nicht unmöglich, sich einer Fremde nahe zu fühlen, mit der man nicht teilen kann, was einem in seiner fundamentalen Bedeutung auf der Seele liegt, was einen selbst ausmacht. Seine »schwierige Vergangenheit« und seine schwierige Gegenwart. Kennst Du den Satz eines großen Psychologen und Philosophen: »Am Anfang war die Antwort«? Ich frage mich, ob es ganz ohne Reaktion, weder von den Mitmenschen, noch von höheren Kräften, überhaupt geht. Sind wir überhaupt möglich, ganz ohne Reaktion, ohne Antwort? Offensichtlich wird sich die neue Gesellschaft – die sich aus lauter Menschen zusammensetzen soll, die vor allem mit ständigem Wandel und Flexibilität vertraut sind – nach neuen Formen des seelischen Bezugs zur Welt umsehen müssen.
Es dauerte zehn lange Jahre, bis ich diese neue Welt, die mich in sich aufgenommen hatte, verstehen und akzeptieren konnte. Meiner Heimat fühle ich mich emotional nach wie vor tief verbunden. Ich hege zärtliche, intensive Gefühle für sie, wie zu einem Lieblingsbuch aus Kindertagen, das schon Einband und Seiten verliert, das du aber trotzdem hütest, da du noch immer genau weißt, von welcher Seite das Licht der Lampe hineinfiel, als du das alles gelesen, verschlungen hast. Aber auf einen gemeinsamen Nenner mit der Welt muss ich nun alleine kommen, durch meine Fremdheitserfahrung, für die ich merkwürdig dankbar und undankbar zugleich bin.
Aber die Dankbarkeit überwiegt natürlich. Wenn ich heute durch Kiew gehe, kann ich deutlich spüren, wie lang der Weg ist, der noch vor den Menschen hier liegt, und ich bin zutiefst gerührt von ihrem Mut und ihrer Bereitschaft, diesen Weg zu gehen. Und ich schließe mich Deiner Hoffnung an, Irenotschka, dass die Zukunft Deiner Fata Morgana folgt. Aber bis dahin ist es noch lange hin, auch für die Ukraine in ihrem Ringen mit dem Regime in einem Nachbarland, das keine formalen Regeln und keine aufrichtige menschliche Achtung anerkennt. Europa kommt um die Frage nicht herum: Was tun mit Regimen und Kulturen, die eine nach Gewaltlosigkeit strebende Welt rundheraus ablehnen.
Ich möchte zu guter Letzt auch noch meinen utopischen Traum mit Dir teilen. Mir scheint, dass wir nur insofern wirklich gleich sind, als jeder, jeder ohne Ausnahme, absolut grenzenlos, maßlos ist und damit ein Geheimnis birgt, das Ehrfurcht gebietet. Letztlich erkenne ich nur diese Art der Gleichheit an, und ich freue mich, dass sie durchaus vereinbar ist mit der Idee der Gewaltlosigkeit, der Zerbrechlichkeit der Welt und Deiner Vision einer Gesellschaft, in der, wie Du schreibst, niemand die Verletzbarkeit des Anderen ausnutzt. Aber ich weiß nicht, wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende noch vergehen müssen, bis sich diese Gleichheitsidee durchsetzen kann.
Sei umarmt von
А.