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Karl-Markus Gauss Dževad Karahasan

Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)

Lieber Dzevad!

Ich habe im Frühjahr achtzehn Aktenordner mit Briefen, die ich über die Jahre erhalten oder selbst geschrieben und von denen ich die Durchschläge aufgehoben habe, in ein Archiv verräumt. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen mehr Platz schaffen in der Wohnung, die du kennst; sie hat die merkwürdige Tendenz, immer kleiner zu werden, obwohl die Kinder längst ausgezogen sind und ihre eigenen Haushalte gegründet haben. Natürlich bin ich über dem Verräumen der Briefe ins Lesen gekommen: Wie viele Menschen, um die ich seither ärmer geworden bin, waren mir damals in den Briefen nahe, die wir uns schrieben! Nicht dass sie gestorben wären, aber wir haben irgendwann aufgehört, uns zu schreiben, und begonnen, einander zu vergessen.
Ich bin aber nicht nur ins Lesen gekommen, sondern auch ins Staunen geraten: So habe ich gesehen, dass ich als Vierzigjähriger in derselben Woche an drei verschiedene Empfänger Briefe schrieb, von denen der eine anklagend und bitter, der andere ausgelassen und der dritte voller Selbstzweifel war – und die doch alle von mir stammten.
Habe ich mich verstellt?
Ich glaube nicht. Jeder Brief richtet sich nicht an ein allgemeines Auditorium, sondern an jemand ganz Bestimmten, von dem ich auf bestimmte Weise wahrgenommen werden möchte; und wer würde bei lauter verschiedenen Menschen, mit denen er es zu tun hat, immer als genau der Gleiche dastehen wollen, ein Mensch, frei von Widerspruch und stets eins mit sich selbst? Mir kommt vor, lieber Dzevad, dies sei das wahre Briefgeheimnis, dass, wer an verschiedene Menschen schreibt, sich auch zu verschiedenen Persönlichkeiten ausfaltet, die ihn erst alle zusammen ausmachen.
Jean Améry hat schon vor vierzig Jahren in dem Essay „Der verlorene Brief“ den Niedergang der Briefkultur beklagt, die damals technologisch doch nur von Telefon, Fernschreiber, Telegramm, nicht durch die Entwicklung des Internet bedroht war. Am Brief schätzte er, dass er einer Sphäre angehörte, in der die Devise „Zeit ist Geld“ nichts gälte. Die digitale Kommunikation verheißt hingegen eingesparte Zeit, also mehr Zeit, die wir seltsamerweise dafür verwenden, uns immer mehr kommunikative Akte zuzumuten, bei denen wir Zeit einsparen können, bis wir am Ende gar keine mehr haben und sie gewissermaßen in Form negativer Zinsen als riesiger Verlust von Zeit und Lebensfreude für uns zu Buche schlägt.
Oder hast Du früher dreißig Briefe am Tag erhalten? Und die Verpflichtung verspürt, sie postwendend zu beantworten? Der E-Mail-Verkehr ist für jene, die an ihm teilnehmen, nur zu bewältigen, indem literarische und soziale Verkehrsregeln aufgehoben werden, die mir früher als zivilisatorische Errungenschaften selbstverständlich waren. Ich erhalte Mails von Professoren, Schriftstellerinnen, den Presseabteilungen von Verlagen, in denen die Orthographie fehlerhaft, die Zeichensetzung schlampig, der Stil nachlässig sind und die insgesamt anmuten, als wären sie achtlos aus lauter Versatzstücken zusammengesetzt. Und ich muss mich selbst ermahnen, es ihnen bei meinen Antworten nicht gleich zu tun. Die mir doch zweifellos etwas mitteilen möchten, werden mir als Individuen in dem, wie sie schreiben, paradoxerweise nur durch das Fehlen spezifischer Eigenschaften und Eigenheiten greifbar, als Wesen, deren Persönlichkeit sich gerade dann verflüchtigt, wenn sie schreiben. Ich zweifle nicht daran, dass sich diese entpersönlichten Personen, wenn ich ihnen leibhaftig begegnete, als unterscheidbare oder gar unverwechselbare Charaktere erweisen könnten; aber im Schreiben manifestiert sich ihre Individualität höchstens noch in den Tippfehlern und grammatischen Aussetzern, die sie nicht korrigieren, weil sie sich, desinteressiert an mir und an sich selbst, die abschließende prüfende Lektüre ihres Geschreibsels ersparen.
Wer einen Brief schreibt, pflegt sich hingegen, bewusst oder instinktiv, auch des Bildes zu besinnen, das er vom Empfänger hat und das er umgekehrt diesem von sich selber geben will. Du sollst Dir ein Bildnis machen! In seinem Abgesang auf die untergehende Kultur des Briefes rühmt Améry, dass dieser dem Verfasser die Gelegenheit zur „Selbstkonstitution“ bietet. Egal, worüber geschrieben wird, im Brief wird nicht nur Information übermittelt, sondern auch Identität entworfen.

Lieber Dzevad, ich grüße Dich herzlich und hoffe, dass Dich Deine Lesereise nicht ermüdet. Ich muss morgen zum Literaturfestival nach Leukerbad ins Wallis fahren. Noch vor ein paar Wochen hätte ich gesagt: Ich darf fahren! Aber je näher die Verpflichtungen kommen, die ich mir selber schuldhaft aufzuhalsen pflege, umso mehr wird bei mir stets ein „muss“ daraus –
Dein Karl-Markus

Antwortbrief nach Salzburg versendet (Karahasan an Gauss)

Lieber Karl Markus,

danke für Deinen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich einen Brief bekam, einige meiner Freunde, zum Beispiel Jovica Aćin und Albert Goldstein, waren wahre Meister im Briefeschreiben und machten mir viel Freude mit ihren glänzend geschriebenen, oft langen Briefen, die von allem oder nichts handelten und mir ein ganz besonderes Lesevergnügen bereiteten.

Über Deinen Brief freue ich mich anders, er hat mir geholfen, eine interessante Koinzidenz zu bemerken und zu verstehen. Während der Belagerung Sarajevos waren Briefe für mich nämlich besonders wichtig, damals begriff ich, dass ein Brief viel mehr ist als ein Text und einen Brief zu erhalten ein wertvolles und aufregendes Ereignis sein kann. Irgendwie zur gleichen Zeit stellte ich einen Zusammenhang zwischen Briefen und Gesprächen im alten Stil her, solchen, wie sie Angehörige meiner Generation im Kaffeehaus noch immer erleben konnten, zum Beispiel in meinem geliebten Kaffeehaus hinter dem Višegrader Tor in Sarajevo, wenn sie das Glück hatten, sich an einen Tisch mit zwei Meistern des Gesprächs zu setzen. Solche Gespräche sind in der Regel nicht nützlich, es geht niemals darum, irgendeine Absprache zu treffen oder den Weg zur Lösung eines wirklichen Problems zu finden, sie haben in der Regel weder ein klar definiertes Ziel noch einen Zweck, dem sie dienen, auch dürfen die Gesprächspartner nicht den Ehrgeiz haben, einander von etwas zu überzeugen oder einander etwas zu beweisen. Stundenlang sitzen sie bei einem Kaffee und unterhalten sich, betrachten einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven, überprüfen ihre Annahmen und Äußerungen sowie die des Gesprächspartners, suchen Argumente für eine Überzeugung und für ihr Gegenteil, manchmal führt das Gespräch zu einer hohen Spannung, fast an den Rand eines Konflikts – und dann fällt einem ein von ihnen ein, dass er wichtige Verpflichtungen hat, verabschiedet sich freundlich und geht. Oder beide brechen gleichzeitig auf, weil die Zeit zum Mittagessen, Abendbrot oder zu was auch immer gekommen ist.

Warum haben sie Stunden miteinander verbracht? Ich weiß, sie sind keine dicken Freunde, sind nicht ineinander verliebt und arbeiten nicht eng zusammen, sie haben nichts voneinander zu lernen noch zu profitieren, und trotzdem setzen sie sich oft an den selben Tisch im Kaffeehaus hinter dem Višegrader Tor in Sarajevo und unterhalten sich stundenlang. Viele Male war ich bei solchen Gesprächen anwesend und genoss sie als Zuhörer, aber ich konnte mich mir nicht als ihr Teilnehmer vorstellen noch begriff ich, warum jemand überhaupt so etwas tun sollte. Solche Gespräche brachte ich, wie gesagt, während der Belagerung Sarajevos, in einen unauflösbaren Zusammenhang mit Briefen. Die Freude, wenn ich einen Brief bekomme, seine Lektüre und die langen mehrtägigen Gespräche darüber, das Nachdenken über einen konkreten Brief und über Briefe überhaupt, all das wies mich darauf hin, wie sehr ein echter Brief jenen Gesprächen im alten Stil ähnelt, die ich das Glück hatte kennenzulernen und nicht als etwas von mir zu erkennen. Sie sprechen zueinander, ohne konkretes Ziel und Grund, über etwas, was sie beide kennen und interessiert, aber für keinen von ihnen ist es von praktischer Wichtigkeit, sie sprechen und allein dadurch sagen sie einander „Ich sehe dich, ich weiß von dir, ich wende mich an dich und verwirkliche mich dadurch als Subjekt und dabei bezeuge ich, dass du anwesend bist und es dich gibt“. Gibt es etwas Wichtigeres als das, können wir uns oder einem anderen überhaupt etwas Wichtigeres ausrichten?

So verhält es sich auch mit dem Brief. Albert Goldstein hat Gott weiß was für mystische Wege gefunden, damit seine Briefe zu mir ins belagerte Sarajevo gelangten, und jeder von ihnen bedeutete mir viel mehr, als ich sagen kann. Warum? War es mir dank dieser Briefe leichter, an Wasser zu kommen? War ich den Granaten und Gewehrkugeln weniger ausgesetzt? War mir weniger kalt? Habe ich aus ihnen etwas Wichtiges lernen können, was ich bis dahin noch nicht wusste? Nichts von alldem, und doch bedeuteten sie mir so viel, dass ich darüber nicht zu sprechen vermag und weiß. Ich ging aufrechter und leichter, darum geht es, aber das war nicht der hauptsächliche Gewinn der Briefe, die mich in Sarajevo fanden. Doch gerade diesen, den hauptsächlichen Gewinn, weiß ich weder zu benennen noch zu beschreiben. Vermochte ihn die Umarmung einer Frau auszudrücken, mit der man Freuden und Ängste teilt, oder der Händedruck eines Freundes? Ich weiß nicht, aber sicher weiß ich, dass mir die Briefe einen Gewinn brachten, der mir unermesslich wichtig war, und ich weiß, dass ich es zutiefst bedauere, dass ich über diesen Gewinn nicht sprechen kann. Kann ich es nicht, weil ich es nicht vermag oder weil man darüber nicht klar sprechen kann?

Deshalb ist für mich wohl der Teil Deines Briefes am wichtigsten, in dem du erzählst, wie Du gleichzeitig mit drei Menschen korrespondiert und Briefe geschrieben hast, die wie aus drei verschiedenen Händen wirkten. Das ist ein wertvolles Zeugnis für mich und womöglich die Antwort auf die Frage nach dem Gewinn, den uns Briefe und Gespräche bringen.

Schon jahrzehntelang versichere ich allen Menschen, die mir freiwillig zuhören, und jenen, die dazu verpflichtet sind, zum Beispiel meinen Studenten, dass in jeder unserer verbalen Äußerungen der Gesprächspartner immanent anwesend ist. Aus einer guten Replik eines Dramas geht deutlich hervor, was für eine Beziehung der Sprecher zu jenem hat, zu dem er spricht, wie auch deutlich daraus hervorgeht, was für eine Beziehung er zu dem hat, worüber er spricht. Du fragst Dich, ob Du Dich verstellt hast, als Du fast gleichzeitig dem einen bitter und anklagend, dem zweiten fröhlich geschrieben hast und im Brief an den dritten tiefe Zweifel an Dir geäußert hast. Vor langer Zeit habe ich bemerkt, dass ich mit verschiedenen Gesprächspartnern unterschiedlich über ein und dieselbe Sache spreche. Was ich sage, unterscheidet sich nicht, also verstelle ich mich wirklich nicht und ändere auch nicht meine Überzeugung, aber die Art, wie ich es tue, unterscheidet sich. Ich habe mich davon überzeugt, dass in gewissem Maße sogar meine Vorlesungen von den Studenten abhängen, zu denen ich spreche. Ich wiederhole: Ich sage über das Drama Tschechows immer, was ich denke und weiß, aber die Art, in der ich es tue, hängt weitgehend von den Studenten ab. Sie schreiben sich mit ihren Fragen, stummen Reaktionen, etwas Unfassbarem in meine Vorlesung ein, so wie sich zum Beispiel die Zuschauer in eine Theatervorstellung einschreiben. Ich weiß nicht, ob Du Dich verstellt hast, ich versichere Dir aber, dass ich mich wirklich nicht verstelle, wenn ich mit verschiedenen Leuten unterschiedlich über die selbe Sache spreche – es ist weder Heuchelei noch Verstellung, es ist ein Grundgesetz der Kommunikation. Wenn in dem, was wir sagen, der Gesprächspartner nicht auf irgendeine Art anwesend ist, unterhalten wir uns nicht, sondern befehlen, informieren, unterweisen. Der Andere ist also kein Subjekt, sondern ein Objekt, er ist nicht unser Gesprächspartner, sondern ein passiver Empfänger unserer Botschaft. Wir nehmen keinen Kontakt zu ihm auf, tauschen keine Gefühle, Gedanken, Energie aus, sondern machen ihn als Objekt im Rahmen der Beziehung „Subjekt-Objekt“ mit dem bekannt, was wir denken oder wollen. Dabei sind auch wir nicht wirklich Subjekt, dieser Typ von „Kommunikation“ (der keine Kommunikation, sondern reine Information ist) hebt sowohl den Sender als auch den Empfänger als Subjekte auf. Aus einer Mitteilung auf einem Bahnhof können wir nichts über den erfahren, der die Mitteilung verfasst hat, noch berücksichtigt die Mitteilung denjenigen, an den sie sich wendet. So verhält es sich auch mit staatlichen Erlassen, Gesetzen, so genannten Tagesbefehlen beim Militär. Da gibt es keine Subjekte und daher keine Kommunikation (das, wozu wir zusammen sind), da existiert nur anonyme Information, genauso gleichgültig gegenüber dem, der sie ausspricht, wie gegenüber dem, der sie empfängt.

Im Brief ist es, ich sagte es bereits, wie in einem echten Gespräch, der Empfänger ist immer immanent anwesend. Du wählst die Farbe und die Textur des Papiers, die Farbe der Tinte und die Feder, mit der Du schreiben wirst, und natürlich artikulierst Du, bringst Du dadurch Dein Bild von jenem zum Ausdruck, dem Du schreibst, mit jeder Wahl drückst Du also Dich aus. Aber auch ihn, denn er kann in dem Bild von ihm gar nicht abwesend sein, wenn auch Du es gemacht hast. Es ist klar, dass es mehr über Dich als über mich aussagt, das, wie Du mich siehst, aber ich kann darin nicht ganz abwesend sein. Der Empfänger ist also in jeder Deiner Wahlen anwesend, er hat zusammen mit Dir die Farbe und die Textur des Papiers bestimmt, auf dem Du ihm schreiben wirst, die Farbe der Tinte und die Feder, mit der Du ihm schreiben wirst. Ich kenne Menschen, denen man nicht mit dem Kuli schreiben kann, es sei denn, man kennt sie nicht oder möchte sie beleidigen, ich kenne ein paar Leute, die sich über einen mit Bleistift geschriebenen Brief am meisten freuen würden (interessant ist, dass es Frauen sind, was ist das für eine mir verborgene Beziehung von Frauen zu Bleistiften?), ich weiß gut, mit welcher Feder ich welchem meiner Freunde schreibe, mit denen ich korrespondiere.

Dein Brief erinnerte mich an die enge Verwandtschaft von Brief und Gespräch, die ich während der Belagerung Sarajevos entdeckt hatte, eigentlich ermöglichte er mir, diese Entdeckung erst jetzt klar zu formulieren. Und diese lange Überlegung über ihre Verwandtschaft (verzeih, falls sie zu lang ausgefallen ist) sollte die Frage vorbereiten, auf die wir vielleicht eine Antwort finden könnten. Jean Amery spricht in dem von Dir erwähnten Essay über den Tod der Briefkultur, und mich verweist diese Bemerkung auf den Tod des Gesprächs und jeder echten Kommunikation als Prozess, während dessen zwei Subjekte aufeinander zugehen, sich begegnen.

Wir können uns damit trösten, um nicht zu sagen täuschen, dass wir die Briefkultur infolge des technischen Fortschritts verloren haben, der uns ständig neue Wunder beschert wie das Telefon, das Handy, die elektronische Post… Aber warum haben wir die Gesprächskultur verloren? Wir haben die Fähigkeit, uns zu unterhalten, verloren, unsere „Gesprächspartner“ sind heutzutage nur Menschen, mit denen wir etwas vereinbaren, lösen, abstimmen müssen. Daher, fürchte ich, ist das Hinweisen auf die Telefone und Handys nur ein Trost, mit dem wir die Erklärung für das Verschwinden des Briefs und des Gesprächs vor uns verstecken. Technik und Metaphysik gehen immer miteinander einher, gute Technik produziert Metaphysik, wie wahre Metaphysik die entsprechende Technik produziert.

Technische Antworten sind in der Regel genau, aber nie genügend. Ich kann mich nicht erinnern, wer die rein technische Antwort auf die berühmte Frage „Warum zögert Hamlet?“ angeboten hat. „Hamlet zögert, damit aus dem Drama eine abendfüllende Vorstellung gemacht werden kann“, lautet diese Antwort. Zweifellos genau, aber völlig ungenügend, weil sie nicht erklärt, warum wir von „Hamlet“ fasziniert sind, nicht auf die Frage antwortet, wie und warum sich Hamlets Zögern und das Zögern von Tschechows Helden unterscheiden, buchstäblich nicht auf eine einzige der Fragen antwortet, die uns im Zusammenhang mit diesem Drama wichtig sind. So verhält es sich, fürchte ich, auch mit den technischen Antworten auf die Frage, warum der Brief verschwindet, warum wir aufhören, uns miteinander zu unterhalten, wohin die Kommunikation verschwunden ist, die uns zueinander führt. Es gibt keine technische Antwort, die den Gewinn annähernd erklären kann, den mir Briefe und echte Gespräche bringen, zu denen ich leider unfähig bin.

Freundschaftlich grüßt Dich
Dževad

 

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Griesshaber

Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)

Lieber Dzevad,

Deine Zeilen über das Caféhaus beim Višegrader Tor in Sarajewo haben mich daran erinnert, dass auch wir beide eine Zeitlang unsere zwei Kaffeehäuser hatten. Das eine hieß Café Europa, wir waren dort zwei- oder drei Mal verabredet, als ich vor 16 Jahren in Deiner Stadt war, in diesem unerhört kalten Winter des Jahres 2000, in dem so viel Schnee gefallen und zu betonharten Klumpen vereist war, dass ich in den engen Gassen im Stadtteil Bjevali, in dem ich wohnte, auf den unter einer Mauer aus Schnee und Eis verborgenen Autos dahinstapfen und in die Fenster im Erdgeschoß blicken konnte. Das andere war das Café Mozart in der Getreidegasse, in dem wir uns in Deiner Salzburger Zeit immer trafen, Du erinnerst Dich, jenes mit spartanischem Charme möblierte Café im ersten Stock der am dichtesten bevölkerten Gasse von Salzburg, in dem außer uns oft nur die schweigend rauchenden Schachspieler zugegen waren. Dort hast Du mir einmal auf einem kleinen Zettel mit verschiedenen, ineinander verschränkten Kreisen die Struktur des Romans anschaulich gemacht, an dem Du gerade geschrieben hast, „Schahrijars Ring“.
Unser Café ist, bald nachdem Du aus Salzburg weggezogen bist, verkauft, gründlich renoviert und unter gleichem Namen, aber aus anderem Geist wieder eröffnet worden. Wo damals die Tische der Schachspieler standen und sich in meinem inneren Bild ewig der Rauch der Zigaretten kringelt, türmen sich jetzt in den Schaukästen der Theke die Crèmeschnitten. Die Torten und Speisen sind zuverlässig von einem gewissen Standard, und die Kellnerinnen und Kellner brausen nicht mehr auf, wie ihre Vorgänger es taten, sondern bleiben stets auf professionell abgeklärte Weise höflich. Das sind alles Entwicklungen, über die man nicht klagen soll, zumal sich im alten „Mozart“ die Kellnerin in ihren beigefarbenen Gesundheitsschuhen manchmal müde in die Küche verzog, von wo sie nur alle Zeiten ächzend nachschaute, ob die paar überständigen Gäste noch immer an ihren Marmortischchen saßen. Das Beste am alten Mozart war gerade das Mangelhafte: Dass man dort nämlich als Gast schlichtweg vergessen werden konnte, sich selbst überlassen blieb und mitunter weder bedient noch genötigt wurde, etwas zu konsumieren. Eher schon benötigte man auf altösterreichische Weise Protektion, um zu seinem zweiten Espresso oder zweiten Glas Rotwein zu kommen. Das heutige Café wird gastronomisch in jederlei Hinsicht besser geführt, ich glaube aber nicht, dass wir uns dort die Struktur unserer nächsten Bücher aufzeichnen würden.
Im Café Mozart haben wir über alle Mögliche und natürlich auch über Jugoslawien und über die Kriege gesprochen, die gerade geführt wurden, nur wenige hundert Kilometer entfernt. Ich sehe Dich noch vor mir, lange nachdenkend und die Antwort überlegend, die Du auf meine Frage geben wolltest, wie sich der Untergang, nein, die Zerstörung Deiner Stadt hätte vermeiden lassen: „Wir alle hätten sie mehr lieben müssen.“ Mehr lieben, ja. Und genug Aufmerksamkeit besitzen, um nicht erst nachträglich draufzukommen, was man verlieren kann und entbehren wird! Die meisten meiner hiesigen Freunde halten die Belagerung Sarajewos für ein in Europa unwiederholbares Verbrechen, den Zerfall Jugoslawiens hingegen für eine unausweichliche historische Entwicklung. Mir erscheint beides jedoch als Menetekel auf die Geschichte Europas, als reale Möglichkeit, wie sich die Regionen, Nationen, Staaten und endlich die Europäische Union selbst entwickeln könnte.
Egal, wo ich in den letzten Jahren in Europa unterwegs bin und mit wem ich ins Reden komme, stets begegne ich einem merkwürdigen Grimm, einem rasch hochschießenden Zorn, als befänden wir uns in einer dauernden Erregungsbereitschaft. Was ich sie auch frage, wütend pflegen die Leute sofort alles niederzumachen, was sich in ihren Ländern und in der gemeinsamen Union ereignet. Von nichts als Verfall und Niedergang bekomme ich zu hören, die Politiker wären korrupt, egal was sie verfechten, die Gebildeten arrogant, die Hilfsbereiten dumme Gutmenschen und jene in der Gesellschaft, denen es sichtbar am schlechtesten geht, allesamt nicht der Unterstützung bedürftig, sondern verachtenswerte Schmarotzer, die sich faul an unserem Gut bereichern und am Sozialstaat mästen.
Die Kritik ist laut und heftig, aber ziellos und völlig inkonsequent. Am vermeintlichen bürokratischen Monster Brüssel wird einmal kritisiert, dass es zu viel tue und sich reglementierend ins Leben jedes Einzelnen einmische, das nächste Mal, dass es zu wenig tue und die Dinge ihren schlechten Lauf nehmen lasse. Die einen werfen der Union geradezu geifernd vor, dass sie sich Rechte anmaße, die nicht ihr, sondern nur den nationalen Regierungen zustünden, die anderen werfen ihr vor, dass sie in der Flüchtlingsfrage keine gemeinsame Strategie für alle Staaten zuwege bringe. Ja, wie sollte sie auch, wenn ihr jeder einzelne Staat das Recht verweigert, für ihn zu entscheiden? Am meisten ergrimmt mich, der ich inmitten des allgemeinen Zorns mitunter selbst in Rage gerate, dass gerade jene, die nicht müde werden, die Union zu schwächen, ihr schamlos just die von ihnen verursachte Schwäche vorzuhalten pflegen. Bei uns haben damit die charakterlosen Politiker der Freiheitlichen Partei angefangen, aber mittlerweile hat ihr schlechtes Beispiel opportunistische Schule gemacht.
Lieber Dzevad, Du weißt, dass ich kein Verklärer Österreichs und der Europäischen Union bin, aber mittlerweile fühle ich mich tatsächlich verpflichtet, Österreich und die Union vor der zerstörerischen, der geradezu nekrophilen, in das Scheitern verliebten Abwertung in Schutz zu nehmen. Wenn man in Wien mit der Straßenbahn unterwegs ist, könnte man mitunter meinen, man würde durch eine sozial ruinierte, von Verbrechern regierte, von Flüchtlingsbanden terrorisierte Stadt fahren, in der es keine funktionierenden Spitäler, Schulen, Ämter, Kindergärten mehr gäbe: So jedenfalls geht die hitzige Rede vieler Fahrgäste. Und erst ein vernünftiges, abwägendes Gespräch über Europa zu führen, ist bei uns nur mehr schwer möglich. Dabei gälte es doch, gerade jetzt, die Mängel und die Vorzüge dieser Vereinigung zu debattieren, über die Versäumnisse und die Chancen einer staatenübergreifenden Union zu sprechen, und dies, ohne die neoliberale Zuformung des europäischen Marktes zu verschweigen, aber auch ohne das dumme Lied von der heilen nationalen Welt von gestern anzustimmen.
Nichts davon. Es mangelt an beidem: an der Erinnerung, wie es gestern wirklich war, und an der Vorstellungskraft, wie es morgen in Wohl und Wehe sein könnte. Aber vor allem mangelt es an der Zuneigung, um nicht zu sagen: an der Liebe. Nicht an der Liebe zu einer abstrakten Größe oder einem staatsrechtlichen Gebilde, also um die Liebe zu Europa oder zur Union. Sondern an der Zuneigung, die die Menschen für das, was sie selbst aufgebaut haben und mit ihrem Leben repräsentieren, empfinden sollten und nicht mehr empfinden, in Österreich und in ganz Europa. Statt auf Achtung und Selbstachtung setzen wir auf die große Missachtung, von uns selbst und von den anderen, von dem, was wir zuwege gebracht haben, und von dem, was wir zuwege bringen könnten. Das ist dumm, ungerecht und gefährlich.

Es grüßt Dich herzlich
Dein Karl-Markus

Brief nach Salzburg versendet (Karahasan an Gauss)

Lieber Karl-Markus,

es ist irritierend und doch legitim, dass Du das Hotel Evropa und sein Café erwähnst, in dem wir bei Deinem (leider einzigen! – bitte verstehe das als Vorwurf) Aufenthalt in Sarajevo saßen. Irritierend, weil wir im Hotel Evropa nur einmal saßen, hingegen im Morića Han zwei-, dreimal und im Aeroplan, denke ich, mindestens fünfmal. Und legitim ist es, weil man, wie mir scheint, nicht über Sarajevo sprechen kann, ohne das Hotel Evropa wenigstens zu erwähnen, ohne an das Hotel zu denken, das, wie ich einmal geschrieben habe, der symbolische Mittelpunkt Sarajevos ist, der wie ein optisches Prisma die zerstreuten Strahlen dessen sammelt, was Sarajevo ausmacht. Eröffnet kurz nach der österreichisch-ungarischen Okkupation Bosniens, so konzipiert, dass es in sich die orientalische Vergangenheit und die mitteleuropäische Gegenwart der Stadt, in der es erbaut wurde, vereinte, war das Hotel Evropa für Generationen von Sarajevoern ein beliebtes Lokal und ein Ort, an dem man alle Veränderungen, die die Zeit ihrer Stadt brachte, wahrnehmen, erkennen und verstehen konnte. Das Hotel hatte zwei Cafés, die sich in allem deutlich voneinander unterschieden – ein orientalisches und ein mitteleuropäisches oder, wie wir es nannten, wienerisches. Beide hatten ihre Stammgäste und -gruppen, die sich am liebsten dort versammelten, aber die meisten Sarajevoer saßen manchmal im einen und manchmal im anderen.

Zum Wiener Café gehörte eine Konditorei mit „den besten Torten der Stadt und zwar in der größten Auswahl südlich von Wien“, wie die Kellner behaupteten, die dort bedienten. Die Fenster, die auf die Vladislava Skarića-Straße sahen, waren mit durchsichtigen Gardinen verhangen, die der Gast zurückziehen konnte, wenn ihm ein Tisch am Fenster zufiel, und an beiden Seiten jedes Fensters hingen schwere Plüschvorhänge, tagsüber immer zurückgezogen, nachts manchmal zurückgezogen, manchmal vorgezogen. Rechts, an den Fenstern, standen kleine Tische mit zwei, drei Stühlen, während der linke Teil mit größeren Tischen möbliert war, um die herum besondere Sofas mit Lehnen aufgebaut waren, so dass die Leute, die an diesen Tischen saßen, vom Rest des Cafés völlig abgetrennt und gezwungen waren, einander anzuschauen, ohne die Möglichkeit, den Blick durchs Fenster oder auf das Gesicht eines Gastes an einem anderen Tisch schweifen zu lassen. Der Held meines Romans „Schahrijars Ring“, den Du erwähnst, beschreibt dieses Café ausführlich, und dann bemüht er sich, seine Liebste davon zu überzeugen, dass die Psychoanalyse nur in einer Gesellschaft mit solchen Cafés habe entstehen können: alles wird verborgen, nach innen gekehrt, abgeschirmt und zum Schweigen gebracht, aber doch deutlich gezeigt. Anschließend vergleicht er diesen Typ Café mit den Pariser Cafés, in denen sich alle Gäste in Fenstern ohne Gardinen, wie in Schaukästen, drängen oder sogar hinausgegangen sind, auf das Trottoire vor dem Café. In einem Wiener Café ist der Gast durch die Raumaufteilung und Atmosphäre buchstäblich gezwungen, den Menschen an seinem Tisch anzuschauen und sich leise mit ihm zu unterhalten, während er in einem Pariser gleichermaßen gezwungen ist, das Innere des Lokals zu verlassen und um einen Platz zu kämpfen, an dem er sich möglichst gut zeigen, um nicht zu sagen ausstellen kann. Das Pariser Café zeigt alles, viel mehr als es gibt, das Wiener dagegen verbirgt alles, es verbirgt auch das erfolgreich, was es nicht gibt, das heißt, es verbirgt, dass es nichts zu verbergen gibt. So beendet mein Held eine lange Episode, die ich hinausgeworfen habe, weil mir schien, der Roman komme ohne sie aus.

Entschuldige bitte diese lange sentimentale Abschweifung, ich musste sie schreiben, nicht um die Überlegungen meines Romanhelden vor dem Vergessen zu bewahren, sondern als Erinnerung an das Hotel Evropa und seine Cafés, wie sie früher waren. Du hast gesehen, dass auch sie das Schicksal des Cafés Mozart erlebt haben, über das Du mit bitterer Nostalgie schreibst. Im Juli 1992 wurde das Hotel Evropa von präzisen Artillerietreffern zerstört und nach dem Krieg unter dem Namen Hotel Europe erneuert. Du hast gesehen, dass aus den damaligen zwei Cafés eins gemacht wurde, das dem, was aus dem Café Mozart gemacht wurde, in allem ähnelt – es wurde etwas geschaffen, was eine globalisierte anonyme Bequemlichkeit bietet, die jeden zufriedenstellt und keinen erfreut, für jeden annehmbar ist, weil niemand sie als seine erkennt und empfindet. Alles nach dem Geschmack und den Wünschen der Finanzfundamentalisten. Die Wucherer haben wohl seit jeher die Welt besessen, haben aber den Menschen, die in ihr leben, früher erlaubt, sie zu gestalten, doch nun, würde ich sagen, gestalten sie auch die Welt, in der wir leben müssen.

Ich nehme an, dass Du nicht mit mir übereinstimmen wirst (ich glaube, ein Grund für unsere gute Kommunikation ist, dass wir meistens nicht miteinander übereinstimmen), aber ich denke, dass das, was mit unseren Cafés passiert ist, mit dem zu tun hat, was Du im zweiten, dramatischen Teil Deines Briefes beschreibst. Auch mir ist aufgefallen, dass die Menschen unzufrieden, verbittert, besorgt sind… Du hast das ausgezeichnet beschrieben, ich brauche es nicht zu wiederholen. Ich habe bis vor einigen Jahren geglaubt, das beziehe sich nur auf die Österreicher, die eine spezifische Kultur des Jammerns entwickelt haben, die sie sorgsam pflegen und virtuos zelebrieren. Ich erinnere mich, wie ich 1997 oder 1998 in Graz fast in Tränen ausgebrochen wäre über das Schicksal eines Taxifahrers. Gerade war ich aus Sarajevo gekommen, wo noch viele Menschen in Wohnungen mit Zimmern lebten, in denen eine oder zwei Wände fehlten, hungrig oder halbhungrig, mit Hähnen, aus denen nur hin und wieder Wasser rann, und der gute Mann, der mich mit seinem Auto in Graz fuhr, erzählte mir, das Leben sei bitter, die Regierung unfähig, die Stadt im Zerfallen begriffen und die Welt in Auflösung, die wir vielleicht noch nicht sähen, die aber sicher schon ziemlich fortgeschritten sei. Erst nachdem ich mich detailliert erkundigt hatte, beruhigte ich mich hinsichtlich des Schicksals meines Fahrers, weil ich erfahren hatte, dass er im eigenen Haus lebte, zusammen mit einer gesunden Frau und gesunden Kindern, genug verdiente und gut mit den Nachbarn auskam, die zwar keine guten Menschen und lästig waren, weil sie ständig unzufrieden waren, aber sie waren anständig und relativ gut erzogen.

Aber nein, was Du beschreibst, hat nichts mit der österreichischen Kultur des Jammerns zu tun. Das österreichische Jammern ist melancholisch und still, der Österreicher jammert eher sich selbst als seinem Gesprächspartner etwas vor, er trauert eher über den allgemeinen Zustand der Welt, als dass er schreien würde. Doch dieser Neusprech der europäischen Medien und Individuen ist, wie Du sagst, ungehobelt laut und zornig, verbittert und geradezu autistisch auf die allgemeinen Ängste und Frustrationen ausgerichtet, und zwar überall gleichermaßen, in Deutschland und in Frankreich, in Holland und in Dänemark… Wenn der Österreicher jammert, stellt er Fragen zu sich und der Welt, während der europäische neue Mensch frei von allen Fragen und Zweifeln ist, er brüllt verbittert die Welt an und verlangt Rechenschaft von der Wirklichkeit. Camus hat vom Menschen in der Revolte gesprochen, ich würde seine Formulierung gern missbrauchen und den europäischen neuen Menschen einen Menschen in der Verbitterung nennen, der fühlt, dass ihm die Welt etwas vorenthält, worauf er volles Recht hat. Eine Zeitlang habe ich mich über den „neuen Ton“ im öffentlichen, aber auch privaten Diskurs, der nun in den europäischen Gesellschaften herrscht, lustig gemacht, weil ich glaubte, er zeige lediglich die Angst von Menschen, denen es verdammt gut geht und die befürchten, das könne einmal vorbei sein. Sie wissen eigentlich, dass es vorbeigehen wird, wenn nicht durch den Weltuntergang, so doch durch Alter, Krankheit, Tod, aber sie können einfach keine Firma finden, bei der sie eine Versicherung gegen Alter, Krankheit und Tod abschließen können. Aber auch das ist nicht die Wahrheit, die Ängste, von denen ich spreche, sind konkret und drücken sich anders aus, ohne diese heutige Wut auf alles, diese allgemeine Verbitterung, diese Bereitschaft, über jede Andeutung menschlicher Güte, Solidarität, jedes Vertrauen in das Gute zu spotten (Du kannst Dir vorstellen, wie mich als Ausländer die Entdeckung schockiert hat, dass „Gutmensch“ im Neudeutschen in Wirklichkeit ein Schimpfwort, eine Disqualifizierung eines so bezeichneten Menschen ist?! Interessant ist, dass das Schimpfwort „Gutmensch“ besonders gern jene Exemplare der Spezies Mensch verwenden, welche die europäische christliche Kultur, in der Güte eine kostbare Gabe Gottes darstellt, gegen mich verteidigen.)

Alle kritisieren „laut und heftig, aber ziellos und völlig inkonsequent“, wie Du sagst, am meisten das „bürokratische Monster in Brüssel“ und die EU. Dieses Geschrei gegen Brüssel und die EU erinnert mich an das Geschrei, das zu Ende der Existenz Jugoslawiens gegen Belgrad und die Regierung in Belgrad erhoben wurde. Alle waren sicher, dass „die da in Belgrad“ gegen sie arbeiteten (das sagten auch jene, die in Belgrad lebten), dass dort lauter Idioten und Misanthropen säßen, alle Zahlen und Tabellen bewiesen, dass Jugoslawien sie ausnütze und sie in ihm nur verlören, und die Regierungen und Politiker der einzelnen jugoslawischen Republiken hörten das gern und wiederholten es. Ein bosnisches Sprichwort sagt: „Wen die Schlangen gebissen haben, der fürchtet auch die Eidechse“. Ich wollte, wollte sehr, dass das auf mich zuträfe, mir liegt viel daran, dass die EU dem Schicksal Jugoslawiens entgeht. Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union eins der größten kulturellen und politischen Unterfangen in der Geschichte ist, eins von jenen Unterfangen, um die und um derentwillen es sich durchaus lohnt, sich zu bemühen. Es ist klar, ein solches Unterfangen lässt sich nicht ohne Krisen und Widerstände zu Ende bringen, das heißt, zum Erfolg führen, aber alles spricht dafür, dass momentan die bisher tiefste Krise besteht, weil sich dem europäischen Projekt heute die Nationalismen und die Wut auf alles Fremde entgegenstellen, die gleichzeitig bei fast allen EU-Mitgliedern aufgetaucht sind.
Ich glaube fest daran, dass diese Wut keine Manifestation des Bösen ist, das heimlich in die Menschen geschlüpft und nun plötzlich ausgebrochen ist und sich allseits offenbart hat. Oder ein Dämon, beziehungsweise der Teufel, wie dem Dualismus zuneigende Theologen sagen würden, der sich in Europa ausgebreitet und aus den Menschen Hoffnung, Glauben an das Gute, Vertrauen verdrängt hat. Aber gerade das fehlt tragischerweise im öffentlichen und persönlichen Diskurs heute. Empedokles sagte, die Menschen sähen und erkennten in der Wirklichkeit nur das, was sie in sich trügen. Wo also fehlt das Gute, die Hoffnung, das Vertrauen? In uns oder in der Welt, zu der wir verurteilt sind? Ist uns die Güte, Freude und das Vertrauen weggenommen worden von einer Welt, in der wir uns nicht mehr wie zu Hause fühlen können, die wirklich niemandes Heim ist, von einer Welt, die bestenfalls bequem und anonym ist wie unsere Cafés, ohne Gesicht und Wärme, ohne irgendetwas Persönliches und gerade deshalb profitabel? Diese Cafés duften nicht mehr, die Kellner dort sind weder unfreundlich noch fröhlich, weder stolz noch unzufrieden, sie sind als Personen in ihren Cafés nicht präsent; sie sind korrekt, immer korrekt und immer abwesend von sich selbst, sie leben nicht, weil sie funktionieren.

Ich weiß nicht, vielleicht werde ich ja im Laufe unserer Gespräche etwas begreifen. Bis zum nächsten Brief grüßt Dich herzlich

Dein Gutmensch Dževad

 

Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Griesshaber

Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)

Lieber Dzevad,

Deinen Taxifahrer aus Graz kenne ich, er hat mich vorgestern spätnachts durch mein Salzburg heimgefahren, aber ich treffe ihn auch regelmäßig, wenn ich in Wien unterwegs bin, und wie er die Städte meiner Heimat wechselt, so wechselt er auch fortwährend seine Berufe und sein Alter – und doch bringt der Wandlungsreiche es auf rätselhafte Weise zuwege, immer der Gleiche zu bleiben. Das Jammern ist allerdings eine aus der Geschichte überkommene Kulturtechnik, die viele Österreicher beherrschen. Als gesellschaftlicher Akt verstanden, gehört es zur Sphäre der höheren Kultur, setzt es doch eine Reife voraus, die sich erst dort einstellt, wo die Herrschaft der reinen Unmittelbarkeit gebrochen ist. Unmittelbar möchte der Jammerer nämlich gar nichts bewirken, er jammert ja nicht, um einem Missstand tatsächlich abzuhelfen. Nein, nichts bringt ihn in größere Verlegenheit, als wenn man wörtlich nimmt, worüber er lamentiert, und ihn dabei unterstützen möchte, seine Misere zu beheben. Im Gegenteil, das Jammern, in dem es unter meinen Landsleuten echte Virtuosen gibt, die nur einen beliebigen Anlass, aber keinen ernsten Grund benötigen, um loszulegen, strebt keine Veränderung der Zustände an, über die gejammert wird. Indem er über sie greint, gibt der Jammerer vielmehr seine tiefe Verbundenheit mit ihnen kund.
Früher hatte ich manchmal das Gefühl, das Jammern wäre in Österreich nicht nur eine Äußerung persönlichen Unmuts, sondern eine Art von staatsbürgerlicher Manifestation. Das Jammern mag manchmal liebenswürdig klingen, manchmal verbohrt und ärgerlich anmuten: immer aber zeugt es von einer konservativen Gesinnung, die mit den Dingen, bejammernswert, wie sie prinzipiell sind, fraternisiert. Seit einigen Jahren habe ich allerdings den Eindruck, es würde langsam aus dem emotionalen Haushalt meiner Nation verschwinden, jedenfalls keine so große Rolle mehr spielen wie über viele Generationen. Was das Jammern ablöst, das ist die erboste Dauererregung, der alltägliche Hass, der aus beliebigem Anlass hochschießt, diese allgemeine und gleiche Verbitterung, die Du in Deinem letzten Brief als das Charakteristikum des neuen europäischen Menschen ausgemacht hast; dieser Grimm, diese Wut, diese Bereitschaft, in jedem Nächsten den Verbrecher zu sehen, der nichts anderes im Sinn führen kann, als einen zu betrügen und zu bestehlen – das sind jedenfalls weder konservative Eigenschaften noch solche, die ich früher als „progressive“ bezeichnet hätte. Mit ihnen lässt sich nämlich weder etwas bewahren, das bewahrt, noch etwas verändern, das verändert zu werden verdient. Diese Eigenschaften zielen vielmehr auf den Umsturz, also darauf, das, was unsere Gesellschaft im Guten wie Schlechten ausmacht, nur umzuwerfen, umzukippen, umzustürzen, auf dass es endlich am Boden, im Morast verstreut liege.
Es ist besorgniserregend, dass Du diesen Charakter, der nicht mehr jammert wie unser Taxifahrer mit seinen vielen Adressen und Professionen, sondern immerzu geifert, gleich wo, im Internet und in der Straßenbahn, am Nebentisch und im Parlament, bereits aus Jugoslawien kennst, genauer, aus der Zeit, da es mit Jugoslawien rapide zu Ende ging; damals, als alle inklusive den Belgradern glaubten, dass „die da in Belgrad“ speziell gegen sie arbeiteten. Wie damals sie, so sind jetzt Millionen Unionseuropäer überzeugt, die Politik der Union wäre insbesondere gegen sie persönlich gerichtet, und darum möchten sie auch gerne jedem Politiker glauben, der ihnen erzählt, dass in Brüssel wieder einmal eine große Verschwörung gegen sie betrieben werde.
In den letzten agonalen Jahren der Donaumonarchie war ein Reisender aus Amerika zu Gast in Wien, und an drei Tagen hintereinander hat er die Sitzungen im Reichsrath, wie das Parlament damals hieß, besucht. Mark Twain hat darüber, was er dort zu sehen und zu hören bekam, eine grimmige Reportage verfasst, die erst vor einigen Jahren unter dem Titel „Turbulente Tage in Wien“ auf Deutsch veröffentlicht wurde. Er berichtete fassungslos, wie gehässig die allermeisten Reden ausfielen und dass permanent ein Redner vom andern mit höhnischen Zwischenrufen unterbrochen wurde. An einer Stelle schreibt Twain: „Ganz allgemein gesprochen hassen alle Nationen des Kaiserreichs die Regierung, aber sie hassen sich auch alle gegenseitig, und zwar mit hingebungsvoller und leidenschaftlicher Verbitterung.“ Man braucht nicht Freud studiert zu haben, um auf die Idee zu kommen, dass dieser allgemeine Hass in seiner Tiefe ein Selbsthass und die gegenseitige Verachtung eine nach außen gestülpte Selbstverachtung war, die aus dem Selbstmörderischen schon bald ins Völkermörderische kippen würde.
Mit ausdauernder Wut wurde damals, als Twain in Wien erlebte, wozu europäische Parlamentarier fähig waren, gegen die galizischen Juden gewettert (ähnlich wie heute gegen die über die Fußgängerzonen der europäischen Städte verstreuten Roma-Bettler). Weil sie in sichtbarer Armut lebten, bekamen sie den Hass jener zu spüren bekamen, die etwas besaßen und durch den schieren Anblick der Armen daran erinnert wurden, dass womöglich auch sie selbst ins Elend geraten könnten. Gerade von dort, aus dem einstigen Galizien, bin ich erst vor ein paar Tagen zurückgekehrt, ich könnte sagen, von einer Dienstreise, denn ich war zur Buchmesse nach L´viv, ins einstige Lemberg, eingeladen. Warst Du schon einmal dort? Was Du jedenfalls finden würdest, das sind in Deiner Typologie nicht Pariser, sondern Wiener Kaffeehäuser, deren es etliche gibt. Sie sind dunkel und im Sommer kühl, die vergilbten Stores an den Fenstern lassen nur ein träges Licht herein, die Holztische sind schwer und wie eingefettet mit den Geschichten, die an ihnen erzählt wurden, und die Mehlspeisen, wenn der schwarzgekleidete Ober sie aufzählt, klingen alle nach Kremšnita, Štrudlicki und ähnlichen Köstlichkeiten. Wenn sie mit etwas renommieren, dann mit einer Art intimer Öffentlichkeit oder öffentlicher Diskretion, und als ich all die Tage in einem dieser Cafés nahe dem Freiheitsplatz, einem wunderbar langgestreckten, auf das Opernhaus hin orientierten Platz, einkehrte, war ich von lauter gedämpften Gesprächen umgeben, denn an den Tischen wurde leise gesprochen, als würden Dinge beredet, die nicht für alle Ohren gedacht sind; oder sie wurden leise beredet, damit man meinte, sie wären nicht für alle Ohren gedacht.
Lemberg faszinierte mich, weil über seine Gassen und Straßen eine kakanische Atmosphäre gebreitet ist, die ich selbst nur aus den Romanen von Joseph Roth oder Miroslav Krleza und all den anderen kenne, und L´viv irritierte mich, weil es in einem Land liegt, in dem Krieg geführt wird, und sich diese Tatsache fast nirgendwo in der Stadt für mich vergegenwärtigte. Doch, in ein paar Straßen stieß ich auf so etwas wie improvisierte urbane Gedenkstätten, da waren an einer Mauer zehn, zwölf Fotos von gefallenen Soldaten angebracht, die mit kurzen Biographien und den Namen der Gestorbenen versehen waren. Aber sonst? Bis spät in der Nacht hatten unzählige Kneipen und Restaurants geöffnet, um die Tische im Freien hingen Trauben junger Leute, eine urbane Gelassenheit schien die sympathische Grundstimmung dieser Stadt zu sein. Krieg? Mir kam vor, dass er unendlich fern von dieser Stadt und ihren Menschen war, und das stimmte ja geographisch auch, denn die Ukraine ist ein riesiges Land und L´viv liegt ganz im Westen, der Krieg aber wird ganz im Osten, im Dombass, geführt… Aber es stimmt natürlich auch wieder nicht, denn die Ukraine, trotz ihrer inneren historischen Trennlinien, ist doch ein Land, ein einziges Land, und wenn ihm an der einen Ecke ein Krieg aufgezwungen wird, kann das den Leuten am anderen Ende des Landes nicht gleichgültig sein. Ich möchte nicht behaupten, dass er den fröhlichen Zivilisten von L´viv tatsächlich gleichgültig wäre, aber als Stadtwanderer konnte ich dennoch kaum wo erkennen, dass seiner gedacht wurde, und vielleicht ist das auch eine der Erfahrungen unserer Zeit, dass der Schrecken zum Alltag gehört, dass Vernichtung und Vergnügung koexistieren, ja, dass es sogar gut und widerständig ist, wenn die Leute sich die Freude an ihrem Leben nicht durch jene austreiben lassen, die auf eine Epoche der Freudlosigkeit setzen…
Es gab Hunderte Veranstaltungen während der Buchmesse, ja, tatsächlich Hunderte, und einige von ihnen hatten doch den Krieg und die Fragen, die er für die Literatur und die Gesellschaft aufwirft, zum Thema. Was ist mit der Literatur in Zeiten des Krieges, wurde gefragt. Ich glaube, dort, wo Krieg herrscht, kann die Literatur die Erinnerung an den Frieden sein, daran, dass es Frieden gegeben hat und er wieder möglich ist als das Menschengemäße. Dort aber, wo der Krieg vergessen wird, weil er anderswo tobt oder gerade vorüber ist, dort muss die Literatur daran erinnern, dass es ihn gegeben hat, dass es ihn gibt.

Es grüßt Dich herzlich,
Dein Karl-Markus

Brief nach Salzburg versendet (Karahasan an Gauss)

Lieber Karl-Markus,

danke für den vortrefflichen Brief, Deine geistreiche „Verallgemeinerung“ meines Grazer Taxifahrers, das heißt seine Verwandlung in einen Typ oder eine Maske, wie Theaterleute sagen würden, brachte mich zum Lachen. Er ist in Wien und in Salzburg, im Taxifahrer und im Arzt, im Greis und im Jugendlichen, weil er ein für eine Kultur charakteristisches Verhaltensmodell verkörpert. Aber das, wovon wir heute Zeugen sind, das Verhalten unserer Zeitgenossen in ganz Europa und nicht nur in Österreich, hat nichts mit regionalen Kulturmodellen zu tun, sondern mit dem Geisteszustand in einem historischen Moment. Das hast Du glänzend bemerkt und präzis ausgedrückt.

Ich fürchte, ich muss Dich enttäuschen und Dir neue Argumente für die Besorgnis liefern, weil mir gerade das Lesen Deines Briefes gezeigt hat, wie stark die Wut unserer Zeitgenossen der unbegreiflichen Wut ähnelt, die ich in Jugoslawien vor seinem Zerfall gesehen habe. Die Menschen lebten damals in Jugoslawien relativ gut, „viel besser als sie arbeiteten“, würde ein ehrlicher Analytiker der gesellschaftlichen Beziehungen sagen. Trotzdem waren sie verbittert, wütend, unzufrieden und bereit, auch dann aufzubrausen, wenn es gar keinen Grund dazu gab. Vor allem, wenn es keinen Grund gab, würde ich sagen, wenn ich mich heute an diese Zeit erinnere. Gut kann ich mich an einen Fall erinnern, der Dir, glaube ich, viel über die allgemeine, unbegreifliche Wut sagen wird, die zu der Zeit in der jugoslawischen Gesellschaft geherrscht und sie zerstört hat, wie auch die Menschen, die in dieser Gesellschaft lebten.

Einmal, irgendwann im November 1990, sah und hörte ich, als ich von meinem Seminar nach Hause ging, eine Menge von einigen Hundert Leuten, die herumbrüllten und einen vor kurzem fertiggestellten Wohnkomplex mit allem bewarfen, was sie in die Hände bekommen konnten, einige von ihnen bemühten sich, aus dem Boden Granitwürfel auszugraben, mit denen die Straße gepflastert war, um etwas Gefährlicheres in die Hände zu bekommen, was sie ins Fenster, die Glastür oder wenigstens auf die Fassade des unlängst fertiggestellten Gebäudes werfen könnten. Dem Geschrei entnahm ich, dass die versammelten Menschen verbittert waren, weil die neuerrichteten Gebäude unangemessen luxuriös seien und demzufolge inakzeptabel in einer Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie auf sozialer Gerechtigkeit basiere. Die einen schmerzte der Verrat des Sozialismus, die anderen die unerträgliche soziale Ungerechtigkeit und der Zynismus der Machthaber, die, da sieht man’s, Wohnungen wie aus amerikanischen Seifenopern für sich bauten, während Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf hätten, andere wiederum tobten, weil dieser unsinnige Luxus mit ihrem Geld finanziert werde… Mich verblüfften die Schreie und die Wut der Menge, weil die Gebäude, vor denen die wütenden Leute standen, ganz normal aussahen, ohne Zeichen irgendeines Luxus. Aber noch mehr verblüffte, eigentlich bestürzte mich die Zusammensetzung der wütenden Menge, in der ich ein paar gute Bekannte von mir erkannte.

Dir ist bekannt, dass ich niemanden und nichts verurteile, aber mich bemühe, alles zu verstehen. So mischte ich mich auch dieses Mal in die wütende Menge und begann mich bei meinen Bekannten zu erkundigen, was sie hier an solch einem ungemütlichen Tag (kalt, feucht und grau, als wäre Dantes Purgatorium über Sarajevo gekommen) versammelt habe. Als erstes wandte ich mich an eine nahe Verwandte, die hier den Sozialismus, beziehungsweise das kommunistische (im Grunde christliche) Modell der menschlichen Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit verteidigte. Sie war eine Frau, die mit Mühe und Not die Volksschule abgeschlossen hatte, ohne Ambitionen und ohne die Absicht, etwas von sich zu verlangen, zufrieden mit ihrer minimalen Rente und einem Leben von heute auf morgen. Und zwei Schritte von ihr entfernt stand und schrie, lauter als meine Verwandte, aber wütend wie sie, ein guter Bekannter, fast Freund von mir, ein Spezialist für Gefäßchirurgie, der teilweise in Frankreich ausgebildet worden war und sich in den Vereinigten Staaten spezialisiert hatte. Er wetterte gegen „die herrschenden Gruppen in der Gesellschaft“ und protestierte gegen das System, das ihnen ermögliche, für ihre Luxuswohnungen Geld zu verschleudern, das man in die Wissenschaft hätte investieren können. Er war verbittert, vor ein paar Tagen hatte er auf einem amerikanischen Fernsehsender einen Kollegen von sich gesehen, einen Spezialisten für Gefäßchirurgie, der sicher jünger gewesen sei als er, aber bereits berühmt sei, bereits im Fernsehen auftrete und über seine spektakulären operativen Eingriffe spreche. Welche Chance habe er, mein Freund, im Wettlauf mit dem Kollegen aus Amerika, wenn das Geld hier für den Bau solcher Gebäude ausgegeben werde anstatt für Wissenschaft und Bildung?! Es wäre sinnlos gewesen, ihn daran zu erinnern, dass er vier Jahre lang in den Genuss eines staatlichen Stipendiums in Frankreich und Amerika gekommen war, ihn zu bitten, sich die Gebäude, derentwegen er tobte, anzuschauen und sich davon zu überzeugen, dass sie überhaupt nicht so luxuriös waren, ihn darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Arbeit ein etwas komplexeres Phänomen ist als Athletik und nicht im Wettlauf mit Kollegen bestehen muss…

Ich will Dich nicht mit den weiteren Gesprächen mit meinen Bekannten aus der wütenden Menge ermüden, diese zwei reichen völlig aus, um zu illustrieren, worauf ich uns beide aufmerksam machen möchte. Und das sind vor allem die bestürzende Zusammensetzung der wütenden Menge und die nicht vorhandene Bereitschaft (Unfähigkeit?) dieser Leute, die Fakten zu berücksichtigen. Eine halbanalphabetische Rentnerin und ein junger Spezialist für Gefäßchirurgie stehen nebeneinander, schreien und gestikulieren fast identisch?! Gleichermaßen wütend auf ein paar Gebäude neben dem Kino Sutjeska, gleichermaßen davon überzeugt, dass diese Gebäude sündhaft luxuriös sind, und gleichermaßen unfähig, die unglücklichen Gebäude, gegen die sie wettern, zu sehen. Die Gründe, mit denen sie ihre Wut rechtfertigen, sind nicht vergleichbar, aber die Wut ist bestürzend ähnlich, die Art, auf die sie diese ausdrücken, ebenfalls, die Unfähigkeit dieser so unterschiedlichen Menschen, sich den Fakten zu öffnen, ebenfalls… Ich glaube fest, dass die beiden ihre Gründe angeführt haben, weil sie ihre Anwesenheit an diesem Ort irgendwie erklären mussten, dass aber das, was sie als Grund angeführt haben, nichts mit ihrer allgemeinen Wut zu tun hatte. Meine Verwandte hatte nie Unzufriedenheit mit ihrer kleinen, aber bequemen Wohnung in einer guten Gegend gezeigt oder geäußert, ich glaube nicht, dass sie überhaupt bereit gewesen wäre, „ihr Haus“ zu verlassen und wegzugehen, um anderswo zu leben. Hat mein Freund wirklich geglaubt, er bleibe im Wettlauf mit seinem amerikanischen Kollegen wegen dieser Gebäude zurück? Es wäre, denke ich, sündhaft, seine Intelligenz derart zu unterschätzen.

Nach den Gesprächen mit meinen Bekannten in der wütenden Menge setzte ich meinen Nachhauseweg fort, traurig, weil sich die unermessliche psychische Energie, mit der ich konfrontiert war, über ein paar unschuldige Gebäude ergoss. Die Menschen tobten dort, weil sie diese Energie (freigesetzt durch das Gefühl von Unzufriedenheit, Wut, Angst, weiß Gott wovon) nicht mehr ertragen konnten und die damalige jugoslawische Gesellschaft unfähig war, diese gewaltige Energie zu kanalisieren und für die Erneuerung der Gesellschaft, ihren weiteren Aufbau, für die Durchführung unumgänglicher Reformen zu nutzen. Die Politiker nahmen die Ideale des Sozialismus nicht mehr ernst und suchten im Nationalismus eine neue Machtbasis für sich, die Intellektuellen schwankten zwischen Nationalismus und einem radikalen Individualismus, die Literatur zerfiel in einen traditionalistischen und einen globalistischen Zweig… Muss ich Dich darauf hinweisen, lieber Karl-Markus, wie stark all dies unserer heutigen EU gleicht?! Wut, die keinen Grund und keine Quelle hat, aber nicht mehr zu ertragen ist und hinausmuss. Protestbewegungen, die angesehene Philosophen, arbeitslose Straßenbahnfahrer, Rechtsanwälte und Zimmermädchen versammeln, sie aber nur um starke Gefühle gegen etwas versammeln (vorerst gegen Fremde, morgen vielleicht auch gegen ein Gebäude, die Leute finden immer etwas, woran sie ihre Wut auslassen können). Politiker, die die Ideale der bürgerlichen Demokratie und der EU nicht mehr ernstnehmen und sich dem Nationalismus und Provinzialismus zuwenden, in denen sie eine neue Machtbasis für sich suchen. Intellektuelle (verschiedene Experten), die nicht bereit oder fähig sind, ganz offensichtliche Fakten zu berücksichtigen. Eine Literatur, die ihren Blick verliebt auf ihre Tradition heftet und so sehr in sie eintaucht, dass sie Menschen, die nicht aus dieser Tradition hervorgegangen sind, kaum verständlich ist, oder sie ist total globalisiert, also oberflächlich, anonym, glatt und bequem wie die Cafés, über die wir unlängst mit bitterer Nostalgie gesprochen haben.

Nietzsche behauptete, Athen habe sich selbst im Theater betrachten, erfahren und wiedererkennen können, weil das Theater die Athener Gesellschaft integriert habe. Im Theater saßen Sokrates und der Läufer, der bei der Olympiade schlecht abgeschnitten hatte, der Waffenhändler und Perikles, Praxiteles und der Inhaber der Hafenkneipe nebeneinander und schauten sich die Vorstellung an, die von ihnen handelte. Ich glaube, einen ziemlich hohen Integrationsgrad erreichte die Gesellschaft in Köln während der Osterveranstaltungen zum Leiden Christi, an denen als Schauspieler und Ausstatter der Vorstellung alle städtischen Zünfte teilnahmen und als Zuschauer Albertus Magnus und der Metzger, der Bürgermeister und der Bettler nebeneinander standen. So wie heute auf Protestversammlungen in mancher europäischen Stadt der Universitätsprofessor und der Profiboxer, der entlassene Soldat und der Pianist, der begeisterte Ökologe und der Angestellte eines Atomkraftwerks nebeneinander stehen, gleichermaßen verbittert und gleichermaßen erfüllt von einer abstrakten Wut. Aber uns hat nicht das Theater versammelt, das uns helfen könnte, uns zu erkennen und wiederzuerkennen, uns hat nicht der Wunsch versammelt, einander kennenzulernen, noch das Bewusstsein, dass wir alle eine Gemeinschaft bilden, noch das Bedürfnis, zusammen etwas zu machen, noch… Zu einer hoch integrierten Gemeinschaft hat uns ein Überschuss an psychischer Energie zusammengeführt, hervorgebracht von unklaren Ängsten, einer Wut unbekannter Herkunft, aggressiven Regungen, die wir nicht abzureagieren verstehen und nirgends abreagieren können. Ach, gäbe es doch Verstand und Fähigkeit, um diese unermessliche Energie zu kanalisieren und auf die Erneuerung der Gesellschaft, das Solidaritätsgefühl zwischen den Menschen, auf etwas Kreatives zu richten! Ach, hätten wir aus dem Zerfall Jugoslawiens doch etwas gelernt!

Handelt es sich darum, dass wir nicht fähig sind, aus der Geschichte zu lernen? Oder darum, dass sich die Menschen, die ihre geistigen Inhalte präzise und komplett mit SMS-Botschaften ausdrücken, nur in negativen Programmen wiedererkennen können? Oder darum, dass die Menschen Befürchtungen, Ängste, Wut und Hass nicht vermeiden können, wenn sie gezwungen sind, in einer Welt zu leben, die für niemanden mehr ein Zuhause ist? Oder um etwas, das ich nicht einmal ahnen kann? Ich weiß es nicht, ich kann es natürlich nicht wissen, aber mit Sicherheit weiß ich, dass es schade ist, dass wir diese unermessliche Energie an die Wut auf etwas und jemanden verschwenden. Und ich weiß, dass ich Angst habe, ich empfinde eine geradezu panische Angst vor der Möglichkeit, dass unartikulierte emotionale Energie eine weitere Gemeinschaft auseinanderreißt, an der mir etwas liegt, so wie es schon einmal mit Jugoslawien geschehen ist.

Nur noch eine Anmerkung: brillant ist der Teil Deines Briefes über L’viv, die Bemerkungen über die emotionale Blockade der Menschen, über ihre Unfähigkeit, den Krieg, der unweit von ihnen tobt, empathisch zu erleben oder wenigstens zu erahnen. Mit meinen eigenen Erfahrungen kann ich Deine Schlüsse bestätigen. In Zagreb blies mir einen Tag, nachdem ich aus dem belagerten Sarajevo herausgekommen war, ein Dramatiker, ein langjähriger Freund, der viele Male in Sarajevo gewesen war, über eine Stunde lang die Ohren voll mit seiner Verbitterung und Wut über die Möglichkeit, seine Arbeit zu verlieren, ohne auch nur mit einem Wort meine Frau, die Qualen der Menschen in Sarajevo zu erwähnen, er fragte mich nicht, wie ich nach Sarajevo zurückzukehren gedächte… Als ich es nicht mehr ertragen konnte, rief ich den Kellner, um unsere Rechnungen zu begleichen, und er ließ es ruhig zu. Aber am wichtigsten ist, dass Deine Bemerkungen über die emotionale Lähmung der Menschen, denen es gut geht, die Überlegungen zur abstrakten Wut und Verbitterung derselben Menschen unmittelbar fortsetzen. Hast Du das beabsichtigt? Oder wollte es die Weisheit des Erzählens? Nach einer uns verborgenen Logik haben sich die Segmente Deines Erzählens in eine syntagmatische Reihe eingefügt, die am besten zeigt, wie stark sie sich gegenseitig ergänzen, erklären, kommentieren.

Ich kann nicht mehr, es gibt zu viel Angst, zu viele böse Ahnungen in allem, worüber wir heute sprechen. In der Hoffnung, dass ich mich irre, grüße ich Dich. Friede und das Gute, würden die bosnischen Franziskaner sagen.

Dževad

Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)

Lieber Dzevad,

heute kam ich von einem anstrengenden Termin in der Stadt nach Hause, habe mich aufs Sofa gesetzt, die Zeitung aufgeschlagen und nur mit halbem Ohr dem „Mittagsjournal“ zugehört, unserer einstündigen Nachrichtensendung im Radio. Mit einem Mal drang von ferne durch meine Schläfrigkeit eine Stimme, die auf unverwechselbare Weise und mit eindringlicher Modulation grüblerische Gedanken so formulierte, dass sich jeder, der sie vernahm, persönlich angesprochen fühlen musste. Kurz, ich geriet in das Gespräch, das Du mit einer Wiener Redakteurin über eine Tagung geführt hast, auf der es um die Frage ging: Kann die Literatur eine friedensstiftende Wirkung entfalten?

Ich weiß nicht, ob Du zu dieser Eindringlichkeit des Sprechens auch fähig gewesen wärst, wenn Du nur ein Mikrophon vor Dir gehabt und das große Hörerpublikum hättest imaginieren müssen, oder ob die eine Redakteurin, die so kluge Worte über Dich und Dein Werk gefunden hat, dazu auch körperlich anwesend sein musste. Wahrscheinlich nicht, denn alle Deine Bücher sind ja von diesem dialogischen Charakter geprägt, der Dir wie eingeboren scheint, und Du warst einmal so freundlich, auch mich als dialogischen Autor zu charakterisieren. Mich hat diese Charakterisierung zuerst verwundert, dann ermutigt, und ich habe sie, vermutlich wegen Deines Hinweises, auf einfachere Weise in dem Satz eines Lesers wiederentdecken können, der mir politisch und weltanschaulich ferne steht. Befragt, was er als konservativer Mann an mir schätze – an mir, der ich die soziale Frage nie in jenem Sinne zu stellen pflege, an der Konservative ihre Freude haben können -, antwortete er wie selbstverständlich: Es ist interessant für mich, wenn er Dinge sagt, die nicht meiner Meinung entsprechen! Ich war fast versucht, die Adresse des Herrn ausfindig zu machen, um ihm zu schreiben: „Vielen Dank, ich möchte Ihnen sagen, dass auch ich selbst mit mir nicht immer einer Meinung bin!“

Du hast mir so viele Hinweis in Deinem luziden Brief gegeben, der weniger analysiert, was in unseren Ländern, in ganz Europa und auf der halben Welt gerade geschieht, als dass er es in der präzisen Erzählung kleiner Vorgänge geradezu szenisch vergegenwärtigte. Natürlich ist Dein Brief auch traurig, traurig, dass sich die Dinge unter anderer Flagge zu wiederholen vermögen, dass aus dem Desaster oft so wenig gelernt wird und, noch ehe die Folgen des einen bewältigt, behoben sind, bereits das nächste vorbereitet wird (ja, vorbereitet, denn es kommt nicht über uns wie eine Naturkatastrophe, auch wenn wir das manchmal so empfinden mögen). Diese Traurigkeit, so angebracht sie ist, darf nicht Herr über uns werden, wie auch die sarkastische Freude über den schlechten Gang der Dinge nicht unser Metier ist. In dem Gespräch, das Du mit der Redakteurin geführt hast – es ist ein Gespräch gewesen und kein Interview, ich bezweifle, dass Du jemals ein Interview begonnen hast, aus dem kein Gespräch geworden wäre – , hast Du entschieden gegen das Lamento vom unausweichlichen Niedergang und wider die Selbstaufgabe der Künstler argumentiert. Du hast eben nicht beklagt, dass zu Zeiten der nationalistischen Mobilisierung die Literatur an Bedeutung verliere, sondern auf jener Kraft der Kunst beharrt, die ihr, vielleicht nur ihr, aber jedenfalls ihr ganz besonders eigen ist: die Kraft, die Panzerung der Ideologie aufzubrechen und die Menschen dazu zu bringen, nicht die Beute ihrer Obsessionen, ideologischen Zwangsvorstellungen, bequemen Wirklichkeitsverweigerung zu bleiben, sondern wieder sehend zu werden. Fähig zu sehen, dass die Wirklichkeit anders ist, als es der ideologische Versuch, sie zu verfälschen, zu ignorieren, schlichtweg abzuwerten, glauben ließe. Ist es nicht merkwürdig und großartig, dass ausgerechnet die Kunst, die im Rufe steht, es mit dem Phantastischen, Halluzinierten, Erfundenen zu halten, in gewissem Sinne der Wirklichkeit zu ihrem Recht verhelfen kann? Dass wir der Kunst also gerade bedürfen, um die Wirklichkeit neu zu entdecken?

Ich weiß nicht, ob Du die österreichische Schriftstellerin Christine Nöstlinger kennst, die hauptsächlich Kinderbücher geschrieben hat, denen Eltern und Kinder so viel Ermunterung, ausgelassene Freude, mit Witz und Phantasie bewirkte Überraschungen verdanken. Nun, diese Autorin, der ich persönlich nie begegnet bin, hat vor einigen Wochen ihren 80. Geburtstag gefeiert, und aus diesem Anlass waren etliche kluge, gänzlich unsentimentale Interviews von ihr zu lesen und zu hören. Worauf die außerordentlich erfolgreiche Autorin immer wieder zu sprechen kam, das hat mir sofort eingeleuchtet, aber mich auch im Innersten getroffen. Wiederholt sagte sie nämlich, dass sie nicht verbittert, aber traurig sei, und dies nicht etwa, weil sie natürlich wisse, dass die Tage, die ihr noch blieben, gezählt seien. Nein, die Traurigkeit ist die Grundstimmung ihrer späten Tage geworden, weil sie am Ende ihres Lebens, dessen Kindheit in die Ära des Nationalsozialismus fiel, sehen muss, dass sich heute nicht nur in ihrer Heimat Österreich die sozialen und politischen Dinge so entwickeln, wie sie es mit ihren Büchern, die keine vordergründigen politischen Botschaften verkünden, gerade verhindern wollte: dass stumpfer Hass – auf wen auch immer, er sucht sich seine wechselnden Objekte nach günstiger Gelegenheit -, die vernünftige Kritik an konkreten Missständen schlichtweg überbietet, übertrumpft, überbrüllt, und dass nicht das Gefühl für Gerechtigkeit gestärkt werde, das dem Menschen durchaus gegeben sei, sondern seine Rachsucht, blinde Wut, seine Neigung, anderen und sich selbst zu schaden. Und unendlich traurig mache es sie, dass sie nicht mehr sehen werde, wie das Pendel wieder in die andere Richtung zurück schwingt.

Sie ist 80, ich bin erst 62 – was heißt: erst? Als wir zwei uns kennenlernten, waren wir Ende dreißig! –, und doch stelle ich mir die beklemmende Frage, ob ich in meiner Lebenszeit, die ruhig noch ein wenig währen möge, den Umschlag des Pendels erleben werde? Leben wir womöglich nicht nur in einer Zeit, in der eben manches nicht so läuft, wie wir uns das wünschten, sondern am Beginn einer Epoche, die vom Menschen in seiner Verbitterung geprägt sein wird, wie Du ihn nennst? In einer Epoche, in der lauter Vereinzelte nur für sich und gegeneinander kämpfen, und es andrerseits einzig der Hass ist, der sie noch zu einer Gemeinschaft finden, eine Gemeinschaft bilden lässt, der Hass und die Bereitschaft, die Wirklichkeit zu negieren und der Lüge zu vertrauen?

Es ist doch die reine Selbsttäuschung, sich den Vormarsch der Nationalisten und ruchlosen politischen Unterhalter, denen ihre Fehltritte nicht übel genommen, sondern von ihren Anhängern geradezu gut geschrieben werden, immer nur damit zu erklären, dass es eben viele Verlierer der Globalisierung gebe; natürlich, die gibt es, aber in den USA nagen nicht fünfzig Prozent am Hungertuch, und erst recht in Österreich steht nicht die halbe Bevölkerung in Gefahr, aus allen sozialen Sicherheiten zu stürzen. Der Hass ist nicht die  verzweifelte Gegenwehr der echten Verlierer, auf deren Seite wir stehen müssen, sondern das Lebenselixier jener, die es sich in einem halluzinierten Opferstatus eingerichtet haben, weil sie für jedes Ungemach, das sie quält, dem „System“, der „Elite“, dem „Establishment“, aber wechselweise auch den Schmarotzern da unten, den Sozialhilfeempfängern, Wirtschaftsflüchtlingen, Asylanten die Schuld geben möchten. Da finden sich seltsame Koalitionen, als gäbe es keine Klassen und Schichten mehr, sondern nur noch den einen und gleichen Wutspießer, dessen Idol, übrigens, oft kein Spießer, sondern ein Exzentriker ist, der stellvertretend für sie lustvoll gegen Regeln und Konventionen verstößt. (Nebenbei: Ist der Exzentriker in Wahrheit nicht ein überspannter, in seiner Selbstdarstellung hemmungsloser Spießer?)

Der Unmut überschreitet die Klassenschranken und vereint Leute, die vorher nicht auf die Idee gekommen wären, etwas gemein zu haben, und er vereint sie zu einem Lynchmob auf Abruf, der das bloße Ansinnen, es mit vernünftiger Analyse zu versuchen, als Verhöhnung des Volkes in seiner gerechten Empörung empfindet und zurückweist. Es ist, wie ich das in Österreich beobachten konnte, übrigens immer dieselbe Schrittfolge: Zuerst werden soziale und zivilisatorische Errungenschaften lächerlich gemacht, hierauf jene, die für sie eintreten, als Spinner, Sozialromantiker, Gutmenschen verächtlich abgetan, und dann wird das, wofür diese nicht nur zu ihrem eigenen Wohle eintraten, gekappt.

Lieber Dzevad, es ist gut, Dich als Freund zu haben, auch wenn wir unsere Freundschaft viel zu selten mit einem Zusammensein feiern und erneuern können! Erinnerst Du Dich noch, als Du das erste Mal bei mir zuhause warst, mit Dragana, und mein Sohn Benjamin, damals acht oder neun Jahr alt, voller Begeisterung den Mundschenk gab, der begierig darauf wartete, uns wieder ein Glas Schnaps nachschenken zu dürfen? Und Milena, die heute als Asyljuristin arbeitet und vor ein paar Jahren in Deinem, nein, in unserem Sarajevo war, länger aufbleiben durfte als üblich und Dragana erklärte, wie aufregend es im Kindergarten ist?

Es ist paradox, aber selbst jene Berichte von Dir, die von deprimierenden Entwicklungen erzählen, haben etwas Ermutigendes für mich – wie mir die Literatur mein Leben lang die große Ermutigerin war -, werde ich durch sie doch an etwas erinnert, das ich lachhaft immer wieder zu vergessen drohe: dass ich nämlich nicht allein bin mit dem, was ich verfechte (was wir beide verfechten, ist oft sehr verschieden, aber am Ende doch dasselbe). Adorno hat in seiner bekanntesten Sentenz, die so oft gedankenlos wiederholt und von in die Misanthropie abgedankten Idealisten geradezu als Ausrede benutzt wird, dekretiert: „Es ist gibt kein wahres Leben im falschen.“ Wenn ich die Sache ruhig betrachte, so habe ich gerade das Gegenteil zu leben versucht und mein Glück auch darin gesehen, im falschen ein richtiges Leben führen zu wollen. Was hätten wir denn sonst tun sollen: auf die wahren Zeiten warten und uns bis dahin damit abfinden, dass sich vorher nichts Richtiges fügen wird?

In Deinem Radiogespräch hast Du heute den Predigern des Kapitalismus, deren Gebetsmühle unentwegt klappert, dass es den Menschen gut gehe, wenn es nur der Wirtschaft gut gehe, eine überaus originelle Wendung entgegengesetzt. Zu erwarten wäre gewesen, dass Du sagst: Millionen Menschen verarmen, obwohl die Wirtschaft floriert, schlimmer, sie verarmen, damit   es den Hooligans des Wohlstands noch besser gehe (rein finanziell gesehen, denn gut oder besser im emphatischen Sinne kann es ihnen dabei nicht gehen). Du hast aber, einer Kritik überdrüssig, für die es nicht Dich geben müsste, etwas ganz anderes gesagt, nämlich dass es Dir auch gut gehen könne, wenn es der Wirtschaft schlecht gehe, zum Beispiel, weil Du weißt, dass Deine Frau Dich liebt. Ja, darf das sein? Dürfen wir auch gegen die ökonomische und politische Entwicklung auf unserem Anspruch auf Glück und auf ein richtiges Leben beharren? Verfechten wir damit nicht das biedermeierliche Glück im stillen Winkel? Es ist wichtig und richtig, daran zu erinnern, dass wir wider alle äußeren Bedrängnisse das Leben lieben können und sollen. Ja, genau, das Leben lieben – und wem das pathetisch oder naiv vorkommt, der soll sich seine Vergrämung als Schutzmantel umhängen und einreden, dass er damit etwas gegen die Kälte in der Welt unternommen hat. Das Leben lieben, das klingt so einfach, und doch wird es uns von den religiösen Propagandisten der Freudlosigkeit, den politischen Hasspredigern der individuellen Bereicherung und den medialen Fundamentalisten der Spaßreligion, die auch auf Untergang setzen, wenn er nur gute Unterhaltung bietet, so heftig bestritten.

Mach´s gut, lieber Dzevad, und spucke, wenn Du ihn triffst, dem Teufel, diesem exzentrischen Spießer, mit einem Gruß von mir vor die Füße!

Herzlich,

Dein Karl-Markus