Zurück

Katharina Schultens Cristina Ali Farah

17. September 2017 – Brief nach Brüssel versendet (Schultens an Ali Farah)

Liebe Cristina,

ich habe Dir schon längst schreiben wollen – ich weiß, ich hätte das tun sollen, und ich bin sehr froh, dass Du zugesagt hast, an diesem Projekt teilzunehmen. Ich  hoffe, Du willst es noch immer wollen, obwohl ich nicht früher geschrieben habe. Abgesehen davon, dass ich seit dem frühen Sommer in viel zu viel Arbeit untergegangen bin – keine Entschuldigung, ich weiß –, habe ich vor einer Weile erfahren, dass der Übersetzer, den sie hatten (Deutsch-Italienisch), gekündigt hat. Ich hatte mich darauf gefreut, Dir auf Deutsch zu schreiben, es hätte sich besser angefühlt, weil es meine Sprache für Poesie und Freunde und Gedanken ist, und deshalb war ich etwas enttäuscht, auf Englisch schreiben zu müssen. Obwohl ich Englisch täglich bei der Arbeit benutze. Englisch ist die Sprache, die ich in einem sehr spezifischen Kontext spreche; Englisch ist auch die Sprache, in der ich die meisten Nachrichten lese, diese beunruhigenden und traurigen Nachrichten …, ja, es war eine Hürde, dass ich Dir auf Englisch schreiben muss. Trotzdem  passt  Englisch.  Ich  bin  gestern  in  Los  Angeles  angekommen und sitze an einem alten Schreibtisch in Lion Feuchtwangers Haus in Pacific Palisades, der angeblich Franz Werfel hat sterben sehen. Während ich weder Feuchtwanger  noch  Werfel  in  ausreichendem  Maße  gelesen  habe,  um  diese Tatsachen angemessen zu würdigen, schätze ich durchaus den Luxus, in einem Haus mit Blick auf den Pazifik zu wohnen. Das Haus heißt jetzt Villa Aurora und beherbergt eine deutsche Künstlerresidenz und ein Stipendienprogramm. Es wäre schön, wenn ich die üblichen drei Monate bleiben könnte, aber ich bin nur zwei Wochen mit meinem Freund hier, Alexander Gumz. (Er ist auch Lyriker. Wir sind beim selben Verlag, und unsere nächsten Gedichtbände sollten eigentlich nächstes Jahr zur selben Zeit erscheinen … aber während er etwa 250 Gedichte hat und nur auswählen muss, habe ich im Moment 50, von denen ich 40 nicht mag.) Ich schreibe immer Gedichte und habe fast nie Prosa geschrieben, aber seit 2015 habe ich für zwei Buchprojekte Prosatexte verfasst, einen poetologischen Essay über Geld und Poetik und eine persönliche Annäherung an Marina  Zwetajewa. Beide Texte haben mich einiges gekostet – es war schwer, danach wieder in Gedichten zu denken. Das ist auch ein Grund, warum ich mich gleichzeitig gefreut und auch etwas Bedenken hatte, als es darum ging, Dir zu schreiben – ich habe immer gern Briefe geschrieben, aber ich weiß noch nicht, wie es meine Gedichte beeinflussen  wird.  In  Zeiten,  in  denen  ich  überhaupt  keine  Briefe  schreiben konnte, war Lyrik immer ein verlässliches Ventil. Wie auch immer, ich hoffe, Du willst immer noch schreiben, und ich wollte etwas vorschlagen, über das ich während des ganzen langen Sommers nachgedacht habe. Tatsächlich bin ich seit 16 Jahren ziemlich besessen von der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Alle vier Jahre lasse ich mich völlig davon absorbieren, ich lese alles an Nachrichten und Stellungnahmen, was ich zur Wahl finden kann. Jetzt bin ich hier in dieser entscheidenden Zeit, direkt vor der Wahl, und dieser »orange moron«, der orange Idiot, wie sie ihn so treffend nennen, scheint erstmals einen Vorsprung vor Clinton zu bekommen. Der Gedanke, dass dieser Haarmopp ohne Verstand drunter das mächtigste Amt der Welt füllen könnte … weckt eine Angst, die nur vergleichbar ist mit der, die ich vor Putin in Russland, Orban in Ungarn, Le Pen in Frankreich, Wilders in den Niederlanden und dem neuen Nationalismus in Polen und an so vielen anderen Orten habe. Ich finde es empörend, ich finde diese Leute empörend. Aber darüber hinaus beunruhigen mich auch zunehmend manche Tendenzen in populistischen Bewegungen der Linken, die manchmal Stimmen gewinnen, die vorher an rechte Nationalisten gegangen sind (denk an Eribons Kritik an Podemos in Spanien, Beppo Grillo in Italien, die Überschneidungen in den Wählerpotenzialen von Sanders und Trump) und die ein ganz anderes, aber ähnliches »wir gegen die« verkünden – »die« wären also etwa europäische Institutionen, die ausschließlich als  Unterstützer  einer  gefährlichen  kapitalistischen  Agenda  wahrgenommen werden. Widerstand gegen diese Institutionen ist verständlich und nicht verkehrt, siehe TTIP und CETA oder die Tatsache, dass nichts gegen Monsanto etc. unternommen wird, ganz zu schweigen davon, wie man die Flüchtlinge elend im Stich gelassen und die Menschen in Syrien sterben lässt. Trotzdem glaube ich, nur diese europäischen Institutionen können uns noch davor bewahren, dass

zu viele europäische Länder in eine rein nationalistische Agenda zurückfallen. Ich glaube wirklich, dass man den europäischen Gedanken retten und erneuern kann, dass wir das Gefühl einer europäischen Gemeinschaft stärken und uns vor der amerikanischen Version des Kapitalismus retten können, vielleicht kann man durch das Pariser Abkommen sogar etwas gegen den Klimawandel tun; und dennoch fürchte ich, wir schaffen es nicht. Also  mache  ich  mir  schreckliche  Sorgen,  wenn  ich  überall  Vollidioten  auf dem Vormarsch und vernünftige Menschen in der Defensive sehe – und Leute mit  wirklich  guten  Ideen  (d. h.  die  Linke)  aufgrund  ihrer  nachvollziehbaren Abneigung dem amerikanischen Hyperkapitalismus gegenüber teilweise eine schwierige Art der Rückbesinnung fördern. Ich dachte also, ich würde gern mit Dir über das alles reden. Ich würde gern Deine Gedanken und Deine Stimme hören. Ich habe 2003 ein Jahr in Italien gelebt und bin dieses Frühjahr zum ersten Mal wieder nach Süditalien gereist, und ich liebe es, dieses Land überhaupt nicht zu verstehen. Es ist mir immer ein Rätsel geblieben. Es wäre mir lieb, Deine Perspektive auf das in vielerlei Hinsicht wirklich einzigartige Italien kennenzulernen. Es wäre mir lieb, Deine italienische Perspektive auf Europa zu verstehen. Ich werde Dir gern von hier zu schreiben versuchen, über die amerikanische Wahl und die besorgniserregenden Ähnlichkeiten oder besser die aufkommenden Analogien in der politischen Kommunikation und darüber, wie Europa hier wahrgenommen wird (wird es das überhaupt?). Ich bin bis zum 2. Oktober hier und werde ab übermorgen reisen. Wir fahren in die Wüste, dann hinter der Sierra hoch, durch den Yosemite-Nationalpark und an der Küste entlang wieder zurück. Es sind 2000 Meilen, und es wird wahrscheinlich ziemlich anstrengend, aber ich freue mich sehr. Ich werde versuchen, im kalifornischen Hinterland Lokalzeitungen zu kaufen, um ein wenig von den Ansichten der Leute hier mitzubekommen (das Hinterland ist sehr konservativ und überhaupt nicht liberal wie zum Beispiel Los Angeles oder San Francisco, soweit ich weiß). Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, dass ich nicht eher geschrieben habe. Und ich hoffe, Du willst unseren Briefwechsel noch machen und hast Zeit dafür. Bitte lass mich wissen, was Du denkst. Meine besten Wünsche an Dich (Wo bist Du gerade? Wie war Dein Besuch in Somalia zum ersten Mal nach so langer Zeit?)

Katharina

Aus dem Englischen von Inka Marter

12. Oktober 2016 – Brief nach Berlin versendet (Ali Farah an Schultens)

Liebe Katharina,

ich möchte dir noch einmal dafür danken, dass Du mich in dieses Projekt einbezogen hast: genau wie Du liebe ich nämlich das Briefeschreiben, und selbst wenn sie in der heutigen Zeit meist durch schnellere Formen der Kommunikation ersetzt werden, widme ich meinen Mitteilungen immer viel Zeit.

Deine Enttäuschung darüber, mir nicht auf Deutsch schreiben zu können, kann ich gut verstehen, obwohl die englische Sprache ja eine entscheidende Rolle in Deinem Alltag spielt. Sich im Gewirr der Sprachen zurechtzufinden ist eine wertvolle Erfahrung, die wir den Lebensumständen verdanken; dennoch stelle ich fest, dass wir uns letztendlich bei der Sprache, die wir beim Schreiben verwenden,  unserem Arbeitswerkzeug, am Sichersten fühlen.

Ich weiß noch, dass mir damals, als ich Anfang der neunziger Jahre nach Italien kam und mir die Welt um mich herum fremd und mitunter sogar bedrohlich erschien, gerade die Sprache, die ich in der Schule und von meiner Mutter gelernt hatte, zu jenem Fundament wurde, auf dem ich Stück für Stück alles neu aufbauen konnte. Beim Schreiben hat mir dann das gelegentliche Vermischen von Somali und Italienisch, also der Versuch, meine beiden sprachlichen Identitäten zu vereinigen, ermöglicht, ein Universum aus Bedeutungen und Verbindungen wiederherzustellen, von dem ich gefürchtet hatte, es wäre durch den Krieg verloren gegangen.

In solch einem kosmopolitischen Umfeld zu arbeiten, muss für dich wirklich sehr anregend sein.

Ich würde mich sehr darüber freuen zu erfahren, auf welche Weise sich deine beiden Arbeitswelten überschneiden, die Poesie und die Universität, und da ich ja leider kein Deutsch spreche, würde ich mich vor allem darüber freuen, dein Werk zu lesen: ich nehme an, dass es auf Englisch übersetzt wurde, stimmt das?

Es ist schön, dass Du mir das erste Mal vom Meer aus geschrieben hast. Ich habe den Pazifik zwar noch nie gesehen, aber ich habe die ersten achtzehn Jahre meines Lebens in Mogadischu verbracht. Der Pazifische Ozean, das Strandgut, das je nach Jahreszeit an Land gespült wird, haben einen unauslöschlichen Eindruck in meiner Erinnerung hinterlassen. Obwohl ich jetzt mehr am Mittelmeer bin und nicht am Ozean, hat das Meer nach wie vor eine unendlich wohltuende Wirkung auf mich.

Ich teile Deine Ansicht, dass es extrem schwer ist, die poetische Sprache mit der erzählerischen in Einklang zu bringen. Als ich Mogadischu verließ, war ich nicht einmal achtzehn Jahre alt, und mein erster Sohn ist gerade in den Tagen auf die Welt gekommen, als die Unruhen ausgebrochen sind. Viele Jahre lang konnte ich über das, was passiert war, weder schreiben noch sprechen. Ich fand nicht die richtigen Worte und schämte mich irgendwie sogar dafür, dass meine Erfahrungen so anders waren als die der meisten Mädchen in meinem Alter und der anderen Leute um mich herum. Ich fürchtete, dass meine Geschichten zu fremd, zu direkt, zu verstörend für sie sein würden. Viele Jahre nach meiner Ankunft in Italien bin ich nach Holland gereist, um meinen Vater sowie viele Freunde und Verwandte zu treffen, die ich seit langem nicht gesehen hatte und die alle in der selben Stadt wohnten: Zeist, in der Provinz Utrecht (in jenen Jahren nahm Holland viele somalische Kriegsflüchtlinge auf).

Mein Besuch dauerte nicht länger als eine Woche, aber er bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt oder gar ein Neubeginn für mich. Als ich zurückkam, fing ich an zu schreiben, als ob ich nie aufgehört hätte, fast ausschließlich in Versen. Die knappe, kryptische und trockene Sprache der Poesie schien mir die geeignetste Sprache für mich. Ich wollte von der Diaspora erzählen, von den tausend Geschichten, die ich gehört hatte und die meiner ähnelten, ich wollte die wesentlichen Worte finden. Leider zwangen mich die Umstände dann dazu, die Lyrik aufzugeben, zugunsten der Arbeit an  zwei Romanen. Ich glaube heute noch, dass sie die Ausdrucksform ist, die mir am meisten liegt, aber es gelingt mir einfach nicht, mich beiden gleichzeitig zu widmen.

Du wirst mir von Deiner Reise erzählen und von Deinen Eindrücken zu den Wahlen in den USA. Ich war schon immer allergisch gegen Politik, vielleicht weil mich die Banalität und die Heuchelei, die sie mit sich bringt, abstößt, vielleicht auch, weil ich mich immer wundere über die Leute, die der Demagogie dieser monströsen Witzfiguren tatsächlich auf den Leim gehen. Ich habe mir die erste Fernsehdebatte zwischen Trump und Clinton angesehen und war entsetzt. Dabei ist mir klar, dass man so etwas nicht einfach ignorieren kann, und dass bloßer Zynismus keine Lösung ist.

Vor einigen Tagen habe ich einen sehr interessanten Artikel über das „Phänomen Grillo“ gelesen (Beppe Grillo ist ein früherer Komiker, der heute die „Fünf-Sterne-Bewegung“ anführt, eine Partei, die bei den letzten Wahlen triumphiert hat). Es ist die Analyse eines Psychotherapeuten, der behauptet, dass Grillo sich durch die besessene Suche nach Reinheit auszeichnet, die typisch ist für Jugendliche und den Grundstein jeglicher Form von Totalitarismus bildet. Der totalitäre und anarchistische Führer proklamiert seine absolute Andersartigkeit gegenüber den Unreinen, also jenen, die dem System angehören, den Institutionen und den Medien, und begründet somit einen demagogischen Kult, in dem es keinen Platz mehr für Meinungsfreiheit und individuelle Subjektivität gibt. Die Geschichte ist voll von abschreckenden Beispielen und Erinnerungen. Warum fallen die Leute immer wieder auf dieselben Tricks rein? Diese verrückten Demagogen appellieren an die düstersten und primitivsten Gefühle, sie ersticken die Empathie, die für uns Menschen doch den höchsten Stellenwert haben sollte.

Ich bin sehr gespannt auf Deine Eindrücke von Italien: wo bist Du in diesem Sommer gewesen? Bevor ich nach Rom zog, habe ich drei Jahre lang in Verona gelebt, der Geburtsstadt meiner Mutter. Bologna mag ich besonders gern, weil es die Stadt „auf halber Strecke“ war, in der ich mich  immer mit meinem Freund getroffen habe, deshalb hat sie für mich immer noch diese romantische Aura. Später sind wir nach Rom gezogen, wo wir fünfzehn Jahre lang zusammen lebten, bis wir dann weiter nach Brüssel gezogen sind. Italien ist sehr vielfältig, komplex, und von geradezu überwältigender Schönheit, doch in den letzten Jahren ist die Stimmung sehr drückend geworden, vor allem für junge Leute. Nächste Woche fahre ich nach Palermo, zum Festival der Migrantenliteratur, ich werde Dir dann genau erzählen, wie es war. Wie Du Dir vielleicht denken kannst, ist Migration zurzeit das zentrale Thema aller kulturellen und politischen Debatten in Italien, doch frustrierender Weise werden seit zwanzig Jahren dieselben Phrasen wiederholt, ohne dass es jemals zu wirklichen Fortschritten kommen würde. Es ist ein komisches Gefühl für mich, im Ausland die Berichterstattung über Italien zu lesen, in dieser Stadt im Mittelpunkt Europas. Nicht, dass Belgien oder Brüssel weniger komplex wären: die Geschichte der Attentate im letzen Jahr war, trotz aller Tragik, geradezu grotesk.

Diesen Sommer, bevor ich nach Somalia gereist bin, habe ich einige Tage in Molenbeek verbracht. Ich hatte davor keine Gelegenheit dazu gehabt. Brüssel ist in sogenannte communes aufgeteilt, die mehr oder weniger unabhängig voneinander sind. Ich lebe in der commune d’Ixelles, in der Nähe eines sehr schönen Viertels, das Matonge heißt und der Mittelpunkt der örtlichen afrikanischen Gemeinde ist. Molenbeek ist eine Insel für sich, in gewisser Weise durchaus faszinierend. Der Hauptgrund für mich, dorthin zu fahren, war, passende Kleider für meine Reise zu kaufen. Weißt Du, während der Diaspora hatte ich von vielen Seiten gehört, dass jetzt alles anders ist, als ich es in Erinnerung hatte: die arabischen Länder haben das Leben im Horn von Afrika massiv verändert und eine sehr radikale Form des Islams eingeführt. Als ich jung war, hatte man sich in Somalia an bestimmte Regeln zu halten, man durfte gewiss nicht mit Miniröcken oder ärmellosen T-Shirts herumlaufen, aber man wurde nicht schief angesehen, wenn man die Haare offen trug, und in jedem Fall trug man weite und farbenfrohe Kleidung. Trotz meiner „guten“ Vorsätze habe ist es mir nicht gelungen,  irgendetwas in Molenbeek zu kaufen. Alles war zu schwarz, zu streng: eine Negierung der Schönheit.

In den zwei Wochen vor der Reise habe ich kaum geschlafen, Du kannst Dir vielleicht vorstellen. wie aufgeregt ich war. Es war eine Rückkehr, aber nur teilweise, weil ich noch nie im Norden gewesen war, wo mein Vater herkommt. Es ist kein Zufall, dass ich offiziell ausgerechnet zur Garowe Book Fair eingeladen wurde, in der Region Puntland. Nach dem Bürgerkrieg wurden alle Einwohner  gezwungen, in ihre Ursprungsgebiete zurückzukehren, und Mogadischu, eine Stadt mit heterogener Bevölkerung, ist nach wie vor extrem gefährlich.

Garowe ist im Gegensatz dazu relativ sicher. Vor allem abends gibt es Polizeisperren, die verhindern,  dass Kriminelle in die Stadt kommen, aber man darf sich frei bewegen. Man verbringt viel Zeit draußen, trinkt Säfte und Tee, ein typisch mediterraner Lebensstil! Ein somalischer Freund, der nach vielen Jahren aus den USA zurückkehrt war, hatte mir die Gegend so beschrieben: „Denk einfach an eine reaktionäre Kleinstadt im Mittleren Westen Amerikas“. Ich kenne die Vereinigten Staaten zwar nicht besonders gut, aber ich denke, ich kann mir vorstellen, was er damit meinte.

Obwohl die meisten Frauen (und vor allem junge Mädchen) die Purdah trugen, habe ich einen Kompromiss gefunden. Das verdanke ich vor allem den Ermutigungen einer befreundeten Feministin, die nach vielen Jahren in Europa nach Somalia zurückgekehrt war, um dort als Richterin zu arbeiten. Der springende Punkt ihrer Argumentation war: „Welches Signal senden wir den jungen Mädchen, die meinen, keine Wahl zu haben, wenn selbst wir, emanzipierte Intellektuelle, uns dieser Form von Erpressung beugen?“ Es handelt sich um ein komplexes Problem, aber ich habe eine ziemlich klare Haltung dazu. Ich verstehe die Forderung der muslimischen Frauen im Westen nach der Freiheit, sich zu verschleiern, ohne dafür diskriminiert zu werden. Aber dennoch kann ich nicht umhin, die Purdah als eine Form der Unterdrückung zu sehen. Vielleicht willst Du mir auch Deine Meinung dazu schreiben.

Der unterdrückenden Kleidung gelang es jedoch nicht, die Farbigkeit zu ersticken: Dächer, Tore, Wände, selbst Lkws und Autos waren eine Symphonie aus Malerei und Licht. Und außerhalb der Stadt, in  der Savanne, sah man oft Wirbelwinde, die in den Himmel stiegen: ein Junge sagte mir, dass der Wind sich wie ein Rad in die Erde bohrt und dort nach Wasserquellen für die Menschen sucht.

Einen ganz lieben Gruß an Dich, Du Reisende. Ich kann es kaum erwarten, Deine Erzählungen zu lesen.

Ubah Cristina

Aus dem Italienischen von Viktoria v. Schirach

Brief nach Berlin versendet (Ali Farah an Schultens)

Liebe Katharina,

ich freue mich so über Deinen Brief! Er hat eine murmuration von Bildern in mir ausgelöst. Vielleicht schaffe ich es nicht, Ordnung in die Worte zu bringen, aber ich bin mir sicher, dass sie Gestalt annehmen werden.

Ich beginne mit den Stimmen. Du sagst, du willst Stimmen hören. Du musst wissen: als ich anfing zu schreiben, drehte sich alles um das Thema Immigration (Italien war mit einem Mal ein Einwanderungsland geworden, nach einer langen Geschichte als Auswandererland), und so wurde ich, obwohl Italienisch meine Muttersprache ist, immer automatisch den so genannten „Migranten“ zugeordnet. Ob Festivals, Buchpräsentationen oder Podiumsdiskussionen, es gelang mir nur selten, mich diesem Etikett zu entziehen.

Zweifellos hat jeder von uns seine individuelle Geschichte, und doch konfrontierte ich mich durch eine Reihe von Umständen anfangs eher mit Kollegen wie Pap Khouma als mit den italienischen Schriftstellern meiner Generation. In der öffentlichen Literaturszene herrschte eine Art Snobismus, der suggerierte, dass wir zwar gute Geschichten zu erzählen hatten, aber nicht über adäquate literarische Fähigkeiten verfügten. Dieses Vorurteil ist übrigens immer noch im Umlauf. Wenn ich gebeten werde, mich zu äußern, ist es fast immer unter dem Etikett „Migrantenliteratur“, und obwohl dieses mittlerweile jede Bedeutung verloren hat, will ich es auch nicht ganz ablegen, denn schließlich waren das die Autoren, mit denen ich zumindest in dieser Anfangsphase diskutiert habe, an denen ich mich gemessen habe, in deren ich Gesellschaft ich meine Sprache und meine Poetik geschmiedet habe. Sicherlich wäre ich heute eine Andere, was meine Beziehung zur Sprache und zu meiner Generation angeht, wenn mein erstes literarisches Umfeld nicht vom Thema Exil geprägt gewesen wäre. Wie Du sagst: Stimmen hören, aber ich will auch dafür sorgen, dass diese Stimmen zu allen und für alle sprechen, dass sie nicht von ästhetischen Zwängen eingeengt werden oder behindert durch die Angst, zu tief zu schürfen.

Bei einer Unterhaltung hat einmal eine befreundete Literaturkritikerin etwas gesagt, was ebenso einfach wie überzeugend ist: „Manche Leute haben etwas zu erzählen, andere können schreiben, und manche vereinen beides in sich. Das sind die echten Künstler.“  Mir ist es ein Rätsel, warum das Vorurteil sich so hartnäckig hält, dass Authentizität und Intimität nicht mehr zeitgemäß seien. Tatsächlich wurden die bedeutendsten Kunstwerke der Literatur in Phasen des Umbruchs geschrieben; auch Italien orientiert sich immer noch an der Generation des Zweiten Weltkriegs, als Pavese von der Notwendigkeit des Erzählens sprach. Pasolini, Moravia, Morante – die Literaturszene Italiens will sich nicht trennen von diesen sperrigen Riesen, auf die sie weiterhin Bezug nimmt in einer solipsistischen Nabelschau.  Dabei ist seither so viel passiert, passiert so vieles, was es zu wissen, zu vertiefen, zu verarbeiten gilt. Wir reden über Trump, aber erinnern wir uns auch daran, dass Italien sich seit Jahrzehnten nicht von dem Gespenst Berlusconi lösen kann? Alles erscheint so faul und korrupt, als sei jegliches ethisches und ziviles Bewusstsein verlorengegangen. So liegt z.B. der Umstand, dass es in einer Region wie Sizilien keine Attentate mehr gibt, leider nicht etwa daran, dass die Mafia etwa besiegt worden sei, sondern dass sie mittlerweile zum System gehört und es deshalb nicht mehr nötig hat, ihre Gegner aus dem Weg zu räumen.

 

Wenn Du mir von der Geburt Deines Kindes erzählst, von der Trennung und vom Verlust Deines Vaters, dann erkenne ich trotz der Verschiedenheit unserer Erfahrungen ein Band, das uns ganz klar verbindet: die Intensität, mit der wir den Schmerz verarbeiten, variiert nicht durch die Umstände.

Mutter zu werden ist ein so relevantes Ereignis, dass man gar nicht anders kann, als sich in den anderen wiederzuerkennen, ganz gleich unter welchen Umständen. Es gibt immer wieder Anlässe, sich darüber mit anderen Müttern auszutauschen (am liebsten, wenn alle im Bett sind! Wer weiß, warum die Nacht mit ihrer Stille und Atemporalität immer der beste Moment für Geständnisse und Vertraulichkeiten ist).

Der einzige Unterschied ist vielleicht der, dass ich nicht weiß, was es heißt, eine erwachsene Frau zu sein, ich meine, ohne durch die Beziehung zu einem Kind definiert zu werden. Ich bin überzeugt, dass die Aufgabe, mich um ein Kind zu kümmern, das nur von mir abhängig war, mir Selbstbewusstsein gegeben hat in allen Lebensumständen, in denen ich mich wiederfand, dass mich das mein Anker war. Mein ganzes Erwachsenenleben lang war ich Mutter. Ich habe erlebt, wie es war, sich vollkommen allein um ein Kind zu kümmern, und wie unterschiedlich, dasselbe zehn Jahre später, als Dreißigjährige, innerhalb einer Struktur zu tun. Manchmal erschrecke ich bei dem Gedanken, dass mir diese alltäglichen Abläufe und Gewohnheiten abhanden kommen könnten, die mich all die Jahre hindurch, wo immer ich mich befand, in Bewegung gehalten haben. Ich würde mich verloren fühlen.  Erst jetzt, wo die Kinder langsam groß werden (ich habe nach dem ersten noch zwei bekommen), wo sich die physische Beschäftigung mit ihnen immer mehr reduziert, ahne ich, was es bedeutet, ein Individuum zu sein, separat von den anderen.

 

Dein Reisebericht aus Kalifornien hat mir sehr gut gefallen. Ich möchte eine Überlegung zu geographischen Orten mit Dir teilen. Als seine kleinen Geschwister geboren wurden, war mein Ältester gerade an der Schwelle zur Pubertät. Ich war vollkommen absorbiert von den Babys und konnte ihm nicht die Aufmerksamkeit widmen, die er gewohnt war. Damals begann er sehr entschieden den Wunsch zu äußern, seinen Vater besser kennenzulernen, der vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert war. Seitdem hat er mehrere sehr ausgedehnte, manchmal für ihn erschöpfende Reisen unternommen. Als er mit der Schule fertig war, wollte er längere Zeit in Calgary  verbringen. Ich willigte ein, denn er war ja mittlerweile erwachsen; in meinen Augen war es eine wichtige Begegnung. Doch die Dinge verliefen nicht nach Plan, und irgendwann hörte ich gar nichts mehr von ihm. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und beschloss, ihn zu suchen. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass er Kanada mit einem Bus durchqueren wollte, bis nach Toronto. Als ich Ende Herbst an der Westküste ankam, tobte dort gerade ein schrecklicher Orkan. Obwohl ich nahe Verwandte in der Stadt hatte, verbrachte ich die ersten Nächte in einem Hotel, um ihn allein treffen zu können. Er tauchte tatsächlich auf, aber er war nicht in versöhnlicher Stimmung. Er sagte, er habe alle seine Sachen in Calgary zurückgelassen, und da er nicht vorhabe, seinen Vater jemals wieder zu sehen, sei der einzige Gefallen, den ich ihm tun könne, der, meinen Flug nach Alberta zu stornieren und stattdessen seine Sachen zu holen. Danach verschwand er wieder. Die Wetterbedingungen waren so extrem, dass meine an sich schon erschütterte seelische Verfassung durch ihre Gewalt noch schlimmer wurde. Ich reiste nach Edmonton und bat dort einen Cousin, der mir sehr nahe steht, mir zu helfen, die Habseligkeiten meines Sohnes zusammenzusuchen. Im Strudel der Ereignisse kam mir auf einmal die Eingebung, ich könne doch, um mich abzulenken, mich auch einmal umschauen, jetzt wo ich doch schon in einem anderen Land war. Ich hatte gelesen, dass es im Zentrum ein großes Gewächshaus in Form einer Pyramide gab. Ich bat meinen Cousin, mich zu dorthin zu bringen (die Entfernungen in Kanada sind immens, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, mit riesigen leeren Flächen). Er meinte: „Wozu willst du ein Gewächshaus sehen?“ Ich wusste erst nicht, was ich erwidern sollte. Meine Antworten wären Binsenweisheiten gewesen, so etwas wie „Ich bin einem fremden Land, und auch wenn ich nicht als Tourist hier bin, würde ich es gut finden, etwas Neues zu sehen.“ Nach kurzem Überlegen antwortete ich mit einer Gegenfrage: „Angenommen, du würdest eine Reise machen; gäbe es da nichts, was du sehen wolltest?“ „Mir liegt nichts daran, etwas zu besichtigen“, erwiderte er, „sondern nur an Begegnungen. Ich würde nur deshalb reisen, um Menschen wiederzusehen, Menschen wie dich, mit der ich früher so viel zusammen war.“

Dann mussten wir tanken, an einem dieser riesigen, leeren Plätze; auf einen Seite ein Tim Horton und daneben eine Ansammlung beliebiger Geschäfte. Und bis heute habe ich das Bild meines Cousins vor Augen, der mir sagt: „Ubah, was willst du in Europa, komm her, hier gibt es alles, hier sind wir alle.“ Während er das sagte, breitete er die Arme aus, und seine riesige Silhouette, die sich gegen den rosa Himmel abzeichnete, erschien mir gleichzeitig heroisch und dramatisch. War das so? Wer einmal seine Heimat verliert, für den sind alle anderen Orte gleich viel wert?

Ich habe lange darüber nachgedacht, über diese mobile und zugleich so melancholische Wahrnehmung des Raums, und mir ist bewusst geworden, dass ich selbst mir – ohne es zu wollen – an jedem neuen Ort eine Frage stelle, die für jeden Sesshaften extrem und unverständlich ist: Könnte ich hier wohnen? Würde es mir hier gefallen? Und zugleich suche ich in jedem Winkel, in jedem Detail auch immer einen Hinweis, eine Duftspur von jener ersten Heimat.

Eine meiner Studentinnen hat einmal bei einem Treffen mit amerikanischen Studenten gesagt, dass Italien von der Geschichte vergiftet ist, dass der Grund, weshalb es dort so schwierig ist, die neuen Migrationswellen aufzunehmen, in der Last der Vergangenheit liegt, die auch den jüngeren Generationen den Glauben in die Zukunft genommen hat.

Ob sie das heute noch sagen würde? Es ist unglaublich, wie die palästinensische Künstlerin Emily Jacir immer wieder darauf hinweist, dass das von Trump verhängte Einwanderungsverbot genau die muslimischen  Länder betrifft, die von den USA und ihren Alliierten  bombardiert wurden, und zwar Irak, Libyen, Syrien, Jemen und Somalia. Auch die Tatsache, dass ausgerechnet die Länder, in denen es kaum Ureinwohner gibt, am chauvinistischsten sind, ist bestürzend. Ich denke dabei etwa an Australien, wo ich letzten November war (unglaublich, auch für mich war 2016 ein Jahr der großen Reisen! Ich sehe immer noch das gleißende Licht und den Himmel vor mir mit den Sternen am Horizont.)

 

Und wenn wir schon über Nationalismus reden, fällt mir der zivile schottische Nationalismus ein, eine Ideologie, die im Gegensatz zum exklusiven Nationalismus alle miteinschließt, die sich auf einem bestimmten Gebiet befinden, so wie man es ursprünglich auch in einigen postkolonialen Staaten versucht hatte. Während sich der ethnische und fremdenfeindliche Nationalismus überall ausbreitet, versucht der zivile Nationalismus Identität und Gebiet miteinander zu verbinden. In diesem Zusammenhang fällt mir ein wunderschönes Bild ein, das mir Colm McNaughton gezeigt hat, ein australischer Rundfunkdokumentarist aus Melbourne. Wir diskutierten stundenlang sowohl über die Geschichte der Aborigines als auch über seine nordirischen Wurzeln. Ich kann hier nicht  auf die vielen interessanten Gedanken eingehen, die bei diesem Gespräch zur Sprache kamen, aber eines der Hauptthemen war, dass die Gewalt der Geschichte zweifellos die Menschheit grundlegend geprägt hat, und dass wir das nie vergessen dürfen, wenn wir uns weiterentwickeln wollen, im Sinne von die Geschichte überwinden.

Das Bild ist ein Gemälde von Sydney Nolan, das Ned Kelly gewidmet ist: http://nga.gov.au/Nolan/index.cfm

Ned Kelly ist eine Art romantischer Held, ein Unterdrückter, der sich nicht von den Mächtigen beugen lässt und deshalb auch von den Aborigines als Künstler verehrt wird. Auf diesem Gemälde trägt er eine Rüstung, mit der er angeblich gegen Hundertschaften bis an die Zähne bewaffneter Soldaten gekämpft haben soll. Durch das Visier seines Helms sieht man den Himmel, Mann und Pferd bilden eine Einheit: der Held verschmilzt mit der Landschaft, die ihn umgibt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er ein Teil davon ist.

Ich wünschte mir, dass wir Frauen und Männer von heute uns so verstehen könnten: harmonisch durchdrungen von dem umgebenden Raum, den wir überallhin mitnehmen können, weil er ein Teil von uns ist.

In freudiger Erwartung deiner Antwort schicke ich dir einen lieben Gruß aus Brüssel.
Ubah Cristina

Aus dem Italienischen von Viktoria v. Schirach