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Martin Pollack Yevgenia (Zhenia) Belorusets

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin!

Als Erstes möchte ich mich für die Einladung bedanken, mit Dir im Briefwechsel zu sein. Obwohl wir uns schon einige Briefe geschrieben haben, ist es etwas anderes. Es ist nicht nur ein Brief zu Dir, eine private Erzählung, sondern gleichzeitig auch etwas Offenes, das für andere Leser bestimmt ist.

Bedeutet es in diesem Fall, dass die Intimität als eine Dekoration für die öffentliche Rede funktioniert, oder, was mich eher anspricht, dass die Grenze zwischen einer vom Ich zum Du offenen Mitteilung verschwimmt, und wir befinden uns in einer Unklarheit, wo die Ereignisse und die Beschreibungen einen Doppelcharakter kriegen?

Findest Du nicht, diese Doppeldeutigkeit eines Briefwechsels entspricht nicht nur der Idee von sozialen Netzwerken, wo eine Nachricht an nahe Freunde leicht mit dem Auftritt vor dem breiten Publikum verwechselt werden kann, sondern auch der Idee von dokumentarischer Fotografie, Alltagsgeschichte, manchen Formen von Protest?

Die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen betrachte ich in letzter Zeit manchmal als eine traumatische. Hin und wieder, und in der Ukraine fällt es mir zu oft ein, wird das Private gezwungen, öffentlich zu werden, um zu überleben. Um zu existieren, muss man hier seine eigene Existenz beweisen.

Vorgestern gab es in Kiew die erste gut besuchte Gay Pride Demonstration. Zum ersten Mal hat dieses Ereignis als eine erlaubte, abgestimmte, große friedliche Aktion stattgefunden. Und es fand nicht, wie üblich, in Form einer blutigen Jagd statt, wo die wenigen Teilnehmer der Protestaktion von den Rechten angegriffen und verprügelt wurden. Eher war es eine Manifestation der staatlichen Gewalt. 6500 Polizisten haben eine Schutzgrenze um 1500 Protestierende gebildet. Der zentral gelegene Taras-Schewtschenko-Park, wo sich die Protestierenden versammelt haben, war von der Polizei umkreist.

Wegen den breiten Reihen von Polizisten konnte man von außen nicht die Demonstranten, sondern nur Rechtsradikale sehen, die kraftlos und wütend immer wieder versucht haben, die Grenzlinie zu überwinden.

Das Wetter war schön, es war warm und sonnig, und innerhalb des Polizeirings in dieser kleinen Polizeistadt fühlte man sich sicher.

Man ließ die Teilnehmer der Aktion nur durch Metalldetektoren rein. So konnte man fast sicher sein, dass unter den meist sehr jungen, aufgeregten Leuten keine bewaffneten Rechten durchschlüpfen konnten.

Und doch entdeckte ich im Sonnenschein unter den Demonstranten einige Männer, über die mein Bekannter mir zuwisperte: „Schau sie dir aufmerksam an, siehst du ihre aufgeblähten Hosentaschen? Es sind die Taschenmesser. Ohne ein Messer in der Hosentasche verlassen diese Kerle selten ihre Wohnungen.“

Ich schaute mich um. Unter den lachenden und ruhigen Gesichtern tauchten ab und zu verärgerte auf, manche hatten es angeblich wirklich geschafft, kleine Messer durch den Polizeiring zu schmuggeln.

Nach einem kurzen Warten, einer Protestaktion, begann der Aufmarsch, alles kam in Bewegung und die angeblich empörten Feinde wurden zum Teil der Demonstration. Vielleicht war es ihre gute Laune oder ihr organisatorisches Pech, aber anstatt die Aktion zum Scheitern zu bringen, wurden manche Rechtsradikale zu einem Teil von ihr.

Alles kann passieren, dachte ich im Laufe des Aufmarschs und versuchte, die Leute mit den Messern im Auge zu behalten, aber plötzlich, schon nach dreißig Minuten, war die Demonstration zu Ende. Alle sollten unter der Kontrolle der Polizei den Protestplatz verlassen und aus Sicherheitsgründen mit der U-Bahn in die entfernten Bezirke fahren. Nach einigen Minuten waren die Rechten mit den anderen Demonstranten zusammen in der U-Bahn verschwunden. An diesem Tag fand kein größerer Anschlag statt.

Es sieht wie ein Sieg aus. Ist es einer?

Man wurde praktisch eingesperrt in die Protestaktion. Der ukrainische Staat hat so lange alle Artenfremdenfeindlicher Propaganda zugelassen, so lange die Homophobie inspiriert, dass die ganze Gesellschaft jetzt nicht auf einmal aufhören kann zu hassen. Und der Stillstand des Hasses wird auch ausgenutzt. So muss man sich jetzt um die TeilnehmerInnen so einer Demonstration sorgen, und damit niemand verletzt wird, darf die Aktion nicht mehr als dreißig, vierzig Minuten dauern und muss hinter einer Wand von Polizisten stattfinden, sodass sie unsichtbar bleibt.

Vor einigen Jahren habe ich Fotos gemacht von einigen ukrainischen homosexuellen Familien, die von mir fotografiert werden wollten und hofften, dass diese Bilder etwas in Bewegung setzen würden. Ich war in Wohnungen, wo die Mitglieder einer dieser Familien, von allen Freunden und Verwandten verflucht, vor den Augen der Nachbarn als Geschwister auftreten mussten, um nicht attackiert und geschlagen zu werden. Und ich weiß, nach allem was hier im Laufe der letzten Jahren verändert wurde: Das hat sich nicht geändert.

Ich hoffe, ich habe kein abschreckendes Bild in diesem ersten Brief gezeichnet. Vieles ist und bleibt unklar. Ich weiß, Du bist gerade in der Ukraine, und würde gerne wissen, was Du hier täglich erlebst. Es ist möglich, dass mein Blick zu düster oder zu kritisch ist.

Ich warte auf Deine Worte, Deine Antwort, Deinen Brief,
Yevgenia

Brief nach Kiew versendet (Pollack an Belorusets)

Liebe Yevgenia,

tatsächlich ist dieser Briefwechsel etwas Ungewöhnliches, da wir beide in dem Bewusstsein schreiben, dass unsere Nachrichten auch von anderen, uns unbekannten Menschen gelesen werden. Ich weiß noch nicht, was das für mich bedeutet: Ob es die Intimität infrage stellt, die ein Briefwechsel für gewöhnlich beinhaltet, oder ob es, wie Du schreibst, dazu führt, dass die Grenzen zwischen einer eher persönlichen, nur für eine Person (Dich) bestimmten Mitteilung und einer für ein breiteres Publikum gedachten Mitteilung verschwimmen. Diese von Dir angedeutete Doppeldeutigkeit gefällt mir, wenn ich das recht überlege, sehr gut.

In meiner Arbeit fällt es mir oft schwer, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu trennen. Das liegt vermutlich zu einem guten Teil an den Themen, mit denen ich mich beschäftige. Sie sind manchmal sehr privat, aber andererseits auch öffentlich – weil ich darüber in der Öffentlichkeit spreche oder darüber schreibe, und zwar nicht in einem intimen Tagebuch oder in privaten Briefen, sondern in zur Veröffentlichung bestimmten Texten.

Manchmal frage ich mich natürlich, ob das statthaft ist? Darf man das? Ich glaube, dass man das manchmal sogar muss. Du scheinst ähnlich zu empfinden, wenn Du schreibst, dass in der Ukraine das Private gezwungen wird, öffentlich zu sein. Dass man, um zu existieren, von seiner eigenen Existenz Zeugnis ablegen muss. Wie Du das in Deiner Arbeit machst, liebe Yevgenia, finde ich bewundernswert. Und sehr wichtig.

Du schreibst in Deinem Brief über die erste Gay Parade in Kiew. Und über die gewaltbereiten Rechten, die sich dort versammelt haben, um die Teilnehmer an der Veranstaltung zu verprügeln und auseinanderzujagen, wie sie das schon in früheren Jahren gemacht haben. Solche Exzesse gab und gibt es bekanntlich nicht nur in Kiew und nicht nur in der Ukraine, sondern auch anderswo, in Russland oder in Polen. Gewaltbereite Rechte, die sich nicht scheuen, Blut zu vergießen, sind ein internationales Phänomen, das hat gerade das Massaker von Orlando in den USA auf grausame Weise bewiesen. Aber in Kiew kam es heuer zu keinen Ausschreitungen, weil die Teilnehmer von der Polizei geschützt wurden. Allerdings musste die Parade, wie Du schreibst, auf Anordnung der Behörden nach einer halben Stunde beendet werden. Angeblich aus Sicherheitsgründen.

Also einerseits ein kleiner Sieg, da die Parade überhaupt stattfinden konnte, aber andererseits kann man sich darüber nicht wirklich freuen, weil die staatlichen Organe den gewaltbereiten Rechten entgegenkamen, indem sie die Veranstaltung auf so kurze Zeit beschränkten. Ein kleines Fenster der Freiheit, das gleich wieder zugeschlagen wird. Haben die Behörden Angst vor den Rechten? Oder ist es vielmehr so, dass die meisten Polizisten und Beamten derselben Meinung sind wie die homophoben Randalierer?

Als ich Deine Schilderung las, erinnerte ich mich, dass vor Kurzem auch in Warschau eine ähnliche Veranstaltung stattgefunden hat, die sich Parade der Gleichheit nennt. Zur 16. Parade der Gleichheit kamen, nach verschiedenen Quellen, 10.000 oder vielleicht auch 35.000 Teilnehmer, darunter auch Politiker, sogar aus dem Ausland. In diesem Jahr gab es in Warschau keine nennenswerten Ausschreitungen, die Parade lief friedlich ab. Das klingt gut. Aber gleichzeitig kommt es in Orlando in den USA zu einem blutigen Massaker in einem Gay-Club. Und in einer polnischen Tageszeitung lese ich einen Kommentar, den eine Polin, eine gewisse Anna T., daraufhin im Internet platzierte: „Um diesen Abschaum ist keinem vernünftigen Menschen leid.“ Neben diesem Satz sieht man das Bild der Frau mit ihren beiden kleinen Kindern. Eine ganz normale, hübsche polnische Hausfrau.

Es geht nicht darum, dass die Frau, die so etwas gesagt hat, aus Polen stammt. Ich zitiere das nur, weil ich regelmäßig die polnischen Zeitungen lese. Ähnliche Kommentare könnte man wahrscheinlich ohne große Mühe auch anderswo im Internet finden, in Österreich ebenso wie in Schweden oder in Bulgarien. Von Russland wollen wir lieber gar nicht erst reden. Dort sind solche Äußerungen alltäglich, weil die Homophobie alltäglich ist und von führenden Politikern des Landes ganz bewusst gefördert wird.

Wie kommt es, dass es in unseren Gesellschaften so viel Verachtung gegenüber dem Anderen gibt, der anders denkt und anders empfindet, anders betet und anders aussieht? Wir erleben es jeden Tag, dass diese Verachtung hier oder dort, manchmal ganz unerwartet, umschlägt in Hass, der sich in brutaler Gewalt äußert. Manche Menschen scheinen sich ein Leben ohne Hass und Gewalt gar nicht vorstellen zu können, so ein Leben erscheint ihnen offenbar nicht lebenswert. Das erleben wir jetzt während der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich, die mich sonst wenig interessiert. Aber das Phänomen, dass sich junge Männer gegenseitig die Köpfe einschlagen, weil der eine aus England und der andere aus Russland kommt, finde ich schon bemerkenswert. Sind das rabiate nationalistische Gefühle, die da zum Ausdruck kommen? Oder ist es vielmehr ein ganz primitives, atavistisches Bedürfnis, sich einmal einem richtigen, ungehemmten Gewaltrausch hingeben zu können? So richtig dreinzuschlagen, bis Blut fließt, ohne jeden vernünftigen Grund und ohne Anlass?

Ein Bekannter, der sich mit dem Phänomen der Gewalt unter Fußballfans beschäftigt, hat mir gesagt, dass dies oft nicht, wie ich eigentlich erwartet hätte, junge Männer aus sozialen Unterschichten sind, die auf diese Weise vielleicht ihre Frustrationen abreagieren. Oh nein, sagte er, in vielen Fällen sind das intelligente Männer aus der Mittelschicht, Bankbeamte oder Computerspezialisten, verheiratet, Kinder, ein guter Job, ein Haus, ein schönes Auto. Aber manchmal brechen sie aus diesem sicheren, bequemen Leben aus und fahren irgendwohin, um sich mit anderen Männern, die vielleicht aus ähnlichen Verhältnissen stammen, zu prügeln, bis einer von ihnen buchstäblich auf der Strecke bleibt. Vielleicht schwer verletzt.

Wenn ich von solchen Ereignissen lese, frage ich mich immer, wie es zu so etwas kommt? Wie kommt es dazu, dass die finster blickenden jungen Männer, von denen Du in Deinem Brief schreibst, mit Messern im Sack zur Gay Parade in Kiew gehen, um dort Randale zu machen? Was ist es, was diese Leute antreibt? Ist es wirklich ein tief sitzender Hass gegen Homosexuelle als Stellvertreter für alles, was anders ist? Oder ist das nur ein Vorwand? Ich weiß es nicht.

Ich schreibe diesen Brief aus L’viv / Lemberg. Ich war zuerst in Tscherniwzi / Czernowitz, und fuhr von dort mit dem Auto nach L’viv. Obwohl die Straßen über weite Strecken immer noch schlecht sind, war die Fahrt ein Erlebnis. Sie führt durch eine wunderbare Landschaft, die einen ganz eigenen Reiz ausstrahlt. Irgendwie wirkt sie altmodisch, auf eine angenehme, sympathische Weise. Auf manchen Wiesen sieht man die verschiedensten Haustiere friedlich nebeneinander stehen, Kühe und Pferde, Schweine, Gänse und Ziegen. Das gibt es bei uns längst nicht mehr, leider. Da ist alles wohlgeordnet.

In einem Dorf im Bezirk Ivano-Frankivsk machten wir in einer Gaststätte Halt, um etwas zu essen. Das Dorf heißt Stary Kryvotuly und hat nichts Besonderes zu bieten. Eine große Kirche mit einem neuen, weithin golden glänzenden Blechdach, wie man sie heute in vielen Dörfern sieht, bescheidene Häuser, an der Straße aufgefädelt, in den Gärten Gemüse und Obst. Überall Kirschbäume. Die Früchte sind gerade reif. Ein herrlicher Anblick. Wir saßen auf einer Terrasse an der Straße und warteten aufs Essen, als vier junge Männer mit schweren Motorrädern ankamen. Einer hatte eine junge Frau auf dem Soziussitz, die anderen waren solo. Sie sahen beinahe bedrohlich aus. Breite Schultern, mächtige Muskeln, runde, kahl geschorene Köpfe. Alle vier trugen Lederjacken mit bunten Symbolen auf dem Rücken, der eine einen Drachen, ein anderer einen Wolf, glaube ich. Du kennst diese Typen so gut wie ich. Einer hatte ein riesiges Messer umgeschnallt. Ich weiß nicht, wozu ein Motorradfahrer ein Messer braucht? Reparieren kann man das Motorrad damit nicht. Aber die Männer waren freundlich, sogar höflich. Als einer eine Zigarette anzündete, stand er auf und ging ein paar Schritte vom Tisch weg, obwohl wir im Freien saßen.

Sie bestellten Kwas, und als sie den bekamen, prosteten sie uns zu. Das fand ich sehr nett. Ich glaube, es tat ihnen leid, dass sie sich nicht mit uns unterhalten konnten. Meine beiden Begleiter kommen auch aus Österreich. Ich habe es polnisch versucht, aber mit magerem Ergebnis. Als wir gingen, winkten sie zum Abschied. Sympathische junge Leute.

Als ich Deinen Brief las, erinnerte ich mich gleich an diese kleine, unbedeutende Episode. Wie würden diese jungen Männer auf Homosexuelle reagieren? Oder auch auf Flüchtlinge, die eine andere Hautfarbe und Religion haben? Wären sie zu denen auch so nett wie zu uns? Leider kann ich nicht fotografieren wie Du. Ich hätte gern Bilder von ihnen gemacht. So kann ich nur versuchen, diese kleine Episode für Dich zu beschreiben.

Ich warte gespannt, was Du zu berichten hast.

Alles Liebe
Martin

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin,

danke für den Brief. Nachdem ich ihn bekommen habe, wollte ich dir jeden Tagantworten, aber unwillkürlich habe ich auf ein Ereignis gewartet, mit welchem ich den Brief beginnen konnte.

Es passierte jeden Tag sehr vieles, und gleichzeitig passierte nichts. Ich bemerkte, dass fast alles ein und kein Ereignis sein kann. Vielleicht soll ich die Schreibgelegenheiten einfach aufzählen und dann fast zufällig aufhören?

Es ist sehr heiß geworden. In der Hitze schmelzen die Erinnerungen schnell. Die gelben Blätter liegen auf dem heißen Asphalt und weisen auf den kommenden Herbst hin.

Ich ging wieder in den Schewtschenko-Park, um die sommerlichen Erholungsszenen zu dokumentieren, und befragte manche Passanten über den Krieg, viele Kiewer schienen vergessen zu haben, dass es ihn gibt! Manche wunderten sich über meine Fragen, als ob ich sie zu etwas, was längst vergangen und nicht mit uns passiert ist, befragte. Kein Wunder, dass so ein winziges Krieglein, der sogar im eigenen Land aus dem Blick fällt, in Wien oft gar nicht bemerkt wird.

Nichtdestotrotz brachte vergangene Woche ein Freund von mir die Kinder aus den Kriegsregionen nach Kiew, damit sie hier von ihren eigenen Kriegserfahrungen erzählten. Die Aufführung dauerte vierzig Minuten, und es wurde vieles gesagt. Kinder aus Kiewer Schulen durften am Ende Fragen stellen. Nach der Aufführung und einem Spaziergang durch unsere glückliche und ständig feiernde Stadt sollten die Kinder in ihre Heimatorte zurückkehren. Dort ist jetzt ruhig, aber viele Häuser sind ruiniert, und immer wieder tauchen die Schatten der Gefahr auf.

 

Ich las den Anfang Deines Buches in der ukrainischen Übersetzung nochmals, um über Deine Fragen nachzudenken. Der Tote im Bunker beginnt mit Beschreibungen des Lebens in der zu Slowenien gehörenden „Untersteiermark“ in den 1920er Jahren. Du berichtest fast entfremdet über ein Leben, das nach nationaler Zugehörigkeit getrennt gelebt wird. Du sprichst über eine deutliche, unsichtbare, aber stets spürbare Grenze zwischen den Deutschen und Slowenen. Wenn ich Dein Buch lese, entsteht ein Bild vor meinen Augen, ein klares Bild wie eine Theaterszene, wie ein Puppenspiel. Die Didaktik des Hasses wird dem Leser fast auf eine brechtianische Weise beigebracht, und es bleibt nichts anderes, als zu verstehen, wohin sich die unschuldigen nationalen Sitten bewegen. Wie in griechischen Tragödien kennen wir längst die Folgen von dem Eifer der „Grenzdeutschen“. Wenn ich Dein Buch lese, beginne ich zu glauben, dass so eine Klarheit nicht nur zum Text, sondern auch zur Realität selbst gehört. Dann schaue ich aus dem Fenster, gehe in die Straßen – und dieses beruhigende Gefühl verschwindet wie ein Windhauch.

Man sieht viele doppeldeutige Kleinigkeiten, die absurden Gesten, auf Schritt und Tritt hört man widersprüchliche Aussagen, ich beginne sogar diese Antwortlosigkeit zu genießen. Gestern spät am Abend traf ich eine merkwürdige Person. Kurz nach zwölf in der Nacht ging ich für einen kurzen Spaziergang an die kühle Luft, und neben der U-Bahn-Station sprach mich eine junge Frau an. Sie langweilte sich und wollte mit jemandem reden. Sie sagte, sie sei neu in Kiew und komme aus dem Donbass, aus der kleinen Stadt Gorlovka. Wir haben einige Worte getauscht, und etwas überraschend behauptete die Frau, sie sei eine Separatistin. Vielleicht hat sie erwartet, dass ich wütend werde, es klang wie eine Herausforderung, als sie das sagte. Als ich neugierig wurde, hat sie sich beklagt, von vielen in Kiew nach so einem Geständnis beschimpft zu werden. Wir redeten weiter, und sie machte noch ein Bekenntnis, sie will bis in jüngste Zeit in einer Frauenkolonie in Gorlovka als Wächterin gearbeitet haben. Danach hat sie erneut auf meine Abschreckung gewartet. Als ich nach Hause kam, habe ich ihre Angaben überprüft: Es existiert keine Frauenkolonie in Gorlovka. Meine gestrige Bekannte konnte da nicht gearbeitet haben. Vielleicht ist es gar nicht ihre eigene Geschichte, sie hat sich für mich etwas ausgedacht. Warum wollte sie, dass ich denke, sie, eine „Separatistin“, hat so eine Arbeit gemacht? Diese Art der Arbeit in der Strafkolonie, in einem Gefängnis, ist ein sicheres Stigma hier in der Ukraine. Auch in Österreich ist es wohl nicht viel anders? In diesem Beruf trifft sich die allgemeine europäische halbvergessene Vorstellung über die Unberührbarkeit und Exklusion eines Henkers mit dem Kontext des stalinistischen und sowjetischen Repressionssystems. In den Erzählungen aus Kolyma von Warlam Schalamow führten die Wächter der Arbeitslager oft die Erschießungen und Folter selbst aus.

Meine Gesprächspartnerin wollte in meinen Augen etwas Feindliches, sogar Verfluchtes darstellen. Wir haben aber sehr nett und spannend die Zeit verbracht, und eine Stunde über Kiew und den Donbass gesprochen.

Sie sich als eine Gefängniswächterin vorzustellen wie auch als eine Separatistin, ist nicht besonders romantisch, es wird eher zu einer Version des Protests. Man hat ein Experiment gemacht in der Ukraine. Man hat versucht, die Teilung der Gesellschaft, die Du in Deinem Buch so präzis zeigst, hier in aller Eile aus dem Nichts zu initiieren. Niemals existierten hier die richtigen Grenzen zwischen den Sprachen, Religionen, Lebensweisen, Nationalitäten. Es wird immer wieder versucht, diese Grenzen zu bilden. Bis jetzt vergebens. Sie halten nicht und erinnern an stilisierte Theatergrenzen, in denen man spielt, die man imaginiert und wieder leicht vergisst, die nur als eine kleine Provokation für ein nächtliches Gespräch dienen können.

Dennoch, der Zwang, eine Außenseiterin zu sein oder umgekehrt, Angehörig, hängt in der Kiewer Luft. Nationalisten aller Sorten fühlen sich wie Fische im Wasser der putinistischen Propaganda, die nie aufhört und ungeschickte Antworten von ukrainischer Seite wachruft. Der Verdacht, dass jemand, der in der Ukraine eine scharfe Gesellschaftskritik ausübt, für Russlandarbeitet, macht das gesamte Bild noch verwirrender.

In Deinem Brief schreibst Du über eine angenehme Begegnung in einem Dorf neben Ivano-Frankivsk. Du konntest mit den jungen Männern mit Motorrädern nicht wirklich reden, daher weißt du nicht, für wen das riesige Messer hätte bestimmt sein können, das einer von ihnen wie einen Schmuck oder eine Auszeichnung trug. Ich stelle mir vor, wenn man mit einem großen Messer auf einem brüllenden Motorrad herumreist, ist es manchmal sehr angenehm, zu jemandem auch sehr nett zu sein, jemanden anzulächeln und einem ausländischen und wahrscheinlich hoch gebildeten Gast einen schönen Tag zu wünschen.

Zeigt nicht auch Der Tote im Bunker, dass nationalistisch, von Fremdenhass besessen zu sein, bis zu einem bestimmten Moment nur ein Spiel ist, ein Schmuck, ein Mantel, der, wie Du schreibst, manchmal abgelegt werden kann.

Und es muss wohl etwas Unerwartetes passieren, zum Beispiel ein spontaner Machtübergriff, und eine riesige Verantwortung fällt in die Hände der Spielenden und sie werden zu Geiseln ihres eigenes Rollenspiels. Ging es nicht teilweise beim Brexit, dem Referendum, das man in allen russischen Medien gerade feiert, so zu? Während des Jubelns wird der Europäischen Union ein schnelles Ende vorhergesagt.

Hier in der Ukraine erneuern die Online-Zeitungen täglich, wie auch in Österreich oder Deutschland, die Anzahl der Unterschriften, die für ein zweites Referendum in Großbritannien gesammelt werden. Viele meiner Bekannten schütteln den Kopf: Sie haben immer gedacht, dass die aggressive und offensichtlich primitive Propaganda nur in einem Land wie der Ukraine einen beachtlichen Erfolg erzielen könnte. Und jetzt beobachten wir, wie selbst in einem Land mit hervorragenden Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Radio, wie selbst da Propaganda und irrationale Ängste Zuspruch bekommen. Jetzt wirst Du lachen, aber so ein Referendum zeigt, dass wir, die Ukrainer, nicht phänomenal dumm sind, sondern nur so dumm wie die anderen! Oh! Wir sind doch Europäer. Wir träumen von Einheit, von etwas Besserem, Demokratie, sozialen Rechten, aber wenn die Populisten uns ansprechen, sind wir sofort ganz Ohr.

Ich verabschiede mich und mit einer großen Neugier und warte auf Deinen Brief,

viele Grüße aus Kiew
Yevgenia

Brief nach Kiew versendet (Pollack an Belorusets)

Liebe Yevgenia,

ich bin inzwischen wieder zurück von meiner Reise in die Ukraine. Es war wunderschön, aber auch anstrengend, wie Du Dir vorstellen kannst. Wir sind in neun Tagen viertausend Kilometer gefahren – und über den Zustand der Straßen in der Ukraine brauche ich Dir nichts zu erzählen. Es hat sich aber gelohnt. Jede Minute. Natürlich haben wir (ich war mit zwei Österreichern unterwegs, die einen Fernsehfilm machen wollen) uns unterwegs verirrt und sind auf kleine Nebenstraßen geraten, mit unglaublichen Schlaglöchern, die manchmal die ganze Straße bedecken. Aber dafür war die Landschaft umso schöner. Die Dörfer. Die Gärten. Und die Menschen, denen wir begegnet sind, waren unglaublich freundlich.

Als ich Deine Beschreibung der Kinder aus den Kriegsgebieten las, die zur Erholung nach Kiew geschickt werden, in diese „glückliche und ständig feiernde Stadt“, wie Du schreibst, musste ich an unseren ersten Abend in L’viv denken. Wir gingen zum Rynok und waren beinahe geschockt über den dort herrschenden Trubel. Ein einziges ausgelassenes Volksfest, ein Karneval, Musikgruppen, lachende, lärmende Jugendliche, Liebespaare, Stände mit Souvenirs und Essen, Cafés, das alles vermischt zu einem lauten, bunten Gewühl, das mir schwer erträglich erschien. Vielleicht bin ich zu alt für so etwas? Aber ich dachte auch daran, dass im selben Land Krieg herrscht – und dass vermutlich viele von denen, die hier Party machen, Verwandte und Freunde haben, die zur selben Zeit im Donbass sind, im Krieg, die dort hungern, sich in ihren zerschossenen Häusern verkriechen. Sind das diese absurden Gesten, von denen Du schreibst?

Aber vielleicht sind das auch ganz banale Feststellungen, typisch für einen Außenseiter wie mich, der sich ein Urteil über andere Menschen anmaßt? Kann man es den Menschen in L’viv und Kiew verübeln, dass sie sich zur selben Zeit, da im Osten gekämpft und gestorben wird, amüsieren, ein normales Leben führen wollen? Mit allem, was dazu gehört. Wahrscheinlich ist es gar nicht verwunderlich, dass sie das Bedürfnis verspüren, die Normalität des Alltags, wie sie ihn gewohnt sind, aufrecht zu erhalten. Vielleicht ist das auch so etwas wie ein Selbstschutz?

Ich denke dabei an eine Szene, die ich vor vielen Jahren im Krieg im ehemaligen Jugoslawien erlebt habe, wo ich als Journalist hinfuhr. Es war in Kroatien. In der Nähe der Stadt Vukovar, die von den serbischen Truppen eingeschlossen und ständig beschossen wurde. Die meisten Menschen waren aus den Frontgebieten geflohen. In einem kleinen Dorf sah ich einen alten Mann in einem Garten arbeiten. Sonst war das Dorf wie ausgestorben. Ich blieb stehen und fragte ihn, ob er keine Angst habe, hier zu bleiben, mitten im Kriegsgebiet? Er schüttelte den Kopf und sagte, er ernte gerade Bohnen, in diesem Jahr seien sie sehr schön geworden, er zeigte mir eine Handvoll, auch die Paradeiser, die Tomaten, seien prächtig geraten, wie könne er da weggehen?

Er konnte sich nicht vorstellen, seinen Garten mit dem herrlichen Gemüse, das er selber gepflanzt hatte, allein zu lassen, obwohl die ganze Welt um ihn herum in Trümmer zu fliegen schien. Sein Garten mit dem Gemüse, das er schon seit Jahrzehnten anbaute, stellte für ihn die Normalität des Lebens dar. Wenn er das aufgab, hätte er sich wohl selber aufgegeben. Und dazu war er nicht bereit.

Wir alle sehnen uns manchmal nach Normalität. Ohne die könnten wir nicht leben, würden wir verrückt werden.

Ich unterhielt mich einige Zeit mit dem alten Mann, er bot mir Paradeiser aus seinem Garten an. Sie schmeckten tatsächlich wunderbar, auch der Wein, den er aus dem Haus holte. Auch den Wein hatte er selber gemacht. Ich nahm mir vor, ihn später noch einmal zu besuchen, um zu sehen, wie es ihm ging, ob er etwas brauchte, aber irgendwie kam es nicht mehr dazu. Ich fuhr nicht mehr nach Vukovar, sondern zu anderen Schauplätzen. Dann vergaß ich ihn. Später habe ich mich oft an den freundlichen Alten mit seinen wohlschmeckenden Paradeisern erinnert und mir Vorwürfe gemacht, dass ich ihn nicht mehr aufgesucht habe. Was wohl aus ihm geworden ist?

 

Auf unserer Fahrt durch die Ukraine haben wir jetzt überall Kirschbäume gesehen, in jedem Garten und auch neben der Straße. Das hat es früher auch in manchen Gegenden Österreichs gegeben. Man konnte so einen Kirschbaum neben der Straße von der Gemeinde „mieten“, und wenn die Kirschen reif waren, durfte man die ernten. Das gibt es nicht mehr, heute würde sich niemand mehr die Mühe machen, Kirschen neben der Straße zu ernten, die Menschen kaufen sie lieber im Supermarkt, obwohl sie dort wässrig schmecken. Uninteressante Importware. In der Ukraine haben wir viele Kirschen gegessen, die Menschen haben uns aufgefordert, sie zu pflücken. Nehmt, so viel ihr wollt! Deine Landsleute sind ungemein gastfreundlich, liebe Yevgenia.

Deine Erzählung von der jungen Frau, die sich provokant als „Separatistin“ zu erkennen gab und dann enttäuscht war, weil Du sie nicht sofort beschimpft hast, hat mich tief berührt. Was kann eine junge Frau dazu bringen, in so eine Rolle zu schlüpfen? Wollte sie Dich schockieren? Wollte sie eine heftige Reaktion provozieren? Aber aus welchem Grund? Wollte sie sich nur interessant machen? Es wäre interessant, das herauszufinden.

Das treibende Moment in diesen Auseinandersetzungen und Konflikten, die teilweise so irrationale Verhaltensweisen hervorrufen, ist ein überspannter Nationalismus, der den Menschen das Denken vernebelt. Dabei hätten sie in der Regel einige Mühe, ihre oft absurden Reaktionen und Hassausbrüche zu erklären und darzulegen, warum sie diesen oder jenen Menschen, diese oder jene Gruppe, diese oder jene Gemeinschaft verachten, warum sie meinen, diese müsse ausgegrenzt, aus dem Land gejagt oder vielleicht völlig ausgemerzt werden. Das war schon immer so. Ich kenne das aus meiner Familie, wo es einen tief sitzenden Antisemitismus und eine ebenso tief sitzende Verachtung für alles Slawische gab, was immer das bedeuten mochte. Mein Großvater, der ein überzeugter Antisemit und „Slawenfresser“ war, lebte in einer kleinen Ortschaft im heutigen Slowenien, wo natürlich auch Slowenen zu Hause waren, einige wohnten gleich nebenan. Mit diesen slowenischen Nachbarn kam er gut aus, er saß mit ihnen im Wirtshaus und trank mit ihnen und ging mit ihnen auf die Jagd, die er über alles liebte. Aber das waren in seinen Augen „seine“ Slowenen, die waren in Ordnung, obwohl einige von ihnen, wie ich später erfuhr, überzeugte Nationalisten waren und ihrerseits alle Deutschen hassten.

Die scharfe Grenze zwischen den Sprachen und den Kulturen wurde erst ziemlich spät errichtet, vorher existierte sie kaum. Aber mit dem erstarkenden Nationalismus gewann diese Grenze, diese Trennung zunehmend an Bedeutung, bis eine Verständigung scheinbar unmöglich geworden war. Heute ist das wieder anders. Wenn ich nach Slowenien fahre, in den Ort, wo mein Großvater zu Hause war, erinnern sich die Menschen gern an die Vergangenheit. Sie haben zwar die schlimmen Dinge, die Brutalität der Nationalsozialisten, deren Verbrechen (an denen meine Verwandten, mein Großvater und mein Vater beteiligt waren), nicht vergessen, aber die Erinnerungen sind verblasst. Sie denken auch an schöne Dinge, die sie gemeinsam erlebt haben. Aber die Konflikte können jederzeit wieder angefacht werden, wie wir wissen. Dagegen sind wir nie gefeit.

Das macht mich optimistisch, andererseits auch misstrauisch. Wir müssen ständig auf der Hut sein. In Österreich wurde heute bekannt, dass die Präsidentschaftswahl wiederholt werden muss. Nun besteht plötzlich wieder die Möglichkeit, dass Norbert Hofer, ein Vertreter der Rechten, zum Präsidenten gewählt wird. Eine schreckliche Vorstellung. Das wäre nicht das Ende der Welt, aber es wäre ein schlimmes Zeichen. Dabei gibt es auch so schon genügend negative Signale in Europa. Brexit. Der schwelende Konflikt in der Ukraine. Die Nationalisten, die überall stärker werden, auch in den alten, scheinbar gefestigten Demokratien, die gern von oben herab auf Länder wie die Ukraine schauten. Dabei ist es bei uns um keinen Deut besser. Die Menschen sind nicht klüger, sie sind nicht zivilisierter, sie sind nur wohlhabender. Das ist der ganze Unterschied.

Ich schicke Dir mit gesonderter Post ein Gespräch, das ich in L’viv mit einem Journalisten von einem TV-Sender mit dem kuriosen Namen Espreso-TV geführt habe. Es war schon ziemlich spät am Abend, ich war müde, aber am nächsten Tag fuhren wir zurück nach Österreich, also blieb nichts anderes übrig, als es an diesem Abend zu machen. Wir saßen in einem winzigen Studio im Zentrum, sehr bescheiden eingerichtet, in dem Tisch, an dem ich saß, war oben ein großes Loch, das man früher einmal gebohrt hatte, um irgendetwas zu montieren. Jetzt war da nur mehr das Loch. Um das zu verdecken, damit es im Fernsehen nicht zu sehen war, bekam ich eine Tasse mit dem Aufdruck Espreso-TV, in der Wasser war. Die Leute im Studio baten mich, während der Aufnahme nicht daraus zu trinken, weil man sonst das Loch im Tisch gesehen hätte.

Aber das Interview wurde sehr gut geführt, mein Gesprächspartner war sehr gut vorbereitet, ich kannte ihn schon von einem früheren Aufenthalt. In dem Gespräch ging es natürlich auch darum, dass Europa sich heute nach rechts bewegt. Ob ich wisse, woran das liege?

Ich kann das auch nicht sagen. Weißt Du eine Antwort?

Und, wichtiger noch: Was können wir dagegen tun? Können wir denn etwas tun, oder sind wir machtlose Zuseher?

Ich erwarte mit Ungeduld und Spannung Deinen neuen Brief.

Alles Liebe
Martin

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin,

danke für den schönen Brief. Deine Beschreibung der Reise durch Jugoslawien und der Begegnung mit einem Bauer, der sein Haus auch unter Lebensgefahr nicht verlassen wollte, hat mich sehr berührt, da ich ähnliche Begegnungen im Osten der Ukraine hatte.

Schwarze Ironie der Ereignisse zwingt mich aber, ein anderes Thema anzusprechen. Mit einer wohl naiven Verwunderung las ich, dass das Polnische Kulturinstitut in Wien nicht mehr mit Dir zusammenarbeiten wird. Man versucht Dich also zum Schweigen zu zwingen.

In Deinem Brief sprichst Du über Deine Reise durch die Ukraine und am Ende über den Nationalismus, Du erwähnst Deine Familiengeschichte, den Hass zwischen den Deutschen und Slowenen, Antisemitismus. Im Alltag funktioniert alles auf ganz andere Art und Weise, es entstehen Freundschaften und Dein Großvater hatte „seine“ Slowenen, mit denen er am Abend Bier trank und zur Jagd ging. Vieles im Bereich der Gefühle und Gedanken ist und bleibt ambivalent, aber wenn die widersprüchlichen Ideen in Taten umkippen, wird es plötzlich eindeutiger.

Als wir bereits planten, Briefe miteinander auszutauschen, hast Du mir einen Artikel von Dir geschickt: Das Freund-Feind-Schema. Als ich ihn las, wünschte ich mir, dass Du auch Ukrainisch sprichst und Dich zu den Entwicklungen in der Ukraine genauso scharf äußern kannst. Ihn zu lesen, hat für mich eine heilende Wirkung. Endlich hört man so lange erwartete Aussagen über die anscheinend mehrdeutige oder nicht ganz klare Politik, und alles nimmt auf einmal den Platz ein, an den es gehört.

In der stalinistischen Ära arbeitete in der Sowjetunion ein Dramaturg, Jewgeni Schwarz, und fast in jedem Stück, das er schrieb, ging es mehr oder weniger um die fast kindliche Sehnsucht nach Wahrheit. Wie viele Autoren jener Zeit war er gezwungen, allegorisch zu schreiben, aber in seinen inszenierten Märchen versuchte er immer wieder das aufzuklären, was in den vierziger und fünfziger Jahren unausgesprochen blieb. In seinen dramatischen Stücken sind die autoritären Antiutopien beschrieben, wo Präsidenten und Könige sich weigern, die Verantwortung für die Blutbäder in ihren eigenen Reichen zu übernehmen. So sollte einer dieser Könige sich als Schizophrener ausgeben, der ständig von Manien und Psychosen besessen ist. Diese angebliche Schizophrenie scheint mir eine aktuelle Metapher zu sein. Vielleicht wird immer noch von uns erwartet, dass wir auch so eine Rolle spielen und das Offensichtliche wegen unserer Verdopplung der Persönlichkeit nicht bemerken? Sonst würdest Du für Deinen Artikel, der die wichtigsten Probleme der polnischen Gesellschaft und Politik anspricht, in irgendeiner Form ausgezeichnet.

Du wirst aber dafür bestraft. So ein Versuch aus einem anderen Land, Dich anzugreifen und Dir die virtuelle Faust zu zeigen, ist lächerlich, ja dumm. Aber auch unerträglich. Bedeutet es, dass die Worte immer noch so mächtig sind, dass sie abschrecken und sogar die Politiker, die Demokratie spielen, zwingen können, gegen einen Autor etwas zu unternehmen?

Oder, viel schlimmer, ist es nur ein Ritual der rechten, nationalistischen Regierung, das die Verfolgung Andersdenkender einschließt? Und man nimmt dir das Wort weg, um die eigene nationalistische, politische Identität weiter auszubilden?

Als Du den Artikel verfasstest, der dazu führte, konntest Du da so eine Entwicklung vorhersehen? Kann man noch etwas dagegen unternehmen? Können die solidarischen Stimmenpolnischer und internationaler Autoren, die Dich unterstützen, noch etwas ändern?

Im Kontext dieser Angelegenheit las ich auch den Text, der als Antwort auf Dein Freund-Feind-Schema geschrieben wurde: der Beitrag Pollacks Polen von Jacek Czaputowicz, ein Wissenschaftler, der im Außenministerium Polens für PiS arbeitet.

Das Faszinierendste unter vielen anderen kognitiven Dissonanzen jener Publikation ist die permanente Rechtfertigung des Nationalismus mit „freiem Willen“, „Demokratie“. Flüchtlinge wollen nicht in Polen bleiben, warum sollen wir sie zwingen und sie aufnehmen, fragt sich und die Leser der Autor. Und auch belehrend: „Demokratie besteht doch darin, dass die Regierungen sich aufgrund von Wahlen ändern, was manchmal einen Regierungswechsel zur Folge hat, der nicht jedem gefällt.“ Es wird höflich verschwiegen, dass solche demokratischen Entscheidungen zuletzt aufgrund systematischer Betäubungen und Lügen gemacht werden, wie es in Polen und im Osten der Ukraine passierte, in Russland und auch mit dem Brexit in Großbritannien. Die Massenpropaganda und Faktenfälschung wird von nationalistischen Regierungen und Parteien als eine Art der Freiheit verkauft, die zur Demokratie führen soll.

In so einer Situation, wo die Täuschung langsam zum einzig wirksamen politischen Instrument wird, gibt es da noch eine Möglichkeit, die Leser anzusprechen? Oder werden die Ideen, die Worte, sogar die Logik selber devolviert und man glaubt keinem mehr?

Mit vorhersehbarer Enttäuschung lesen die Ukrainer heute die Nachrichten, insbesondere wenn sie im Osten leben. Die Montage und die Collage, die visuelle Sprache vom Anfang des 20. Jahrhunderts hüllen die verletzten und fragmentierten Beiträge, Analysen, Mitteilungen in einen postmodernistischen Schleier.

Vor einigen Tagen war ich in einer Ausstellung in Kiew, im zentral gelegenen Schewtschenko-Museum. In einen Monat soll da meine eigene Ausstellung stattfinden. Im Moment sind Fotos von Verwundeten ausgestellt: Wir sehen die Aktivisten des Majdan-Aufstands, die wegen ihren Verletzungen nie wieder von den Rollstühlen aufstehen werden, man sieht die Folgen von Granat-, Schrapnell- und Gewehrschussverletzungen im Donbass-Krieg. Die Wunden, die man sieht, so dachte ich beim ersten Blick in die Ausstellung, sind ideologielos, sie sprechen in jedem Fall gegen den Krieg.

Ich habe mich aber geirrt. Wenn man durch diese Bilderreihe wandert und die Kommentare zu jedem Bild liest, entsteht ein merkwürdiger Eindruck, dass nur die „Patrioten der Ukraine“ im Krieg verletzt werden. Die „Feinde der Ukraine“ dagegen verdienen kein Mitleid und sind fast unverwundbar. Man liest von ihrer finsteren Brutalität, man sieht aber nie ihre Wunden. Die Wunden einer anderen Seite des Konflikts sowie die Wunden von Menschen, die im Donbass leben und zufällig verletzt wurden, bleiben nicht hinter den Kulissen, es ist viel radikaler – im Rahmen so einer Ausstellung existieren sie gar nicht.

Du hast mich gefragt, woher die provokante Stimme einer Frau kommt, die sich „Separatistin“ nennt. Ich spüre es, weiß es, bin überzeugt, so eine Stimme wird in solchen Ausstellungen geboren, in der Rhetorik, die dem „Freund-Feind-Schema“ entspricht, von dem Du schreibst.

Ich würde sehr gern über diese Ausstellung einen kritischen Aufsatz schreiben. Was mich abhält, sind die menschlichen Schicksale, die da gezeigt werden, der Krieg, der dauert und jede Aussage als Brennstoff benützt. Wie schreibt man über eine Wunde innerhalb einer Wunde?

Gestern spät am Abend ging ich nach Hause, nach einer langen und etwas monotone Arbeit an einer Bilderreihe. Es war sehr warm und hell, nur wenige Passanten kamen mir entgegen. Ich dachte an Frankreich, an die Opfer des Anschlags, an eine Irrationalität der Gewalt, die keine Worte, keine Texte zu akzeptieren scheint. Ein hoch gewachsener Mann kam mir auf einer leeren Straße entgegen. Schon von Weitem wunderte ich mich über seine Gestalt, da er seine Hand ziemlich seltsam am Mund hielt. Als er näher kam, sah ich, dass es nicht nur die Hand war, sein Gesicht war zur Hälfte hinter dem runden Ausschnitt des T-Shirts versteckt. Ich erinnerte mich sofort an die Kinder, die in Scharen mit kleinen Plastiktüten mit Klebstoff durch Kiew laufen und immer die Päckchen hinter den Krägen verstecken, um am Kleber zu schnüffeln. Wenn sie einatmen, verschwinden ihre Gesichter für einige Sekundenhinter dem Kragen. Man bezeichnet Klebstoff hier als eine Kinderdroge, weil die Halluzinationen oft einen Animationsfilm-Charakter haben und diese ausgesprochen schädliche und günstige Droge für die meisten Erwachsenen kaum erträglich ist. Als der Mann mir ganz nahe kam, sah ich, dass er sehr jung und gerade so ärmlich wie jene Kinder angezogen war, und er hielt ein Plastiksäckchen mit Klebstoff in der Hand. Ich wollte ihn ansprechen, aber er hörte und sah mich nicht. Er lachte jemanden an, der für mich gar nicht anwesend war.

Armut und Ausweglosigkeit verbreiten sich um mich herum. Hier in der Ukraine sind diese Probleme wegen des Krieges und wohl wegen einer Regierung, die nicht viel besser als die vorherige ist, immer wieder stärker zu spüren. Man spricht aber kaum darüber. Vielleicht weil man nicht weiß, was man sagen und unternehmen soll?

Ich selbst suche nach den Worten, die die Armut beschreiben könnten, und finde sie oft kaum.

Lieber Martin, ich sitze jetzt früh am Morgen in einer Bar und beende diesen Brief, ich denke an Dich. In der Nacht soll ohne Erfolg ein Militärputsch in der Türkei stattgefunden haben. Der Barmann spricht mich an: „Haben Sie gehört, dass unser Trottel Petrusha (so nannte er abwertend unseren Präsidenten) Erdogan sein Mitgefühl ausgesprochen hat? Er weiß wohl, dass auch ihn so etwas erwartet, nicht wahr? Die Menschen werden nicht ewig Geduld haben mit seinen Spielen und diesem Mistleben.“

So sind die Launen in Kiew an diesen Sommermorgen.

Ich schicke Dir viele Grüße und wünsche Dir eine gute Besserung,
Yevgenia

Brief nach Kiew versendet (Pollack an Belorusets)

Liebe Yevgenia,

ich beginne meinen Brief mit einem kleinen Rundgang durch meinen Garten, der für mich sehr wichtig ist, ein unverzichtbarer Teil meines Lebens. Wie du weißt, wohne ich die meiste Zeit des Jahres auf dem Land, in einem kleinen, unbedeutenden Dorf im Südburgenland namens Bocksdorf. Ich habe hier ein altes Bauernhaus, ein Stück Land, zwei große Streuobstwiesen mit alten Bäumen, meist Äpfeln, aus denen ich Saft mache. Und dann zwei Gemüsegarten, für den eigenen Gebrauch und für Freunde. In meinem letzten Brief habe ich von einem alten Bauern im ehemaligen Jugoslawien erzählt, der sich im Krieg von seinem Gemüsegarten nicht trennen konnte. Das kann ich gut verstehen. Ich habe mich heuer nicht viel um das Gemüse und die Salate gekümmert, weil ich oft im Spital war, dann wieder verreist. Jedes Mal, wenn ich in den Garten gehe, verspüre ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber der Garten nimmt das offenbar nicht übel, die Salate (ich habe immer mindestens zehn verschiedene Sorten) wachsen und gedeihen prächtig, sodass wir mehr ernten, als wir essen können, und in diesem Jahr sind die Paradeiser schöner als je zuvor. Obwohl ich sie wirklich vernachlässigt habe. Oder vielleicht gerade deshalb? Das wäre natürlich eine wunderbare Entschuldigung dafür, noch weniger im Garten zu arbeiten und ihn noch mehr sich selber zu überlassen. Wenn Du einmal im Frühjahr oder im Sommer kommst, serviere ich Dir den besten Salat, den Du Dir vorstellen kannst, eine Mischung aus allen verschiedenen Sorten. Ich kaufe überall, wo ich hinkomme, Salatsamen, in Polen, in der Ukraine, in Slowenien, in Italien, in der Schweiz, sogar in Belarus. Ich freue mich schon auf Deinen Besuch.

Aber jetzt zu ernsteren Dingen. Du hast in Deinem letzten Brief ein Thema angesprochen, das mich direkt betrifft: die Entscheidung des Polnischen Instituts in Wien, wegen meiner Kritik an den Zuständen in Polen die Zusammenarbeit mit mir einzustellen. Natürlich hat das nicht der Direktor in Wien entschieden, sondern die Weisung kam aus Warschau. Ich wurde von der PiS-Regierung auf den Index gesetzt. Und natürlich hast Du ganz recht, wenn du schreibst, dass solche Maßnahmen lächerlich und dumm sind. Aber auch unerträglich. Weil sie einen Rückschritt in Zeiten darstellen, die wir für überwunden hielten. Ich war im kommunistischen Polen neun Jahre lang Persona non grata, das heißt, ich durfte nicht hinfahren. Von 1980 bis 1989, faktisch bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft. Was jetzt in Polen vor sich geht, erinnert mich in vielem an diese unseligen Zeiten. Auch die jetzigen Machthaber nehmen für sich in Anspruch, dass sie die alleinige Wahrheit besitzen. Alle, die ihnen widersprechen oder sie, noch schlimmer, kritisieren, sind ihre Feinde.

Als meine Frau jetzt von den Maßnahmen der PiS-Regierung gegen mich erfuhr, fragte sie ein wenig erschrocken: „Bedeutet das, dass du nicht mehr nach Polen fahren darfst?“ Das glaube ich nicht. So weit sind wir noch nicht, aber wer weiß, was morgen sein wird? Die Richtung, in die Polen steuert, macht mir jedenfalls Sorgen. Andererseits bedeutet es auch, wie Du schreibst, dass Worte immer noch eine gewisse Wirkung haben, sodass die Leute an der Macht glauben, zu solchen Maßnahmen greifen zu müssen. Aber im Grunde ist die ganze Affäre, die ich mit meinem Artikel ausgelöst habe, lächerlich. Und peinlich. Wie eine schlechte, billige Komödie, die irgendwo in der Provinz aufgeführt wird. Von drittklassigen Schauspielern, die furchtbar schlecht spielen. Ich kann das beim besten Willen nicht ernst nehmen. Mir droht ja auch keine Gefahr. Ich darf im Polnischen Institut in Wien keine polnischen Autoren mehr präsentieren. So what? Wenn es weiter nichts ist, kann ich mich nicht beklagen. Ich genieße nach wie vor alle Freiheiten und bin auch materiell abgesichert. Das ist mehr, als viele Autoren in anderen Ländern von sich sagen können. Wir leben in Österreich immer noch auf einer „Insel der Seligen“, wie das ein Politiker einmal genannt hat. Obwohl auch hier das Klima zunehmend kühler wird.

Aber wenn ich lese, dass in der Ukraine gerade der Journalist Pavel Scheremet ermordet wurde, wird mir klar, wie winzig und unbedeutend diese Affäre ist. Eine Lappalie. Dabei ist Scheremet nur einer von vielen, anderswo sind die Verhältnisse noch schlimmer als in der Ukraine, in Russland zum Beispiel muss sich jeder kritische Journalist täglich bewusst sein, dass die Ausübung seines Berufs lebensbedrohlich sein kann. Und trotzdem arbeiten viele unverdrossen weiter, recherchieren, schreiben, berichten. Ich bewundere Menschen, die unter solchen Bedingungen arbeiten, die sich nicht ducken, nicht wegschauen, sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Ich bewundere auch Dich, liebe Yevgenia, für das, was Du machst, für Deinen Mut und Deine Integrität als Künstlerin und Autorin.

Wir haben nichts anderes als unsere Integrität, unsere Worte und, in Deinem Fall, die Kunst, die wir den Manipulationen entgegenstellen können. Das klingt pathetisch, aber es ist so. Das Schlimme an der jetzigen Situation ist, dass die Stimmen der neuen Patrioten und Hüter des Vaterlandes, der Verteidiger des wahren Glaubens (was immer das bedeuten mag, wie wir wissen, gibt es ja verschiedene, oft widersprüchliche Formen des „wahren Glaubens“) und einer angeblich christlichen Moral immer lauter und schriller ertönen und dass sie heute über mächtige Medien verfügen, über Zeitungen, aber auch Rundfunk- und Fernsehanstalten, mit deren Hilfe sie jene systematische Betäubung und Täuschung der Menschen betreiben, von der Du schreibst. Tatsächlich hat man manchmal den Eindruck, die Täuschung sei in manchen Ländern bereits so weit perfektioniert worden, dass die Menschen oft meinen, die Scheinwelt, die man ihnen in Medien und politischen Reden vorgaukelt, sei die reale Welt. Sie glauben, die Lügen und Halbwahrheiten, die sie täglich vorgesetzt bekommen, seien die Wahrheit.

Ich finde es interessant, was Du über die Ausstellung in Kiew schreibst, über die unterschiedliche Wahrnehmung der Leiden der Menschen. Nur die wahren Patrioten tragen in den Kämpfen sichtbare Verletzungen davon, die Mitleid erzeugen, während die bösen Gegner unverletzbar erscheinen. Die Propaganda bedient sich der Bilder je nach Bedarf, ja in vielen Fällen bemächtigt sie sich irgendwelcher Bilder, um eine Geschichte zu illustrieren, die mit dem eigentlichen Bild überhaupt nichts zu tun hat. Vor ein paar Jahren hat die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza über einen solchen Fall berichtet. Es ging um ein Foto, das jahrelang von polnischen Nationalisten als Beweis für die Grausamkeit ukrainischer Kämpfer verwendet wurde, die 1943 in Wolhynien Massaker an polnischen Zivilisten anrichteten. Auf dem Bild waren die Leichen von drei kleinen Kindern zu sehen, die mit Stricken oder Draht an einen Baum gebunden wurden. Dieses schreckliche Bild inspirierte sogar einen Künstler, der es für ein Denkmal für die Opfer der Massaker verwendete. Die Gazeta Wyborcza fand heraus, dass das Foto zwar zweifellos echt ist, aber mit dem polnischen-ukrainischen Konflikt in den vierziger Jahren nichts, aber schon gar nichts zu tun hat. Es zeigt die Opfer eines Kriminalfalles aus den frühen zwanziger Jahren. Eine Romni, eine Zigeunerin, hatte in einem Anfall von Geistesverwirrung ihre Kinder umgebracht und die Leichen an einen Baum gebunden. Wie das Tatortfoto aus einem historischen Polizeiakt in die verworrene und schmerzliche Geschichte der polnisch-ukrainischen Beziehungen in Wolhynien gelangt war, konnte nicht geklärt werden. Vielleicht hat da jemand bewusst manipuliert, vielleicht war das Bild auch durch irgendeinen Zufall sozusagen in die falsche Geschichte geraten und von der antiukrainischen Propaganda dankbar aufgegriffen worden. Solche Beispiele gibt es bekanntlich viele.

Die Geschichte mit dem Foto ist mir eingefallen, weil die polnisch-ukrainischen Beziehungen sich in letzter Zeit wieder sehr verschlechtert haben. Das ist schade. Da geht es auch um die Einschätzung der Ereignisse in Wolhynien. Ein gefundenes Fressen für Propagandisten und stramme Patrioten auf beiden Seiten. Wenn die solche Themen in die Hände bekommen, besteht immer die Gefahr, dass sie mit einem Schlag kaputt machen, was von beiden Seiten in jahrelanger mühevoller Arbeit aufgebaut wurde: gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, ohne Vorurteile über ein schmerzliches Kapitel zu reden. Es ist wirklich ein Jammer.

O je, wenn ich jetzt lese, was ich heute geschrieben habe, habe ich den Eindruck, das klingt schrecklich pessimistisch. Das war nicht beabsichtigt. Denn ich bin, trotz allem, ein Optimist. Auch was meine persönlichen Probleme angeht, meine Krankheit. Aber keine Sorge, darüber werde ich nicht reden. Ich bin gefragt worden, ob ich ein Buch über meine Krankheit schreiben möchte. Das ist jetzt irgendwie Mode. Sogar gute Autoren, wie zum Beispiel der ungarische Autor Péter Esterházy, der vor Kurzem gestorben ist, haben Bücher über ihre Erfahrungen mit Krebs geschrieben. Ich kannte Péter gut und habe ihn sehr gern gehabt. Aber sein Buch über die Krankheit habe ich nicht gelesen. Auch kein anderes. Als meine Krankheit vor drei Jahren diagnostiziert wurde, hat mir meine Frau ein Buch über Krebs gekauft. Von irgendeinem bekannten Autor, dessen Name mir entfallen ist. Ich habe nicht einmal hineingeschaut. Die Krankheit interessiert mich nicht. Jedenfalls nicht mehr, als unbedingt nötig.

Jetzt wollte ich irgendwie einen leichten, beschwingten, lustigen, optimistischen Abschluss finden. Aber das ist mir wohl nicht gelungen? Macht nichts. Das nächste Mal. Versprochen.

Viele liebe Grüße, ich freue mich schon auf Deinen Brief – Deine Briefe sind sehr wichtig für mich geworden,
Martin

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin,

Deine beiden Briefe haben mich sehr gefreut! Ich wollte Dir am selben Tag schreiben, habe mich aber zurückgehalten. Vielen Dank für Deine Einladung, ich hoffe sehr, Salat mit Dir zu essen! Allein der Gedanke fasziniert mich.

Und ich freue mich auch, dass es Dir besser geht, ich hoffe auf die moderne Medizin und Deine persönliche Stärke, die die Krankheit überwinden kann.

Einen Tag bevor ich Deinen Brief bekam, am 21. Juli, früh am Morgen, als ich noch im Bett war, hörte ich eine Explosion, die mich an Granatfeuer erinnerte. Ich dachte, okay, jetzt beginnt es auch in Kiew. Und dann kämpfte ich mit diesen Gedanken, die immer wieder kommen, wenn ich laute Geräusche höre, die ein wenig wie Artilleriegeschoss klingen.

Es erwies sich aber wenige Minuten später, dass die Explosion der Mord an dem Journalisten Pavlo Scheremet war, den ich früher ein paar Mal getroffen habe. Du hast diese traurige und grausame Geschichte auch schon erwähnt.

Seit diesem Tag habe ich das Gefühl, die soziale und gesellschaftliche Situation in der Ukraine hat sich wirklich radikal geändert. So ein demonstrativer politischer Mord, im Zentrum von Kiew, am helllichten Tag, war früher unvorstellbar. Jetzt ist es nicht genug, jemanden zu schlagen oder zu bedrohen, man muss ermorden, damit „etwas“ passiert.

Als ich vor vielen Jahren gegen die illegalen Baustellen im Zentrum von Kiew protestierte, habe ich anonyme Drohungen bekommen, man werde mir alle Knochen brechen. Heutzutage wird so eine Bedrohung nicht einmal mehr ernst genommen. Der Grad der Gewalt ist unheimlich gestiegen und er steigt weiter.

Unsere Realität wird aber nichtallein grausam, sie benötigt auch immer komödiantische Elemente. Als ob man einen Killer-Clown angestellt hätte, der ein weites Programm der Ereignisse für Kiew und Umgebung planen soll.

Dieser Tage organisiert die russisch-orthodoxe Kirche einen riesigen Friedens-Kreuzzug durch die Ukraine. Man erwartet „Provokationen“ in Form von Explosionen, Morden, Überfallen.

Der Orthodoxe Kreuzzug gleicht ohnehin einem Wahnsinnsschiff, weil es gar nicht mehr um Religion geht, sondern um alle möglichen konservativen Werte und politischen Statements, die chaotisch repräsentiert werden: Anti-Nato, Gegen-LGBT, für die traditionelle Familie, Gegen-EU, Gegen-Gender! Anti-Feminismus und alles Mögliche. Es sind Hunderte alte Frauen, die gegen „Gender“ protestieren, es sind Tausende von Menschen, die bereit sind, gegen alles zu protestieren, worauf die Kirche ihr Auge fallen lässt. Und die Kirche ist dunkel und düster, fast mittelalterlich.

Ich wollte Dir sofort antworten, aber irgendwie hat mir die Laune Deines Briefes befohlen, abzuwarten. Jetzt bin ich einige Tage in Berlin und genieße die Ruhe, bereite meine Ausstellung vor, die in Kiew bald stattfindet.

Ich schicke Dir viele Grüße,

Schreibe mir ein paar Worte, wie es Dir geht,

Alles Liebe!
Yevgenia

Brief nach Kiew versendet (Pollack an Belorusets)

Liebe Yevgenia,

ich habe meinen letzten Brief mit einem kurzen Rundgang durch meinen Garten eingeleitet, das möchte ich heute fortsetzen. Es geht allerdings nur um eine kleine Geschichte, eigentlich eine lächerliche Episode, die sich zugetragen hat. Seit etwa zwei Wochen wohnt eine Amsel bei uns. Sie ist wohl hier in der Nähe auf die Welt gekommen und scheint ein wenig behindert zu sein, das heißt, sie kann nicht sehr gut fliegen. Anfangs meinten wir, sie könne überhaupt nicht fliegen, weil sie sich nur am Boden fortbewegt hat, aber jetzt fliegt sie bereits, allerdings nicht besonders geschickt. Aber das muss sie auch nicht, weil sie bei uns alles findet, was so ein Vogel für ein bequemes Leben braucht. Futter, Ruhe, Geborgenheit – wir haben keine Katze und keinen Hund, es gibt jede Menge Futter bei uns und wir sind nett zu ihr. Mit einem Wort: Wir haben diesen seltsamen Vogel adoptiert. Ich schaue jeden Morgen, ob er (es ist wohl eher eine Dame, also sie) wie es ihm/ihr geht, wo er/sie sitzt. Ich habe eine große Weinhecke direkt am Haus, und der Wein wird langsam reif. Der Vogel lebt also förmlich im Schlaraffenland.

Ich weiß, wie lächerlich diese Geschichte klingt, wenn man bedenkt, was sich um uns herum zuträgt. In der Ukraine, in Polen, von der Situation der Flüchtlinge und anderen Schrecklichkeiten gar nicht zu reden. Und trotzdem hatte ich das Bedürfnis, Dir diese kleine Episode zu erzählen. Oft sind es solche Kleinigkeiten, solche Lappalien, die uns davor bewahren, zu verzweifeln. Mir jedenfalls geht es so. Ich klammere mich dann an solche Geschichten, obwohl ich natürlich weiß, dass sie am Zustand der Dinge nichts ändern, dass sie die Situation um uns herum – und die ist schlimm genug – nicht besser machen können. Ich schicke Dir sogar ein Foto meines neuen Haustiers, das mich allerdings demnächst wieder verlassen wird. Das hoffe ich jedenfalls, denn ich habe nicht die Absicht, ein frei lebendes Tier zu zähmen, es an mich zu gewöhnen, das widerstrebt mir.

Du fragst in Deinem letzten Brief nach meiner gesundheitlichen Situation. Die Untersuchung, die ich gemacht habe, verlief zufriedenstellend. So sagt jedenfalls mein Arzt. Es gibt nach wie vor (oder wieder?) Metastasen, in den Knochen und in Lymphknoten, aber das ist keine Katastrophe. Sagt der Arzt. Und ich will ihm gern glauben. Wahrscheinlich hat er erwartet, dass das Ergebnis noch schlimmer ausfallen würde. So sind wir alle zufrieden. Der Arzt und ich. Und natürlich auch meine Frau, die das alles hautnah miterlebt. Oft glaube ich, dass sie sich mehr Sorgen macht als ich. Ich lese gerade ein wunderbares Buch. The Memory Chalet von Tony Judt. Ich weiß nicht, ob du es kennst? Judt beschreibt darin mit beklemmender Genauigkeit seine Krankheit, englisch heißt sie amyotrophic lateral sclerosis (ALS), die zu einer rasch fortschreitenden Lähmung des ganzen Körpers führte, und am Ende natürlich zum Tod. Dass er es trotzdem zustande gebracht hat, in diesem Zustand – er konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr schreiben, nicht mehr sprechen, war aber geistig völlig klar – noch Essays und Bücher zu schreiben, wie eben das Chalet der Erinnerung, ist mir unbegreiflich. Wie hat er das gemacht? Offenbar war er nicht nur sehr klug, sondern auch unglaublich mutig. Dass er an dieser Situation nicht völlig verzweifelt ist, finde ich bewundernswert. Wenn ich mir vorstelle, wie Tony Judt auf diese schreckliche Krankheit reagiert hat, schäme ich mich geradezu, meine Krankheit auch nur zu erwähnen. Ich mache mir Sorgen, weil meine Haare nach der Chemotherapie nicht ordentlich nachwachsen wollen. Vor allem der Bart! Ich habe vierzig Jahre lang einen Bart getragen, und jetzt soll ich mein Leben bartlos beschließen? Eine schreckliche Vorstellung. Andererseits könnte man sagen: Wenn du keinen anderen Sorgen hast, geht es dir gut. Es ist wirklich lächerlich, über so etwas auch nur ein Wort zu verlieren. Und trotzdem mache ich mir Gedanken. Und wenn ich in den Spiegel schaue und dort ein bartloses Gesicht sehe, ist mir das geradezu peinlich.

Ist das nicht kindisch? Ich denke dann oft an den Spruch der Tante Jolesch aus dem gleichnamigen Buch des österreichischen Autors Friedrich Torberg: „Was ein Mann schöner is’ wie ein Aff’, is’ ein Luxus.“ Die Tante Jolesch war sehr klug und wusste, dass Männer nur in Ausnahmefällen schöner sind als Affen. Und dass diese zweifelhafte Schönheit ein unnötiger Luxus ist. Also kein Wort mehr über die Krankheit und über den Bart, der nicht nachwachsen will.

Oder doch: noch einen abschließenden Satz zu dem Apparat, mit dem ich untersucht wurde. Es handelt sich um einen PET-Scan, was immer das bedeuten mag, für bildgebende Krebsdiagnostik. Ich finde diese geheimnisvollen Abkürzungen eigentlich schön, beinahe lyrisch, obwohl es mir natürlich nicht einfällt, nun ein Gedicht auf dieses Gerät zu schreiben. Aber schließlich habe ich seit meinen frühen Studententagen keine Lyrik mehr geschrieben. Und das ist wahrscheinlich gut so.

Ich lese jeden Tag polnische Zeitungen, im Internet, obwohl ich das mühsam finde, nicht zuletzt weil ich aus denen viel mehr über die Situation in der Ukraine erfahre als aus deutschen oder, noch schlimmer, österreichischen Blättern. Für uns scheint das alles so weit weg zu sein. Wir sind uns gar nicht bewusst, dass die Entfernung trügerisch ist: In Wahrheit geht uns das, was dort geschieht, natürlich alle an. Aber wir schauen lieber weg, wenn sich die Krisen dort verschärfen, wenn Putin immer neue Provokationen setzt, auf der Krim, aber auch in Moldawien. Kommt dieses kleine, bitter arme, von Korruption und anderen postkommunistischen Übeln (natürlich gibt es diese Übel auch anderswo, das weiß ich) geschüttelte Land als Nächstes an die Reihe? Ausgeschlossen ist das nicht. Und der Westen zuckt gleichgültig die Achseln.

In Deinem letzten Brief schreibst Du über Deine Ausstellung in Kiew. Wie gern würde ich sie sehen. Und Du äußerst Zweifel, ob wir mit unserer Arbeit, mit unseren Bildern, unseren Texten etwas bewirken, etwas ändern können. Das ist eine Frage, die mich auch ständig beschäftigt: Macht das überhaupt Sinn, was wir tun? Oft zweifle ich daran. Aber heißt das, dass wir aufgeben, unsere Arbeit einstellen sollen? Natürlich nicht. Ich habe Deine Ausstellung nicht gesehen, aber ich kenne Bilder, Texte von Dir. Und ich weiß, welche Wirkung die auf Menschen ausüben. Erinnerst Du Dich an unseren gemeinsamen Abend in Wien? An die Diskussion mit Jaroslav Hrytsak im Kasino am Schwarzenbergplatz? Da haben Schauspieler vom Burgtheater einen Text von Dir gelesen, und dazu wurden Fotografien von Dir gezeigt. Nachher sind viele Menschen zu mir gekommen und haben mir gesagt, wie tief sie der Text und die Bilder beeindruckt haben. Besonders gefreut hat mich, das von den beiden Schauspielern zu hören, die Deinen Text vorgetragen haben. Sie haben den Text sehr genau durchgearbeitet, wie Schauspieler das nun einmal machen, wenn sie mit einem Text arbeiten, und sie haben mir unabhängig voneinander gesagt, dass Deine Worte sie wirklich berührt haben. Vor einiger Zeit habe ich Philipp Hauß, den Burgschauspieler, der damals dabei war, wieder getroffen, und er hat mich gefragt, wie es Dir geht, was Du machst …

Das fand ich schön. ich habe das als Bestätigung genommen, wie wichtig Deine Arbeit ist, liebe Yevgenia,

alles Liebe
Martin

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin,

jetzt bin ich zeitlich von Deinen letzten Briefen so weit entfernt, dass ich mit der Amsel anfangen sollte, die auf ihren kleinen Flügel mich hoffentlich über die Tage und Minuten wieder zu Dir bringt.

Zuerst möchte ich fragen, wie es Dir gerade geht?

Ich dachte sehr oft an Dich, konnte aber auf den letzten Brief einige Wochen lang nicht antworten. Warum? Vielleicht bin ich zu tief in fremde Geschichten eingedrungen, die mir keine schnelle Lösung angeboten haben, ich wollte eine Weile gar nicht mehr reden, besonders in der schriftlichen Form. Oder ich wollte etwas sehr Hellem, Hoffnungsvollem begegnen, um wieder an Dich schreiben zu können?

Eigentlich verstehe ich nicht, warum ich einen Monat warten und an den Brief denken sollte, ohne ihn zu schreiben.

Es gibt manche Themen und Ereignisse, die scheinen zu explodieren, und dann braucht man etwas Zeit, um sie zu zähmen.

Inzwischen, im August und September, hatte ich eine große Ausstellung in Kiew mit einem Diskussionsprogramm. Es ging um die Arbeit im Territorium des Krieges, meistens um die Bergwerke, und die Ausstellung war eine sehr schöne Gelegenheit, um an Dich zu schreiben, ich hatte sogar einen Brief schon im Kopf, als etwas Unerwartetes passierte. Einige Tage vor der Ausstellungseröffnung hat sich ein Bergarbeiter inmitten von Kiew angezündet, und er kam gerade aus der Gegend, wo ich als Fotografin gearbeitet hatte.

Diese Selbstverbrennung führte nicht zu seinem Tod, er wurde aber stark verletzt, wird nie mehr sehen können und muss Monate im Krankenhaus verbringen.

Das alles erwies sich als eine Einführung in die Ereignis- und Informationskette, die mich seit August begleitet, und erst jetzt beginne ich mehr oder weniger den Abstand zu den Geschehnissen wiederzufinden. Für eine Woche sollte ich nach Berlin kommen, um über die Ukraine nachdenken und schreiben zu können.

Jetzt kehre ich zu all Deinen E-Mails zurück und schreibe meine Antworten und erzähle einige Geschichten.

Ich freue mich sehr darauf und vermisse Deine Briefe.

Viele Grüße aus Berlin!
Yevgenia

Brief nach Kiew versendet (Pollack an Belorusets)

Liebe Yevgenia,

ich schreibe dir aus Wrocław, wo ich am Bruno-Schulz-Festival teilgenommen habe, auf Einladung von Olga Tokarczuk, die ein Gespräch mit mir geführt hat. Wir haben allerdings nicht über Bruno Schulz gesprochen, dafür über alle möglichen anderen Dinge und Fragen, nicht zuletzt über die gegenwärtige Situation in Polen. Ich weiß nicht, wie weit Du die verfolgst? Für mich ist es erstaunlich und zugleich erschreckend, wie rasch sich die Situation in Polen verändert hat. Manchmal glaube ich, in einem anderen, mir unbekannten Land zu sein. Dieser überdrehte, überhitzte Patriotismus, der einem von allen Seiten entgegenweht und nichts anderes ist als ein rabiater Nationalismus, der alles Fremde und alle Fremden am liebsten aus dem Land verbannen möchte. Polskadla Polaków! Polen für die Polen, lautet die nicht besonders originelle Losung. Das klingt manchmal fatal nach Tönen, wie sie in den dreißiger Jahren zu hören waren. Dazu passen auch die jungen Leute, die in irgendwelchen Pseudo-Uniformen durch die Straßen marschieren oder wenigstens in T-Shirts mit patriotischen Losungen und Symbolen herumlaufen, um ihr Liebe zu Polen und zur polnischen Geschichte zum Ausdruck zu bringen. Żołnierzewyklęci (das bezieht sich auf die polnischen Soldaten, die noch nach 1945 gegen die Kommunisten gekämpft haben – sie sind heute die großen Helden), Wielka Polskakatolicka usw. Dahinter steckt eine Ideologie, die man ohne Übertreibung als das verbindende Element für diese Wir leben in einem Irrenhaus betrachten kann, sagte mir unlängst eine polnische Freundin. Aber dann trifft man wieder Freunde und Bekannte, die einem das Gefühl vermitteln, dass doch vieles gleich geblieben ist.

Ich habe in den letzten Tagen viel mit Freunden über die Stimmung in Polen gesprochen. Was können wir Autoren tun? Was können überhaupt die Intellektuellen tun? Können wir etwas tun, oder sind wir dazu verurteilt, stumm und tatenlos zuzuschauen, wie die Situation sich von Tag zu Tag verschlimmert? Nicht nur in Polen, auch in Österreich und anderswo. Wie sieht es in der Ukraine aus?

Was Du schreibst, klingt nicht gerade optimistisch. Der Bergarbeiter, der sich selber angezündet hat. Wir kennen diese Form des politischen Protests. Ich erinnere mich an Jan Palach, den tschechischen Studenten, der sich im Jänner 1969 in Prag, am Václavskenáměstí (Wenzelsplatz) aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Paktes selber verbrannt hat. Es gab damals einige Nachahmer, die seinem Beispiel folgten. Der Name von Palach wurde zu einem Symbol für den tschechischen Widerstand gegen das kommunistische Regime. Und jetzt zündet sich ein Bergarbeiter in der Ukraine an. Es hat manchmal den Anschein, als hätte sich in Europa wenig, viel zu wenig geändert. Wie ist es sonst zu erklären, dass ein junger Mensch –ich weiß nicht, wie alt der ukrainische Bergarbeiter ist? – sich zu so einer Verzweiflungstat entschließt.

Wie gern würde ich Deine Ausstellung, Deine Bilder aus den umkämpften Gebieten im Osten sehen. Die Gesichter der Menschen. Es sind ja immer die Gesichter einzelner Menschen, die uns die interessanten Geschichten erzählen. Von Freude und Hoffnung, aber auch von Ängsten und Hoffnungslosigkeit. Von völliger Verzweiflung angesichts der Zerstörungen ringsum. Wie kann man in solchen Bedingungen leben? Ich frage mich oft, warum diese Menschen nicht weglaufen. Warum sie dort ausharren, obwohl ein normales Leben (andererseits: Was heißt das schon, ein normales Leben? Was ist normal?) kaum mehr möglich scheint. Und trotzdem bleiben sie, gehen ihrer Arbeit nach, arbeiten im Bergwerk, machen Einkäufe, bringen die Kinder zur Schule … Wir wissen nichts von diesen Menschen. Darum wäre es so wichtig, Deine Ausstellung überall zu zeigen. Ich würde auch gern wissen, wie die Diskussion verlaufen ist. Was die Menschen gefragt, was sie gesagt haben. Bist Du dabeigesessen? Hast Du mit ihnen geredet, hast Du über Deine Arbeit, Deine Begegnungen erzählt?

Als ich zuletzt in L’viv war, hatte ich den Eindruck, der Krieg sei sehr weit entfernt. Es herrschte eine regelrechte Karnevalsstimmung, Ausgelassenheit, Fröhlichkeit. Überall Musik. Das wirkte fast übertrieben, gekünstelt. Aber ich kann da kein Urteil abgeben, weil ich nur ein Beobachter von außen bin. Ein Tourist, der auf Besuch ist und genau weiß, dass er in ein paar Tagen wieder zu Hause sein wird. Zu Hause, wo alles ruhig ist. Wo das Leben normal verläuft. Wo man nicht an den Krieg zu denken braucht, weil der woanders ist. In Syrien. Im Irak. Irgendwo in Afrika. Und in der Ukraine. Weit, weit weg.

Du schreibst, dass Du einen Abstand brauchst, um über manche Dinge reden und schreiben zu können. Das ist auch meine Erfahrung. Man kann im Moment nur Notizen machen, einzelne Worte notieren, Stichworte, wie man das auf Deutsch nennt. Ein seltsamer, beinahe bedrohlicher Ausdruck: Stichwort. Ein Wort, das sticht, wie ein Messer. Ich weiß nicht, woher dieser Ausdruck kommt … Egal, jedenfalls kann ich oft nicht mehr tun, als kurze Bemerkungen aufschreiben, kleine Beobachtungen. Oft wünsche ich mir, ich könnte fotografieren. Das kann ich leider nicht. Ich bin schrecklich unbegabt, was das angeht. Ein völliger Versager als Fotograf. Das tut mir oft leid. Umso mehr bewundere ich Menschen wie Dich, die mit Fotos Geschichten erzählen können. Wichtige Geschichten.

Zurück zu Wrocław: Gestern war ich bei der Verleihung des Angelus-Preises. In diesem Jahr hat ihn ein rumänisch-armenischer Autor bekommen, Varujan Vosganian. Für sein Buch des Flüsterns, das die Tragödie der Armenier im zwanzigsten Jahrhundert erzählt. Angefangen vom Genozid in der Türkei bis zum tragischen Schicksal der nach Rumänien geflüchteten Armenier, die nach dem Einmarsch der Roten Armee neuen Verfolgungen und Deportationen ausgesetzt waren. Ein wunderbares Buch, obwohl beklemmend. Es ist bemerkenswert, dass eigentlich in allen sieben Büchern, die es auf die Shortlist für den Angelus schafften, die Erinnerung eine zentrale Rolle spielt. Oft die Erinnerung an die blutige Geschichte Europas. Darüber habe ich auch mit Olga Tokarczuk gesprochen, die mich nach Wroclaw eingeladen hat. Über die Kraft der Erinnerung, aber auch die Notwendigkeit, zu vergessen.

Wie lang wird es dauern, bis wir davon sprechen können, dass die Ereignisse in der Ukraine einen Platz in unserer Erinnerung haben? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Oder werden wir, die nicht direkt davon betroffen sind, die keine Opfer zu beklagen haben, sie bis dahin verdrängt und vergessen haben?

Ich schreibe das, während ich auf das Auto warte, das mich zum Flughafen bringen soll. Liebe Yevgenia, pass auf Dich auf!

Alles Liebe
Martin

Brief nach Lemberg versendet (Belorusets an Pollack)

Lieber Martin,

in Kiew ist es sehr sonnig und auch unerwartet kalt, in einer Enzyklopädie der Bäume lese ich über die Baumgesellschaften, die sehr harmonisch zu funktionieren scheinen. Die Bäume sind selten rassistisch, sie entwickeln manchmal erstaunliche Versionen des Zusammenlebens.

Der ukrainische Karneval der politischen Realität kann sich mit Polen geistig verwandt fühlen. Vorgestern fanden in Kiew ein Fackelzug und „der Marsch der Nation“ statt, der vom Rechten Sektor und dem Bataillon Azov organisiert wurde. Zehntausend Menschen haben an diesem lächerlichen, unnötigen und dummen Marsch teilgenommen.

So was Idiotisches passiert in der Ukraine immer wieder, nicht nur weil rechte politische Initiativen offensichtlich von Oligarchen finanziert werden, sondern auch weil die ganze ermüdete, hungrige und überforderte Öffentlichkeit diesen Ereignissen keine Bedeutung zumisst.

Zehntausend Menschen gehen durch die Straßen von Kiew mit nationalistischen Parolen auf den Plakaten, das macht aber keinem echte Sorgen, und viele, viele ukrainische Schriftsteller versuchen in diesem Sumpf sogar eine gewisse Poesie zu entdecken.

Ein klarer Blick, eine Ernüchterung würden wohl solchen Aktionen im Wege stehen. Ich glaube daran, ich bin überzeugt, dass die systematische öffentliche Kritik etwas verändern kann.

Eine andere Frage ist, wie man in einem Land wie der heutigen Ukraine so eine Kritik ausüben kann. Irgendwie hat man hier ein Gefühl, dass wir uns in einem fast anarchischen Chaos befinden, wo niemand geschützt ist, wo man sehr vorsichtig sein muss.

Nicht nur die Angst, in Konflikt mit den Rechten zu geraten, bremst die Kritikversuche, man versteht auch – und das ist eher mein Fall –, dass, so verrückt es auch sein mag, noch tiefere Probleme existieren und der rechte Populismus im Fall der Ukraine nur die Folge dieser Probleme ist.

Die Armut bei jedem Schritt, die Schwäche des Staates, die Menschen, die seit drei Monaten ihren Lohne nicht kriegen und nicht mehr wissen, was sie morgen essen werden. Ich finde, dass diese Fragen, wenn sie ignoriert werden, in Abgründe führen, wo die verrücktesten aggressiven Ideen die Macht übernehmen.

Die postsowjetischen Intellektuellen schaffen es nur selten, die Gefahr des Nationalismus zu sehen, weil sie den Hass gegen den Kommunismus zu ihrem Hauptinstinkt entwickelt haben. Sie schaffen es noch seltener, die sozialen Probleme kritisch zu betrachten und darüber zu reden.

Es ist leider so. Und ich denke, die Verantwortung der Schreibenden in der Ukraine ist sehr groß und sie könnten viel tun, wenn, wenn sie oder wir es nur wollten.

Oder irre ich mich und lege zu viel auf zu schwache Schultern?

Lieber Martin, es ist sehr interessant, was Du über die Erinnerungen schreibst. Ich denke, in der Ukraine geht vieles vergessen. Die Ereignisse werden zu einem fiktionalen literarischen Text, den man liest, nicht um ihn zu kennen, sondern um ihn in eigenen Gedanken zu zerstreuen, um ihn aufzulösen.

Ich arbeite gerade an einer kleinen Textsammlung, die aufgrund der Gespräche mit unterschiedlichen Menschen, meistens waren es Frauen, entsteht. Jeder Text ist so gebaut, dass man aus einer scheinbar ausweglosen Situation doch einen Ausweg findet, auch wenn das absurd zu sein scheint. Wegen der Ausstellung habe ich mit dem Schreiben aufgehört, und jetzt habe ich plötzlich Angst vor allen bereits geschriebenen Texten. Es scheint mir, ich finde nicht mehr den Weg zu ihnen und werde sie nicht fortsetzen können, obwohl ich das wirklich möchte. Was tut man in solchen Fällen? Wie komme ich durch so eine Wand, die plötzlich zwischen mir und dem Geschriebenen steht?

Vor einiger Zeit habe ich begonnen, auf Deinen letzten Brief zu antworten, dann wurde meine Antwort wegen der Reise in ein Flüchtlingslager unterbrochen, und jetzt, heute, finde ich Deinen Brief nicht mehr. Der vierte ist wie ein Gespenst verschwunden aus meinem Briefkasten. Ich möchte ihn aber wieder lesen und eine neue Antwort schreiben. Ich bitte um Entschuldigung wegen der Verspätung und ersuche Dich, mir den Brief wieder zu schicken. Ich vermute, dieser Brief versteckt sich in einem der Ordner und wird noch auftauchen, er lässt sich aber selbst beim Suchen nicht finden, was sehr schade ist.

Ich freue mich für dich, dass Du in Polen bist und alles mit Deinen eigenen Augen sehen und einschätzen kannst. Du hast ein Bild der Veränderung von Polen darlegt, dass sehr anschaulich ist, anschaulicher als viele Fotos. Komischerweise denke ich, wenn in der Ukraine so eine wahnsinnige Aktion wie „Der Marsch der Nation“ stattfinden würde, dann würde sie das Leben hier weder verändern noch beeinflussen. Der Krieg, die soziale Fragen machen die Menschen sehr misstrauisch gegenüber dogmatischen Ideen, die die Wirklichkeit interpretieren. Vielleicht wird so ein Misstrauen uns retten?

Wie kann es sei, dass es das in Polen nicht gibt? Man braucht doch eine Dosisinfantiler Naivität, um wieder echt rechts und nationalistisch zu werden, heute, nach allem.

Viele Grüße!
Y.