Zurück

Annika Reich Zeruya Shalev

16. Juni 2016 – Brief nach Haifa versendet (Reich an Shalev)

Berlin, den 16. Juni 2016

Liebe Zeruya,

Du packst gerade Kisten, schriebst Du, und dass Du trotzdem Zeit finden würdest, auf meinen Brief zu antworten. Du ziehst um? Ich habe mich nicht getraut nachzufragen. Wir kennen uns kaum.
Und jetzt ein Brief, drei Briefe. Drei Briefe an Dich.

Wir sind uns nur zweimal kurz begegnet. Mittags im Hotel auf der lit.COLOGNE waren wir beide erschöpft, abends nach unseren Lesungen rauschig. Die Art, wie Du mit einer Frau im Arm aus dem Schokoladenmuseum liefst, ließ mich lachen. Wenn ich etwas auf der Welt ad hoc mag, dann sind es rauschende Frauen. Alle meine engen Freundinnen sind rauschende Frauen. Wir sollten mal gemeinsam durch die Nächte ziehen. Ich glaube, das wäre was.
Vielleicht ist das – im Futur II – Modus – sogar der richtige Ausgangspunkt für meine Briefe an Dich: Ich schreibe sie Dir in dem Wissen, dass wir gemeinsam durch die Nächte gezogen sein werden. Vielleicht trifft diese Vorstellung genau die Mischung aus Intimität und Ungewissheit, die ein solcher Briefwechsel erfordert. Einem Menschen, den man kaum kennt, einen Brief zu schreiben, den irgendwann auch andere Menschen lesen werden, ist seltsam.

Ich habe gerade „Das Leben wird überschätzt“, Aphorismen von Jules Renard gelesen, eine Freundin hat sie mir geschenkt. Er schreibt: „Meine Literatur – Briefe an mich selbst, die ich euch zu lesen erlaube.“ Ich weiß nicht, ob das bei mir so ist. Vielleicht ist es eher so: Ich schreibe meine Bücher auf euch (wer auch immer das ist) zu und erlaube mir dann, selbst zu lesen, was ich dort – weiter weg – eingesammelt habe. So entsteht ein Resonanzraum. Schreiben entfaltet genau diesen Raum, der Begegnungen eröffnet. Hast Du auch eher Fernweh als Heimweh?
Mich trösten Fernwehdenkerinnen und –denker, gerade weil sie Brücken ins Ungewisse schlagen. Dort draußen jemandem begegnen…

Dir einen Brief zu schreiben, ist auch fernwehgetrieben, nur soll es eben um Europa gehen. Und das ist im Moment für mich extrem heikel. Es ist so heikel, dass ich nicht weiß, wie ich Dir davon berichten und wie ich überhaupt darüber nachdenken soll. Wie soll ich jemandem, den ich kaum kenne, mit einem Mindestanspruch an Diskretion von einer Sache berichten, die mir den Boden unter den Füssen weggezogen hat? Und wie soll ich über Europa schreiben, wenn ich nicht mehr weiß, was das ist?
Europa war für mich vor allem ein Wertesystem – trotz der wirtschaftlichen Interessen, die so stark im Vordergrund standen. Wenn es je ein Wertesystem gewesen sein sollte, dann ist das jetzt so schwer erschüttert, dass niemand weiß, ob es sich zerschlagen wird.
Je mehr Europa in den letzten Monaten seine Grenzen vor den fliehenden Menschen geschlossen hat, desto mehr habe ich meine eigenen überschritten. Bis zu einem Punkt, an dem nichts mehr ging. Ich werde nur von diesem Punkt aus schreiben können, also aus dem Zusammenbruch heraus, der die Festung Europa für mich persönlich bedeutet. Ich hoffe, ich mute Dir mit einem ersten Brief damit nicht zu viel zu, und ich hoffe, den zweiten schon von einem anderen Punkt aus schreiben zu können.
Die Festung Europa ist ein Zusammenbruch.
Ich muss diesen Satz noch einmal freigestellt hinschreiben. Auch wenn ich an die Möglichkeit glaube, dass Europa sich gerade dadurch, dass wir jetzt an so vielen Orten das Scheitern seines Wertesystems erleben, (neu)erfinden kann.

Als ich mich heute Morgen hinsetzte, um mit diesem Brief zu beginnen, hat mich mein erster Impuls erst einmal verstört: Ich saß da, schrieb die ersten Zeilen und wollte ich Dir plötzlich einen Kuchen backen. Einen Kuchen für Zeruya.
Doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr überzeugt mich die Idee: das Kuchenbacken lädt Dich zu mir ein, es gibt unserer Abwesenheit einen Körper und mir genau den Halt, den ich brauche, um aus meiner Grenze heraus über Europa zu schreiben. Die Arbeit mit meinen Händen, die begrenzte Zeit, die der Kuchen braucht, um fertig gebacken zu werden und der Duft, den er verströmen wird. Jetzt verstehe ich das: Der Kuchen ist für Dich, das Backen für mich.
Ich hatte mal einen Studenten an der Kunstakademie, der die philosophische Lektüre, die ich ihm zu lesen gab, nur aushielt, wenn er währenddessen Brot backte. Am nächsten Morgen brachte er mit seinen Gedanken einen Laib Brot mit und teilte beides mit der Klasse. Manchmal war das Brot steinhart, manchmal mit so viel Hefe gebacken, dass wir alle Bauchweh bekamen, aber immer passte es zu den Texten, die wir besprachen.

Es soll um die Fragilität des Projekts Europa gehen. Der fragilste Kuchen, der mir eingefallen ist, ist der Baumkuchen. Er wird in dünnen Schichten gebacken, und man muss ständig zum Ofen rennen, damit sie nicht verbrennen. Als Kind war der Baumkuchen für mich der kostbarste. Es gab ihn nur sehr selten. In München gibt es einen Konditor, der berühmt für diesen Kuchen ist. Elegante, parfümierte Freundinnen meiner Mutter haben manchmal einen von dort mitgebracht. Wir haben ihn zelebriert, immer nur kleine Stücke davon abgeschnitten und den letzten Rest vertrocknen lassen.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob er mir gelingen kann. In meinem Rezept steht, dass man ihn am besten unter einem Salamander backen sollte. Ich weiß nicht einmal, was das ist – ein Salamander. Ich kenne nur Salamander, die ihren Schwanz verlieren, einige in besonders schönen und schillernden Farben. Ich muss es also ohne Salamander versuchen. Bevor ich weiterschreibe, werde ich den Teig rühren. Magst Du eigentlich Marzipan? Marzipan polarisiert, ich weiß. Entweder man liebt es oder man hasst es. Es ist ein Wagnis, einer Frau, die man kaum kennt, einen Kuchen mit einer solchen Zutat zu backen.
Der Ofen ist jetzt auf 230 Grad vorgewärmt und die Butter aus dem Kühlschrank genommen. Sie muss weich sein, steht im Rezept. Ich lasse sie also weich werden. Das Rezept lege ich diesem Brief bei. Vielleicht findest Du Backen grauenhaft, wenn nicht, kannst Du es ja auch einmal versuchen. Vielleicht hast Du sogar einen Salamander, mit dem man backen kann.

Nun ist die erste Schicht im Ofen. Sie muss goldbraun sein, bevor man die nächste aufstreicht. Wie lange das dauert, weiß ich nicht. Ich werde versuchen, in der Zeit, die zwischen den beiden Schichten bleibt, über mein Bild von Europa nachzudenken.
Eines ist klar: Europa ist jetzt, da es sich verschließt, eine offene Frage. Mir wird jetzt erst bewusst, wie viel ich in die Idee Europa hineingelegt habe. Europa war anscheinend doch ein einigermaßen denkbarer Heimatgedanke für mich, obwohl ich von dem Konzept ‚Heimat’ nichts halte und mir bei den Gedanken an Europa als Heimat schon immer zu viele Gorillas im Raum saßen: Die Kriege, der Kolonialismus, der Umgang mit Roma und Sinti usw. Eigentlich sind das zu viele Gorillas für ein sowieso schon hochgradig wackeliges und zutiefst angezweifeltes Heimatgefühl. Aber trotzdem, das merke ich jetzt, habe ich es versucht. Vielleicht weil es mit Deutschland nie ging oder vielleicht weil ich innerlich ausgelotet habe, ob ich mich überhaupt nach einer identifizierenden Verortung sehnen kann.

Und jetzt? Wählen Teile Europas so rechts, dass man nur noch den Atem anhalten kann. Jetzt werden Stacheldrahtzäune hochgezogen und es wird mit Tränengas auf Menschen geschossen. In Deutschland brennt ein Flüchtlingsheim nach dem anderen. Neue Asylgesetze werden verabschiedet, die alles nur noch schlimmer machen, und Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt, die es nicht sind. Im Mittelmeer sterben tausende Menschen. Du weißt das alles. Ich weiß nur nicht, wie Du diese Bilder siehst.

Normalerweise furche ich den Tag so lange, bis er zu Ende geht. Ich bin ein Arbeitstier, ein Ackergaul. Doch momentan schreibe nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, ich kann nicht einmal mehr U-Bahn fahren. Ich habe ein dreiviertel Jahr mit Menschen gearbeitet, die nach Berlin geflohen sind. Nachrichten sind seither keine Nachrichten mehr. Wenn ich Bilder aus Idomeni oder von der türkischen Grenze sehe, dann sehe ich Kinder, die ich kenne.

Wenn ich daran denke, dass Du in einem Land lebst, in dem man nicht sicher ist, dann frage ich mich, wie Du das aushältst, wie man das aushalten kann. Und ich frage mich, wie sich die Situation der nach Europa fliehenden Menschen aus Deiner Perspektive heraus darstellt. Ich weiß nicht, wie heikel das ist, mir davon zu erzählen. Ob es überhaupt heikel ist oder Alltag oder beides. Ich kann mich in Deine Situation nicht hineinversetzen. Ich bin in Frieden aufgewachsen. Bis letzten Sommer ist mir der Krieg nur nah gegangen, aber noch nie nah gekommen. Es kommt mir inzwischen so unwahrscheinlich vor, dass man dreiundvierzig Jahre alt werden kann, ohne mit dieser Seite des Lebens konfrontiert gewesen zu sein, aber es war so. Jetzt ist es anders.

Angefangen hat alles letzten Sommer. Da rief eine Freundin von mir an. Es war Freitagabend. Es goss in Strömen. „Hier stehen Familien mit kleinen Kindern. Kannst Du bitte eine abholen? Ihr habt doch ein Gästezimmer“, sagte sie, und als ich losfuhr, wusste ich, dass diese Fahrt mein Leben ändern würde.
Eine junge Familie aus Mossul stieg in mein Auto. Die Frau war schwanger, der Mann hatte tiefe Schatten im Gesicht, der 3-jährige Sohn weinte die ganze Fahrt hindurch. Mein Mann war über das Wochenende verreist, ich traute mich nicht, sie zu mir nach Hause zu holen, und brachte sie in ein kleines Hotel. Tagsüber lernten wir uns kennen. Nach dem Wochenende brachte ich sie bei Freunden unter und versuchte tagsüber mit ihnen die vollkommen chaotischen Berliner Behörden zu meistern, vor denen teilweise tausende von Menschen auf dem Boden lagerten. Anfangs ohne Wasser. Lange Zeit ohne ausreichende medizinische Versorgung. Einmal sah ich eine Hebamme durch die Menge laufen und rufen: „Wo ist hier die Geburt?“
Ich beschloss, ein Jahr lang kein Buch zu schreiben, sondern mit Newcomern zu arbeiten. Viele meiner Freundinnen haben nach dem Abitur ein soziales Jahr gemacht, damals ging es bei mir vor allem um Partys und Jungs. Es wurde also Zeit.

Inzwischen sind die Iraker und ich Freunde, das zweite Kind ist vor ein paar Wochen auf die Welt gekommen. Es ist ein Junge, er heißt Ayham und ist bildschön. Es geht ihnen gut. Sie lernen Deutsch. Wir haben eine Wohnung für sie um die Ecke gefunden, ihr Sohn geht in den Kindergarten der Schule meiner Kinder. Esra, die Frau, hat einen wunderbaren Humor, Radwan, ihr Ehemann, taut auf, für den kleinen Anas bin ich mittlerweile die Tante. Wir lachen viel.

Ich habe Anfang des Jahres mit 100 Frauen die Organisation „Wir machen das“ (www.wirmachendas.jetzt) gegründet und mich nebenher um weitere Familien gekümmert. Ein ganzes Jahr habe ich doch nicht geschafft. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Die vielen Geschichten von traumatisierten Menschen nicht, mein Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Ohnmacht nicht. Ich habe in dieser Zeit Kinder getroffen, die aus dem Krieg nach Berlin geflohen sind, und hier gehungert haben. Ich habe reihenweise obdachlose Familien in den Parks rund um unsere Wohnung gesehen. Alte, Kinder, Menschen im Rollstuhl. Noch vor einem Jahr hätte ich das nicht für möglich gehalten. Merkels Satz „Wir schaffen das“ war goldrichtig. Wir hätten es schaffen können. Europa hätte es schaffen und damit zu der Wertegemeinschaft werden können, die neben allen Gorillas und wirtschaftlichen Interessen, in ihm steckt.

Der Kuchen ruft. Während ich die zweite Schicht Teig auftrage, merke ich, dass ich ihn wirklich brauche, um über dieses Thema überhaupt schreiben zu können. Ich habe ihn jetzt wieder in den Ofen geschoben. Ich werde Dir ein Foto schicken, ihn mit meinen Kindern essen und ihnen von Dir erzählen. Du hast auch Kinder. Das war das erste, was Elisabeth Ruge, unsere gemeinsame Freundin, sagte, als sie mir von Dir erzählte. Ihr werdet Euch mögen, hat sie gesagt. Ich mochte Dich schon müde im Kölner Hotel.

Ich bin seit Monaten müde. Ich bekomme die Geschichten der Menschen nicht mehr aus dem Kopf, sie zeigen mir Fotos auf ihren Handys, die ich nicht verkraften kann. Ich habe mir diese Welt jetzt ein paar Monate ungefiltert angeschaut und versucht offen zu bleiben. Das war zu viel. Gleichzeitig hat Europa diese gefolterten, vertriebenen Menschen in einem Menschenhandel mit der Türkei ausgeschlossen. Europa, das immer so viel Wert auf Solidarität und den Einzelnen gelegt, das die Durchlässigkeit seiner Grenzen gefeiert hat, hat dicht gemacht. Jetzt geht es überall um Radikalisierung und Renationalisierung – als wäre die Vision von Europa ein Missverständnis gewesen. Dass ich entgleist bin, hat gleichermaßen mit meinen fehlenden Filtern und Grenzen als auch etwas mit dieser Seite Europas zu tun. Wenn Du mir noch vor einem Jahr gesagt hättest, dass politische Entscheidungen mich persönlich in diesem Ausmaß aus dem Gleichgewicht bringen könnten, hätte ich das nicht für möglich gehalten.

Kennst Du Julia Kristevas Essay, in dem sie Europa als Patientin auf die Couch legt? Es ist ein seltsamer Text und er ist ein paar Jahre alt, aber er hat mir, als ich ihn las, etwas im Denken eröffnet. Kristeva schreibt, dass die europäische Fähigkeit, dem Einzelnen einen besonderen Wert beizumessen, ein Schutzdamm gegen Nivellierung und Banalisierung darstellt. Genau dieser Schutzdamm ist gebrochen in den letzten Monaten.
Kristeva schreibt, dass Wanderschaft, Erkenntnis, Respekt vor dem Singulären, Zweifel und Befragung das Fundament der europäischen Kultur bilden. Und jetzt? Jetzt denkt Europa die Menschen, die hierher fliehen, nicht als Einzelne, sondern als Masse. Und ich weiß nicht, was Europa sein soll, wenn es genau jetzt seine Ideale verrät.

Ich muss aufstehen und die dritte Schicht Teig auf der zweiten verstreichen. Es duftet für Dich, Zeruya, nach Zitronen und Zucker, das Marzipan rieche ich nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob Du Marzipan magst und was Europa für Dich ist. Aber bald ist der Kuchen fertig und bald werde ich einen Brief von Dir bekommen. Esra schenkt mir jedes Mal einen selbstgebackenen Kuchen, wenn sie mich besuchen kommt. Ich werde ihr nachher einen Teil Deines Kuchens vorbeibringen und ihr von Dir erzählen. Doch vorher muss ich noch die letzten Schichten backen. Ich bin froh, dass noch Zeit und Raum bleibt, Deiner Antwort entgegenhören, bis der Kuchen ausgekühlt ist.

Herzlich, Annika

16. August 2016 – Antwortbrief nach Berlin versendet (Shalev an Reich)

Zeruya Shalev

Haifa, den 16. 8. 16

Brief an Annika
Liebe Annika

bitte entschuldige meine späte Antwort auf Deinen Brief. Ich bekenne, dass ich es seit jeher vorgezogen habe, Briefe zu erhalten, als welche zu beantworten. So wie ich es lieber habe, zuzuhören als zu reden. Ich glaube, es war Marcel Reich-Ranicki, der in seinem Buch Schriftsteller als Menschen beschrieben hat, denen es erstaunlicherweise schwerfällt zu schreiben. Auf mich trifft das tatsächlich zu. Literarisches Schreiben fällt mir im Allgemeinen leicht, aber jedes andere Schreiben – Briefe, Reden, Aufsätze und sogar kurze Widmungen fallen mir sehr schwer, wirklich lächerlich schwer. Kennst Du diese Schwierigkeit? Als wären Worte nur für die Literatur bestimmt und jede andere Verwendung wäre unnatürlich.
Doch nicht deshalb habe ich so lange gebraucht, um Dir zu antworten, sondern wegen der Umzugskartons, an die Du am Anfang Deines großartigen Briefs erinnert hast. Ja, in den letzten Monaten habe ich vor allem Kisten gesehen. Ich packte Tag für Tag mein Leben in Dutzende von Umzugskartons, sortierte, warf weg, entfernte, ordnete – Bücher, Briefe, Bilder, Zeitungsausschnitte, Kleider, Spielsachen, Möbel, Spielsachen, Geschirr und andere Gegenstände, verschiedene und seltsame, die sogar schriftlich schwer zu ordnen sind. Langsam leerte sich das Haus und füllten sich die Umzugskartons. Über einen Karton breitete ich eine Tischdecke und verwandelte ihn in einen Esstisch. Auf einen zweiten stellte ich den Computer und dachte, wie wenig wir eigentlich brauchen und wie viel Überflüssiges sich angesammelt hat. Trotzdem fiel mir das Wegwerfen schwer, das Trennen. Unter den Gegenständen fand ich zum Beispiel den Computer, auf dem ich vor zwanzig Jahren „Liebesleben“ geschrieben hatte. Ich hatte ihn zu einem günstigen Preis gebraucht gekauft und die ganzen Jahre aus Gründen der Nostalgie und des Aberglaubens aufgehoben, was einem Glück gebracht hat, muss man bewahren. Doch diesmal beschloss ich, mich zu überwinden und ihn wegzuwerfen, und seither fürchte ich, dass mein Glück zu Ende ist. Und nicht nur von ihm trennte ich mich, sondern auch von unzähligen Gegenständen, die mein Leben bezeichneten, denn über allem schwebte – oder besser, lastete – ein großes Fragezeichen: War das überhaupt der richtige Schritt? War es richtig, mein Haus und meine Stadt zu verlassen und in ein anderes Haus und in eine andere Stadt zu ziehen, die ich kaum kenne?
Es war fast wie das Schreiben eines Buchs, es war vor allem Intuition. Eyal, mein Mann, hat Haifa immer geliebt, die nördliche Stadt, wo die Berge das Meer küssen. Bei unserem ersten Treffen, vor fünfundzwanzig Jahren, erzählte er mir, er habe sich von seiner Frau getrennt und beschlossen, von Tel Aviv nach Haifa zu ziehen. Aber dieses Treffen veränderte seine Pläne – innerhalb kürzester Zeit zog er zu mir nach Jerusalem, die Stadt, in die er sich sofort verliebte, und trotzdem begleitete ihn das Gefühl, etwas versäumt zu haben, seinen Traum von Haifa. In all den Jahren wehrte ich seine Versuche ab, mich davon zu überzeugen, wie gut es wäre, Jerusalem zu verlassen und nach Haifa zu ziehen, aber im letzten Herbst stimmte ich zu, dort einige Wohnungen anzuschauen, und stell Dir vor, die erste Wohnung, die wir besichtigten, verzauberte mich, und von dort aus schreibe ich Dir jetzt. Auf dem Carmelberg, mit Blick über das Meer und die Wipfel alter Kiefern. Wie gesagt, es war vor allem Intuition, oder literarischer gesagt, Inspiration. Ich wusste nicht viel über Haifa, ebenso wenig wie ich viel von dem neuen Roman weiß, den ich angefangen habe. Ich wusste nur, dass Eyal Haifa liebt und dass der Junge das Meer liebt, und dass ich bereit war zu einer Veränderung, obwohl mir Jerusalem so sehr am Herzen liegt. In den letzten Jahren habe ich dort meine Eltern bis zu ihrem Tod begleitet und hatte das Gefühl, dass die schlimmen Erinnerungen, die sich in den Straßen der Stadt auftaten, die guten verschluckten. Ich war bereit, sogar gierig darauf, in eine Stadt zu ziehen, mit der mich keine Erinnerungen verbanden.
Und so geschah es. Vor einem Monat kamen zwei Möbelwagen und wurden mit Dutzenden Umzugskartons beladen, und wir landeten samt den großen Kindern und dem kleinen Jungen und vier Katzen in dieser neuen Wohnung, die wir kaum kannten, in der Stadt, die ich auch jetzt noch kaum kenne. Tatsächlich kostete es mich einen weiteren Monat, die Umzugskartons auszupacken, für alles einen Platz zu organisieren, und für den Jungen Freunde und Freizeitclubs zu beschaffen. Und um mich in der neuen, seltsamen Kulisse zurechtzufinden und mich daran zu erinnern, warum ich das alles gemacht hatte, und um die Reue und die Fremdheit und die Sehnsucht nach Jerusalem zu überwinden.
Schau, Du schreibst über die Flüchtlinge und ich erzähle Dir von einem Umzug aus einer Stadt in die andere, in meinem Land. Und das alles nur, weil ich Dir erklären will, warum es zwei Monate gedauert hat, bis ich Deinen Brief beantworte. Es ist wegen der Umzugkartons. Du schreibst über die Flüchtlinge und ich lese Deinen Brief und weine. Was für ein Schmerz. Was für eine Katastrophe. Das Land, die Stadt, die Wohnung, die Sprache, die Verwandten, den Besitz, die Stellung, eine ganze Welt zu verlieren und in ein fremdes Land zu fliehen. Was für ein Glück hatten sie, Dich und Deine Freundinnen von dem wichtigen gemeinnützigen Verein gefunden zu haben, den Ihr gegründet habt. Was für ein Glück, dass sie in ein Land kamen, dessen Kanzlerin sich so mutig und beeindruckend verhält. Wenn ich in Deutschland leben würde, wäre ich stolz auf Euren Verein.
Ich glaube fest an die weibliche Kraft. Im letzten Sommer schloss ich mich einer Organisation an, die sich „Frauen machen Frieden“ nennt, die sich bemüht, das Verbindende zwischen uns und den Palästinensern herauszufinden. Ich denke, dass Frauen das gut können. Es ist so leicht, über die Gräben und Komplikationen zu sprechen, aber wenn wir uns darauf konzentrieren, was uns verbindet, erwächst auf einmal Hoffnung. Und Nähe. Ich spürte deutlich diese Nähe zu den palästinensischen Frauen, die in das Zelt kamen, das wir errichtet hatten, und ebenfalls über einen Stopp der Gewalt sprachen. Doch kurze Zeit danach kam es zu Messerattentaten, und wieder verletzte die Realität unsere Hoffnung. Immer wird es, bei uns und auch bei euch, lautstarke Extremisten und Schwarzseher geben, und manchmal wird es ihnen gelingen, die Politiker zu beeinflussen, und immer liegt es daran, dass man die Individualität ignoriert, an kollektivem Hass und kollektiver Angst. Ich verstehe die Angst vor dem extremistischen Islam, mir geht es ebenso. Doch wie kann man diese Angst auf den Islam im Allgemeinen und die armen muslimischen Flüchtlinge übertragen? Das ist so grausam.
Aber Annika, meine Liebe, bitte verallgemeinere nicht, was Europa betrifft! Versuche, Europa nicht als hartherziges Ganzes zu sehen. Europa bist Du schließlich auch. Und Deine Freundinnen der Organisation, und viele andere, die ihre Herzen und ihre Häuser öffnen, und natürlich auch Eure Kanzlerin, Angela Merkel.
Und bedauere nicht, dass Du ein Jahr Schreiben verloren hast. Was Du getan hast, ist so viel wichtiger als Schreiben. Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, dass das Schreiben nicht wichtig genug ist? Ohne Bezug auf Qualität oder Gedanken, ohne Bezug auf den Menschen, der schreibt, und sogar ohne Bezug auf seinen Einfluss. Ich hoffe, das kommt Dir nicht wie eine Gotteslästerung vor. Ich weiß, dass es viele Schriftsteller gibt, die sich sehr ernst nehmen und sich für sehr wichtig halten. Ich treffe sie manchmal auf literarischen Festivals, und dann habe ich immer Lust, zu ihnen zu sagen: Auch wenn dein Buch wirklich so großartig ist, wie du denkst, findest du es nicht wichtiger, eine Krankheit zu heilen, Leiden zu lindern, Kinder zu erziehen? Mir scheint, dass die Arbeit meiner Ärzte-Freunde, der Krankenschwestern und Psychologen, der Sozialarbeiter, der Lehrer und der Kindergärtnerinnen und der Wissenschaftler viel wichtiger ist als meine. Natürlich habe ich das nie zu ihnen gesagt. Nur zu einigen befreundeten Schriftstellerinnen hier im Land, die ebenfalls bereit sind, über sich selbst zu lachen. Ich habe das Gefühl, dass Du meiner Meinung bist, dass auch Du Dich nicht so ernst nimmst. Dennoch nehme ich das Schreiben ernst. Ich kann einen ganzen Tag lang über einen einzigen Satz nachdenken. Ich glaube, jeder sollte seine Arbeit so gut machen, wie er nur kann. Doch ich weiß stets, dass es wichtigere Aufgaben gibt, und wenn ich Menschen treffe, die sie erledigen, fühle ich mich jedes Mal ein bisschen beschämt. Deshalb freue ich mich immer so sehr, wenn ich von Lesern höre, meine Bücher hätten ihnen geholfen Probleme zu lösen, Entscheidungen zu fällen, etwas Neues vom Leben zu verstehen, oder sich wenigstens weniger allein zu fühlen. Dann fühle ich mich sofort nützlicher und weniger beschämt.
Du fragst, für wen ich schreibe. Vielleicht für diese Menschen, denen es etwas helfen kann, meine Bücher zu lesen. Obwohl ich nicht weiß, wer sie sind. Ich versuche ein Buch so zu schreiben, dass es mir hilft, das zu einer Veränderung führt, auch wenn sie noch so gering ist, und das mir, wenn ich es gelesen hätte, etwas von meiner Einsamkeit genommen hätte, von dem tiefen Alleinsein, das sich in uns verbirgt, auch wenn wir Freunde und Kinder und Partner haben.
So wie ich Deinen Schmerz über Europa nachfühlen konnte, konnte ich den Kuchen riechen, den Du für mich gebacken hast. Danke! Ich konnte den wunderbaren Duft des Teigs, der Butter und der Zitrone riechen und mir Weihnachten in Europa vorstellen, während draußen Schneeflocken glitzern und es im Haus warm und wohlriechend ist, wenn die Familie sich zum Fest versammelt. Ich sah Europa zum ersten Mal, als ich relativ erwachsen war. Ich war sechsundzwanzig, als ich zum ersten Mal die Grenzen meines Landes, das mit Terroranschlägen und Kriegen geschlagen ist, hinter mir ließ. Doch in all den Jahren hatte ich Europa durch Bücher und Filme und Bilder besucht, und mir scheint, dass der Kuchen, den Du mir gebacken hast, meine Phantasie vervollständigt – Schnee fällt auf kleine Städte mit einem Fluss und einer Kirche und Waldbeeren, und auf große, prachtvolle Städte mit schönen Cafés und duftenden Kuchen, und doch war, wie könnte es anders sein, Europa zugleich Gefahr und Leid und Tod – denn wie diese Flüchtlinge, denen du hilfst, waren viele Menschen meines Volkes vertrieben und herausgerissen worden und geflohen, wenn es ihnen überhaupt gelang, sich zu retten. Sie waren nach Israel gekommen, und ein Teil von ihnen hörte nicht auf, sich trotz allem nach Europa zu sehnen. Seit Jahrzehnten reise ich durch Europa, meinen Büchern hinterher – doch ich erinnere mich die ganze Zeit daran, dass ich nur eine Besucherin bin. Schon viele Jahre begleitet mich dieses absurde Gefühl, dass ich mich in Europa sicherer fühle als in meinem eigenen Land, das dazu gegründet worden war, den aus Europa geflohenen Juden Schutz zu bieten. Und in den ersten Jahren begleitete mich auch Neid, vor allem, wenn ich Kinder und Jugendliche sah, die sich sorglos auf den Straßen bewegten. Und dann dachte ich, dass meine Kinder und ihre Freunde nicht so aufwachsen dürfen. Doch in der letzten Zeit tut mir Europas, dessen Ruhe ins Wanken geraten ist, so leid, als geschähe es hier, bei uns. Es erschüttert mich sogar noch mehr, denn hier gibt es schon keine Illusionen mehr, während in Europa jedes Attentat die Illusion mehr und mehr zerstört. Und plötzlich habe ich auch in Europa Angst – ich denke manchmal, wie lächerlich das wäre, wenn mich der Terror ausgerechnet dort noch einmal treffen würde.
Aber kehren wir einen Moment zu den Umzugskartons zurück – als ich sie auspackte, fand ich in einem den zweiten Band von „Josef und seine Brüder“ von Thomas Mann, in einer alten hebräischen Übersetzung. Die ganze Nacht, nach einem langen Tag der Anpassung, las ich einige Seiten und genoss jedes Wort und jede Idee. Ich dachte an Mann, der diesen Roman geschrieben hat, als er selbst bereits Flüchtling war – und an Josef, der letztlich sein neues Land gerettet hat, und das weckte viele Gedanken. Gedanken an Europa, das schon schlimmere Zeiten als diese erlebt hat, und Gedanken an die romantische Anziehungskraft Europas auf die Levante, die sich in einer ungeheuren existenziellen Kraft in Europa verwandelt hat.
In meiner neuen Stadt, in Haifa, findet sich Hoffnung. Sie ist die toleranteste Stadt Israels, in ihr leben Juden und Araber gleichberechtigt und spannungsfrei. Mir macht es Spaß, einen arabischen Werkstattbesitzer mit jüdischen Arbeitern zu sehen. In Jerusalem war es immer umgekehrt. Vielleicht ist es seltsam, aber ich möchte Dir etwas Hoffnung schicken, ausgerechnet von hier, aus einem Land, in dem es so sehr an Hoffnung fehlt, aber selbst wenn die allgemeine Situation so düster aussieht, ist da und dort Licht zu entdecken.
Ich habe Dir noch nicht einmal auf die Frage geantwortet, ob ich Marzipan mag. Manchmal gibt es auf die einfachsten Fragen komplizierte Antworten, zumindest lange. Heben wir uns das doch für den nächsten Brief auf. Wie ich mich freue, dass ich mich auf die Bitte der wunderbaren Elisabeth Ruge eingelassen habe, mit Dir zu korrespondieren.

Deine

Zeruya.

 

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Brief nach Haifa versendet (Reich an Shalev)

Liebe Zeruya,

Dein Brief erreichte mich morgens per Mail. Ich las ihn sofort und viel zu schnell, um ihn dann sofort wieder zu verstecken – vor der Welt und vor mir. Hättest Du ihn auf Papier geschrieben, hätte ich ihn mir ganz schnell ganz tief in die Hosentasche gestopft und den Stoff danach flach geklopft.

Da ich über Erlebnisse, die mich aufwühlen, normalerweise sofort sprechen will, muss ich alles, was erst einmal allein mit mir sein will, verstecken.
Es gibt diese Nischen in meinem Bewusstsein, in denen das, was ich dort parke, tatsächlich phasenweise verschwindet.
Ich bin in diesem Vor-mir-selbst-Verstecken inzwischen ziemlich geübt. Schließlich gibt es viele Erlebnisse, die dieses aufgewühlte Schweigen brauchen, das ich so schlecht aushalte. Nicht nur die Liebe, auch die Ideen, die mein Schreiben treiben, brauchen das Schweigen. Ich probiere immer wieder aus, darüber zu sprechen, aber es klappt nie. Ausgesprochen gleichen meine Ideen gerupften, rachitischen Hühnern, während sie im Garten meines Schweigens ein Pfauenrad nach dem anderen schlagen. Ich weiß nicht, was auf dem Weg aus meiner Phantasie auf meine Zunge passiert.

Du fragst mich gleich zu Beginn Deines wunderbaren Briefes, ob mir das Schreiben aller anderer Formen als der literarischen auch so schwerfiele, und, nein: ich schreibe in welcher Form auch immer – essayistisch, journalistisch, literarisch oder in einem solchen Brief – gleichermaßen gegen Widerstände an. Die Widerstände haben unterschiedliche Nuancen, aber sie ähneln sich in ihrer Art, mir die Stirn zu bieten.

Dafür fällt mir etwas Anderes lächerlich schwer: Ich kann das, was mich schreibend umtreibt, mündlich kaum ausdrücken. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, das mein schreibendes und mein sprechendes Ich sich nicht besonders gut kennen. Wahrscheinlich schreibe ich das, was ich nicht sagen kann; nur ist das eben schwer auszuhalten, weil ich doch so gerne über das rede, was mich bewegt.
Ich spreche trotzdem oft übers Schreiben. Zu oft. Vielleicht tue ich das, um mir vorzumachen, dass es mich nicht einsam machte. Die Einsamkeit ist für mich der Ausgangspunkt und der Überschuss des Schreibens. Ich kenne das tiefe Alleinsein, von dem Du schreibst, so gut. Und ich schreibe auch wie Du, um die Einsamkeit für andere und mich selbst erträglicher zu machen.

Immer wenn ich nach einem sprachlichen Bild für die Gegenwart suche, bin ich erst dann getröstet, wenn ich Übereinstimmungen mit dem irritierten Außen oder Irritationen des in Übereinstimmungen festgefahrenen Außen gefunden habe, wenn sich also Resonanzen aufbauen, die über weite Entfernungen klingen. Doch wenn das Buch dann in der Welt ist, merke ich, dass es wieder nicht funktioniert hat. Sehnsucht und Enttäuschung, das sind die Pole. Dazwischen die einsame Arbeit. Und trotzdem…

Inzwischen habe ich Deinen Brief aus seinem Versteck geholt und die Bilder aus Deinen Zeilen begleiten mich durch den Tag: Die eingepackten und ausgepackten Kartons, die Schreibmaschine, auf der Du Liebesleben geschrieben hast, die alten Kiefern vor Deiner neuen Wohnung in Haifa, das Meer.
Was Du über die Kinder hier in Europa schreibst, bewegt mich. Dass sie sich anders als Deine in Israel sorglos auf den Straßen bewegen könnten und Dich das anfangs mit Neid erfüllt habe. Ich konnte diesen Neid sofort nachempfinden, als ich das las, und war gleichzeitig erschreckt darüber, aus dieser Perspektive noch nie auf die Welt geschaut zu haben. Dass Du Dich in Europa sicherer fühlst als in Deinem Land, das doch zum Schutz gegründet worden ist – auch dieser Satz lässt mich nicht mehr los. Am wenigstens geht mir jedoch aus dem Kopf, dass Du mir Hoffnung schicken möchtest; aus einem Land, dem es so sehr an Hoffnung fehle, wie Du schreibst. Dieser Satz beschämt mich, und ich glaube, diese Scham hat mit den Bildern zu tun, die ich mir bis letzten Sommer von Europa gemacht habe, und mit der Desillusionierung, die ich seither durchlebe.

Im letzten Brief habe ich noch von meinem erschütterten Glauben an Europa als Wertesystem geschrieben. Jetzt – schon wenige Monate später – würde ich sagen, dass es viel erschütternder ist, dass ich so lange und gegen alles bessere Wissen an diesem vermeintlichen Wertesystem festgehalten habe.

Den letzten Brief habe ich Dir noch in einer Zeit geschrieben, in der es mir nicht gut ging, und ich weiß noch genau, wie sehr ich mir gewünscht habe, den zweiten schon von einem anderen Punkt heraus schreiben zu können. Und so ist es zum Glück auch. Ich kann wieder U-Bahn fahren, ich weine nicht mehr so viel und ich schreibe wieder. Das ist eine große Erleichterung.
Doch vielleicht gerade weil ich persönlich wieder stabiler bin, kann ich noch klarer sehen, wie sehr die Situation eine radikale Umwertung unseres europäischen und auch meines ganz persönlichen Selbstverständnisses verlangt.
Auch wenn das seltsam klingt und mich das selbst vielleicht am meisten überrascht: Ich kann diese Umwertung körperlich spüren. Zunächst als Schwindel und Taubheit, mittlerweile als Dünnhäutigkeit und Fragilität. Ich glaube, diese Körperlichkeit hat etwas damit zu tun, dass die Umwertung in dem Moment beginnt, in dem man seinen eigenen blinden Fleck verlässt. Wie verunsichernd das ist, erfahre ich gerade täglich am eigenen Leib.

Wir beide sind ja nicht die einzigen Briefeschreiberinnen, die sich im Rahmen der Europäischen Korrespondenzen gerade über das fragile Europa austauschen, und ich verfolge mit großem Interesse wie es den anderen Autorinnen und Autoren damit geht. Leider kannst Du das nicht lesen, weil es nur auf Deutsch publiziert wird. So schreibt der deutsche Autor Björn Bicker zum Beispiel an Ece Temelkuran aus der Türkei, dass in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg die Illusion aufgebaut worden sei, Fragilität sei besiegbar. Nachdem alles kaputt war, die Häuser, die Menschen, die Beziehungen, alles, hätten die Deutschen sich in dieser vermeintlichen Sicherheit eingerichtet. Laut Bicker merkten wir Deutschen erst jetzt, dass es nie eine Nachkriegszeit gegeben habe.
Das, was er da schreibt, klingt in mir. Ich habe tatsächlich die meiste Zeit meines Lebens in dieser Illusion gelebt. Ich wusste natürlich, dass ein Teil dieser Sicherheit auf Kosten Anderer erkauft war, aber das hat trotzdem nicht dazu geführt, mein Selbstverständnis Europas und mein eigenes Sicherheitsgefühl in seinen Voraussetzungen anzuzweifeln.

Seit ein paar Monaten fange ich nun an zu begreifen, dass die Selbstgewissheit der eigenen Werte der blinde Fleck Europas ist und wie sehr mich dieser blinde Fleck selbst geprägt hat. Ich staune jetzt darüber, dass das funktionieren konnte. Denn ich bin ja, wie die meisten Deutschen über meine Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Shoah politisiert worden. Wie es von diesem Ausgangspunkt, der ja gerade dafür steht, niemanden je wieder aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bzw. einer Religion auszuschließen, zu einem solchen Selbstverständnis kommen konnte, ist mir inzwischen ein Rätsel.
Mein Zusammenbruch hatte eben auch damit zu tun, dass die Abkapselung in der Illusion einer sicheren Welt nicht mehr funktioniert. Nur weiß ich noch nicht, wie ich mit diesem desillusionierten Blick auf die Welt leben kann. Ich bin darin – trotz meiner Sozialisation – im täglichen Leben so lächerlich ungeübt.
Und so versuche ich momentan jeden Tag aufs Neue auszuloten, wie weit ich mich auf diese Fragilität einlassen kann, ohne die Stabilität zu verlieren, die ich brauche, um offen zu bleiben. Es bleibt ein Drahtseilakt. Inwieweit er dem Prozess ähnelt, den Du von Deinen Treffen mit den palästinensischen Frauen erzählst, kann ich nicht beurteilen, aber ich bin mir sicher, dass Du dafür noch viel mutiger sein musst.

Vielleicht ist diese Ungeübtheit in eingestandener Fragilität und Mut auch ein Grund für die Angst, die in Europa umgeht und alles nach rechts dreht. All das, worauf die Europäer so stolz sind: unsere Aufklärung und unsere Demokratiegeschichte, unsren Humanismus und unsere Weltoffenheit, ertrinkt gerade mit den fliehenden Menschen im Mittelmeer. Und vielleicht ist es so, dass viele deswegen diesen fliehenden Menschen die Schuld zuschieben, um ihren blinden Fleck und damit die vermeintliche Stabilität nicht verlassen zu müssen.

Die Figur des „Flüchtlings“ fördert dabei sowieso nur etwas zu Tage, das viel älter und tiefer in Europas Mitte verankert ist, als wir das wahrhaben wollen. Wenn wir jetzt auf die rechtspopulistischen Parteien zeigen – am liebsten auf die in Osteuropa – dann agieren wir immer noch aus dem blinden Fleck heraus, aus dem Europa sich seiner Werte so gewiss sein kann.
Es liegt jetzt an uns selbst. An der so genannten „Mitte“, die ich Zeit meines Lebens – trotz aller Erschütterungen – in ihren Grundfesten als unerschütterlich erachtet habe. Es liegt jetzt an der gesellschaftlichen „Mitte“, nicht an den Flüchtlingen und auch nicht an den Rechtsradikalen. Ich versuche das jeden Tag aufs Neue zu verstehen.

Letzte Woche saß ich bei einem Abendessen mit Freunden, und alle hatten Angst. So etwas habe ich noch nie erlebt. Die Angst galt nicht dem islamistischen Terror, sondern der europäischen Reaktion darauf. Einerseits war es also die Angst vor der Explosion rechten Terrors und der immensen Zunahme rechter Gewaltakte, andererseits war es die Angst vor der Reaktion der politischen Mitte, die auf den Rechtspopulismus selbst mit einem Rechtsruck reagiert.

Die große Frage, die ich mir stelle, ist nun: Wie kann man diese Ängste, die um eine (illusionäre) europäische oder nationale Identität kreisen, verringern, wenn Fakten nichts bewirken? Wie kann man den blinden Fleck verlassen und die eigene Rolle reflektieren, ohne sich dabei so zu destabilisieren, dass man sich wieder abkapseln will?

Befreundete Schriftstellerinnen und ich werden in letzter Zeit öfter nach einer neuen europäischen Erzählung gefragt. Das einzige, was mir immer dazu einfällt ist, dass diese Erzählung, wenn sie nicht wieder in einer Sackgasse münden soll, ganz anders darüber reflektieren muss, wer dazu gehört (hat) und wer nicht. Europa wird sich von dem geschichtsverlorenen christlich/weißen Bild seiner Bürgerinnen und Bürger trennen und sich aus einem anderen Wir heraus erneuern müssen, das nicht mehr auf irgendeiner Version von Reinheitsdenken basiert. Diese Erzählung wird von dem strukturellen europäischen Rassismus und seiner Geschichte ausgehen müssen, und sich von dort aus entfalten.
Was passieren muss, damit diese Geschichte endlich erzählt, gesehen und gehört werden kann, weiß ich nicht. Ich weiß selbst nicht, wie ich sie erzählen soll.

Wenn ich mich stabil fühle, denke ich: je stärker der Wind von rechts weht, desto mehr muss ich ihn zu meinem Rückenwind machen. Ich muss weiter die vielen positiven Geschichten sammeln, die es jeden Tag zu erzählen gibt von gelungenem Zusammenleben und aufbrechenden Bildern. Wenn ich mich schwach fühle, will ich mich in dem europäischen Weihnachtsbild verstecken, von dem Du schreibst. Und dass obwohl doch Weihnachten oft ganz grauenhaft ist, weil sich zu keinem anderen Fest die Dysfunktionalität von Familien so deutlich zeigt wie an Weihnachten. Komm also bloß nie zu Weihnachten nach Deutschland. So schön können die Schneeflocken gar nicht durch die Luft schweben.

Eine israelische Bekannte schrieb mir neulich, dass wir gerade die Israelisierung der europäischen Lebensrealität erfahren, aber ich denke, das bezog sich vor allem auf die Angst vor islamistischem Terror. Oder bezieht es sich auch auf die Angst vor den Reaktionen darauf? Und ist das überhaupt so, oder ist das eine vollkommen unzulässige Reduktion des Lebensgefühls Deines Landes? Ich kann auch das nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass ich seit letztem Sommer anders über die Situation in Israel nachdenke. Und seit ich Deinen Brief bekommen habe, bekommt dieses Nachdenken noch einmal einen ganz anderen Zug.

Wie gerne würde ich jetzt mit Dir in Deiner neuen Wohnung in Haifa sitzen, Dich all das fragen und dabei aufs Meer schauen. Ich würde Dir das Chutney mitbringen, das ich jetzt, nachdem ich diesen Brief beendet habe, für Dich kochen werde. Mit Birnen und Kiwis. Wir würden über etwas ganz anderes sprechen, weil ich über die Dinge, die ich hier geschrieben habe, gar nicht so gut sprechen kann. Wir würden viel lachen statt über Europa und die Einsamkeit zu sprechen.

Solange ich noch nicht in Haifa sein kann, schick mir doch Deine Adresse, dann schicke ich das Chutney schon einmal vor. Elisabeth Ruge werde ich auch ein Glas davon vorbeibringen, als Dank dafür, dass sie auf die wunderbare Idee kam, uns zu verbinden. Ich werde die Birnen und die Kiwis jetzt mit einem Lachen für Dich schneiden und alle Zutaten mit einem Lachen verrühren, damit es auch schmeckt.

Deine Annika

Brief nach Berlin versendet (Shalev an Reich)

Zweiter Brief an Annika

Meine Liebe,

als ich Deinen Brief las, hatte ich mitunter das Gefühl, ihn selbst geschrieben zu haben. Einige Absätze beschrieben meine Empfindungen so genau, dass ich plötzlich dachte, ich lese meinen Brief an Dich und nicht Deinen Brief an mich. Ich liebe das Gefühl sofortiger Nähe so sehr, die nichts mit biografischen oder geografischen Fakten zu tun hat, sondern mit seelischer Tiefe. Manchmal empfinde ich das auch, wenn ich Leser treffe, und das ist ein natürliches und gesundes Heilmittel gegen die Einsamkeit, die Du in Deinem Brief beschrieben hast. Oder war das in meinem Brief?

Zum Beispiel darüber, wie schwierig es ist, über Ideen und Schreiben zu sprechen. Das bringt mich jedes Mal in Verlegenheit und macht es mir fast unmöglich, die an sich triviale Frage zu beantworten: Worüber schreibst du? Womit beschäftigst du dich in Deinem neuen Buch? Und das Gefühl, dass das schreibende Ich und das sprechende Ich einander nicht so gut kennen. Dieses Rätsel begleitet mich schon seit Jahren. Nicht nur, dass sie sich nicht besonders gut kennen, sondern dass sie auch grundverschieden sind. Wenn ich manchmal etwas lese, das ich erst am Tag zuvor geschrieben habe, kommt es mir vor, als habe ein anderer diesen Text verfasst, denn ich erkenne nichts, was von mir hätte stammen können. Eines Morgens war ich so überrascht von dem Text, der auf meinem Bildschirm erschien, dass ich meine Tochter anrief, die gerade am Weggehen war, und sie bat, sich eine eigene Datei zu erstellen und nicht mehr in meinen Text zu schreiben. Sie wusste natürlich nicht, worüber ich sprach.

Vermutlich schreibe ich auf einer völlig anderen Bewusstseinsebene als der normalen, alltäglichen. Dieses verborgene Bewusstsein beinhaltet alle möglichen Gedanken, Einsichten, Erinnerungen und Geschichten, die ich sonst nicht wahrnehme. Es ist eine verborgene innere Quelle, von der ich nicht weiß, was sie enthält und wann sie ausgetrocknet sein wird. Das verleiht dem Prozess des Schreibens eine ständige Erregung, das Gefühl von Überraschung und Abenteuer, und andererseits auch eine Spannung, die sich nicht kontrollieren lässt, denn ich habe das Gefühl, dass die Dinge nicht von mir abhängen, sondern aus einem aalglatten und irreführenden Kanal stammen. Denn das Beharren auf einer Inspiration ist, als wolle man sich an der Luft festhalten, an einem Windhauch.

Zum Guten und zum Schlechten wird es mit der Zeit nicht leichter, trotz der Erfahrung und der schon geschriebenen Bücher. Jedes Buch ist wie das erste, jeder Satz wie der erste. Auch wenn ich versuche zu tricksen, zu planen, einen Plot zu entwickeln und mir Dinge in der Phantasie vorzustellen, schaffe ich es nicht, den Schreibprozess auf eine befriedigende Art zu beherrschen. Kennst Du das? Denn es gibt Schriftsteller, die anders schreiben. In den Jahren, in denen ich als Lektorin arbeitete, lernte ich viele verschiedene Schreibprozesse kennen, und Schriftsteller, die alles im Voraus genau geplant hatten und wussten, welches Ziel sie erreichen wollten. Das hat viele Vorteile, mehr Kontrolle und weniger Spannung, andererseits ist es aber weniger aufregend und überraschend. Es gibt dabei kein Besser oder Schlechter, es ist eine Frage der Wahl. Auch wenn ich versuche, etwas zu planen, ist es irgendwie ein Schlag ins Kontor. Das geheimnisvolle Geschöpf, das entstehende Buch, weist meine Pläne oft zurück, als wäre es ein menschliches Wesen. Dann spüre ich, dass ich diesem Prozess Gehör verschaffen muss, nicht weniger als der Geschichte. Dem Buch, den Protagonisten, den Metaphern und den Wörtern. Genau wie Du in Deinem Brief Einsichten beschrieben hast, die mit physischen Empfindungen zu tun haben – auch mir geht es so beim Schreiben. Wenn ich einen Absatz lese, oder auch nur ein Wort, das ich geschrieben habe und ihn oder es für zu laut oder zu gekünstelt halte, spüre ich eine körperliche Abneigung und sogar eine leichte Übelkeit.

Diese Blockaden, die Du erwähnt hast und mit denen Du Dich auseinandersetzt – wie gut kenne ich diese Ungeheuer! Manchmal fühle ich mich wie mitten in einem Märchen. Ich irre herum, ich finde Engel der Inspiration und Ungeheuer des Zweifels. Zum Glück haben komplizierte Probleme oft einfache Lösungen, und die einfachste Lösung, die mir hilft, ist Kontinuität. Je mehr Kontinuität das Schreiben mit sich bringt, umso schwächer werden die Blockaden. Doch auch das ist eigentlich nicht so einfach, weil bei mir die Kontinuität alle paar Wochen durch beruflich bedingte Reisen unterbrochen wird, und dann muss ich den ganzen Prozess von neuem beginnen. Über die Tora sagt man: „Wenn du sie einen Tag vernachlässigst, vernachlässigt sie dich für zwei Tage“, und das scheint auch für weniger heilige Tätigkeiten zu gelten, nicht nur für das Studium der Tora. Gibt es einen solchen Spruch auch auf Deutsch? Und in deinem Leben? Natürlich könnte ich leichter schreiben, wenn ich aufhören würde zu reisen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich entwachsenen Kinder – die Bücher, die ich schon geschrieben habe – nicht um des neuen Babys willen – das Buch, das gerade geschrieben wird – vernachlässigen darf, und so kümmere ich mich um sie, gebe Interviews und komme atemlos nach Hause, zurück zu dem Buch, das im Bauch des Computers ruht, und finde es misstrauisch und unwillig, weil ich so lange nicht da war, und bis ich es beschwichtigt und sein Vertrauen wiedergewonnen habe, steht eine neue Reise an.

Diese Woche zum Beispiel war ich in Polen, um das Buch „Schmerz“, das dort gerade erschienen ist, zu begleiten. Ich habe dabei viel an Dich und an Europa gedacht. An das Europa, wie man es bis jetzt gesehen hat, und an das Europa, das sich, jedes Land auf seine Weise, mit Änderungen auseinandersetzt. In Polen sieht Europa weißer aus denn je, ohne Flüchtlinge, Einwanderer, Fremde. Weiß und christlich und angeblich beschützt, aber die meisten Menschen, die ich dort getroffen habe, machen sich Sorgen wegen dieser Entwicklung und streben, wie Du, einen Wechsel der Werte an.

Betrübt lese ich von der geplatzten Illusion, Deiner Illusion von einer sicheren Welt. Ich frage mich, was besser ist: ohne Illusionen zu leben oder sich mit einer geplatzten Illusion auseinanderzusetzen. Denn ich hatte nie eine sichere Welt. So lange ich mich erinnern kann, hatte ich Angst. Ich wuchs an der Grenze zu Jordanien auf, und manchmal schossen sie nachts auf unsere Häuser, und wir rannten in der Dunkelheit zum einzigen Luftschutzkeller am Ort. Eines meiner ersten Gedichte habe ich im Luftschutzkeller geschrieben, über eine junge Mutter, die ihr erst zwei Tage alte Tochter dort stillte, während draußen Bomben fielen, in einem Krieg, von dem man nicht wusste, wann und wie er zu Ende gehen würde. Er endete zwar sechs Tage später mit einem Sieg, das war 1967, und die Grenze rückte weiter von uns weg, aber die Ängste blieben. Angst vor dem nächsten Krieg, vor Terroranschlägen, vor Entführungen, vor dem Tod der Kinder. Meine Mutter hatte ihren ersten Mann im Krieg 1948 verloren, genau wie die meisten ihrer ehemaligen Klassenkameraden, und hat mir viel über Angst, Verlust und Trauer erzählt, und so entwickelte sich bei mir ein scharfes Bewusstsein dafür, dass wir, mit einer tragischen Geschichte hinter uns, in einem kleinen, bedrohten Land leben, auf einem kleinen Stück Erde, das wir unter großen Schwierigkeiten zurückbekommen haben, und auch das ist umstritten.

Und jetzt sagt eine Freundin zu Dir, dass ihr das Leben bei euch ein bisschen sraelisch vorkomme. Ja, es klingt israelisch. Die Angst vor dem Terror und vor der Reaktion auf den Terror, die politische Mitte, die einen Rechtsruck erlebt, und auch der schmerzliche Konflikt zwischen Menschenrechten und Sicherheit.

Diese schwierigen Fragen lassen sich vielleicht beantworten, wenn man sich auf das konzentriert, was vereint, an die gemeinsamen Bedürfnisse, und wenn man versucht, über die Unterschiede hinwegzuschauen. Und wenn man es schafft, sich gegen die Extremisten jeder Couleur zu vereinen und eine körperlich und geistig gesunde Mehrheit zu bilden. Das ist es, was wir in „Frauen machen Frieden“, Women Wage Peace, versuchen, und mit gewissen Anpassungen lässt sich das vielleicht auch in Europa verwirklichen. Im letzten Monat hat die Bewegung einen Marsch durch ganz Israel organisiert, vom Norden bis in den Süden, angeführt von zwei beeindruckenden Frauen, einer Jüdin und einer Araberin, und während eines Teils des Marsches, im Jordantal, gesellten sich tausend palästinensische Frauen zu uns.

Es war wie eine Fata Morgana, zu sehen, wie sie aus den Bussen stiegen, in brütender Hitze, die meisten von ihnen traditionell gekleidet, und auf uns trafen, auf tausende weiß gekleidete israelischer Frauen, und gemeinsam wanderten wir zur Taufgedenkstätte am Jordan. Stell dir nicht den Rhein oder die Donau vor – hier handelt es sich eher um ein flaches, gelbliches Rinnsal, dem man in Europa keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte –, aber an jenem Morgen war es, als würde diese Gegend, die Schauplatz so vieler biblischer Wunder war, ein neues Wunder erleben, denn die Hitze der Begegnung war stärker als die Hitze der Wüste.

Wir hielten uns an den Händen wie kleine Mädchen, wir umarmten einander, wir stellten uns gegenseitig die einfachsten Fragen: Wie heißt du? Wo kommst du her? Und wir sagten einander: Schön, dass du gekommen bist. Denn jede von uns war gleichzeitig Gast und Gastgeberin. Und wir fragten einander: Kann ich ein Foto von dir machen? Nun, da ich Dir das schreibe, betrachte ich wieder die Fotos, um mich zu vergewissern, dass das alles wirklich stattgefunden hat. Für einige Stunden haben wir es geschafft, daran zu glauben. Gemeinsam hörten wir uns die mitreißende Rede von Leymah Gbowee an, der Friedensnobelpreisträgerin von 2011, die es geschafft hat, zusammen mit anderen Frauen den Bürgerkrieg in ihrem Land zu beenden.

Wenn Frauen den Krieg satt haben, können sie den Frieden bringen, sagte sie, und sprach über die Kraft des gewaltlosen Protestes und über die Neigung der Frauen zum Gemeinsamen und nicht zum Trennenden. Sie sprach davon, dass Freundinnen und Partnerinnen, die das gleiche Ziel haben, stärker sein können als jeder Glaube. Und während ich ihr zuhörte, dachte ich, das könnte vielleicht auch hier möglich sein. Wenn wir viele sind, wenn wir fest entschlossen sind und wenn wir zusammenarbeiten, könnten wir die Regierenden dazu zwingen, miteinander zu sprechen. Dass sie, wie wir, versuchen, das Gemeinsame zu sehen und nicht das Trennende, um Vertrauen zu gewinnen und Hoffnung zu schöpfen.

Die Hoffnung dieser Bewegungen ist die Gegenseitigkeit, die Partnerschaft. Leymah Gbowee schaffte es, die Frauen beider Fronten zu vereinen – Muslimas und Christinnen. Deshalb war ich so bewegt am Jordan, mehr als bei anderen Friedensdemonstrationen, denn keine israelische Demonstration kann effektiv sein ohne die andere Seite. Sollten israelische Mütter ihre Söhne nicht mehr zur Armee schicken, würde das leider nicht zum Frieden führen, sondern zu einem schrecklichen Blutvergießen. Würden aber beide Seiten ihre Söhne zur Gewaltlosigkeit erziehen –, dann könnte es gelingen.

Entschuldige, dass ich über Israel und nicht über Europa schreibe. In Europa bin ich nur Gast und kann mir kaum eine eigene Meinung bilden. Doch ich wage es und sage, dass es auch bei euch wichtig wäre, den Dialog mit jenen zu suchen, die anderer Meinung sind. Frauen von links und von rechts. Frauen aus dem rechten Flügel mit Flüchtlingen zusammenbringen. Zu suchen, was verbindet. Zu welchem gemeinsamen Nenner man kommen kann.

Ja, Europa wird sich verändern, und das geschieht vor Deinen Augen, Du bist ein Teil davon, und Du versuchst, diese Veränderungen zu einem positiven Wandel zu gestalten. Das ist beeindruckend und hoffentlich auch realisierbar. Ich hoffe so sehr, dass Europa es schafft, die Flüchtlinge zu integrieren und dass es für beide Seiten ein Erfolg sein wird. Diese Vermischung lässt große Hoffnung aufkeimen. Auch in den schlimmsten Zeiten in Jerusalem hat es mich immer ermutigt, wenn ich in die Altstadt ging. Das Zusammentreffen mit Palästinensern auf dem einfachsten gemeinsamen Nenner, Essen und Trinken, Verkaufen und Kaufen erfüllte mich mit Hoffnung. Denn wenn man gemeinsame Interessen hat, entsteht eine menschliche Begegnung, und das lässt Hoffnung aufkommen, nicht weniger als erhabene Ideen, glaube ich.

Ja, bei euch weht eine Art israelischer Wind, aber, Gott sei Dank, ein noch sehr milder. Noch kann man lachen, in Europa und auch hier. Und ich bin sicher, wir würden viel lachen, wenn Du mich besuchst. Und danke für das Chutney! In jedem Brief kochst Du etwas für mich, das ist sehr großzügig. Ich hätte Dir den nahöstlichen Hummus geschickt, aber der hält die Reise nicht aus. Deshalb musst Du herkommen und ihn hier essen, mit Blick aufs Meer. Wenn Du über Essen schreibst, spüre ich die Tiefe der Tradition, die hinter jedem Gericht steckt. Mir fehlt das. Die Pioniere, die Anfang des 20. Jahrhunderts hierher kamen, unter ihnen meine Großeltern, wollten etwas Neues und lehnten jegliche Tradition ab. Meine Mutter wuchs in einem Kibbuz auf, zu dessen Gründern meine Großeltern gehört hatten, sie haben noch nicht einmal ein Omelett zubereitet. Stell Dir vor, als sie mit sechsunddreißig Jahren den Kibbuz verließ, mit einer Tochter, die erst wenige Monate alt war (das war ich) und einem Jungen von eineinhalb Jahren (mein Bruder), hatte sie Angst, wir könnten verhungern, weil sie sich nicht darauf verließ, uns ernähren zu können. Mein Vater brachte ihr das Wenige bei, was er wusste, und langsam machte sie Fortschritte. Aber sie hatte nie Spaß am Kochen und verbreitete nie eine festliche Stimmung oder irgendeine Tradition, die mit dem Essen zu tun hatte.

Auch in meinem Zuhause wurde Kochen nicht zum Zentrum des Geschehens, obwohl mein Mann und ich in den letzten Jahren unser Talent mit der veganen Küche ausprobieren. Wenn Du mich besuchen kommst, koche ich für Dich Tofu mit Linsen, und ich werde auch einen veganen Bananenkuchen backen. Im Lauf der Jahre haben mich viele Freunde aus Deutschland besucht, auch unsere liebe Freundin Elisabeth.

Und noch immer habe ich Dir keine Antwort zum Thema Marzipan gegeben. Wie gesagt, manchmal verlangen einfache Fragen sehr komplizierte oder lange Antworten. Wenn es wichtig ist, werde ich im nächsten Brief versuchen, die Sache zu klären. Zuweilen bleiben aber auch einfacher Fragen unbeantwortet.

Herzlich

Zeruya

 

 

19. Februar 2017 – Brief nach Haifa versendet (Reich an Shalev)

Meine Liebe,

meine Antwort hat lange auf sich warten lassen, das tut mir leid. Die Welt hat mich – wie so oft im letzten Jahr –  überholt. Der Brief an Dich war fast fertig geschrieben, als Trump an die Macht kam und die Proteste begannen. Danach stimmte er nicht mehr.

Weißt Du noch, wie ich in meinem ersten Brief letzten Sommer über mein Erstaunen schrieb, dass politische Entscheidungen mich persönlich so aus dem Gleichgewicht bringen können? Jetzt frage ich mich, wie es möglich war, dass ich bisher weitgehend unbehelligt davon gelebt habe.

Ich bin im letzten Jahr durchlässig für das geworden, was in der Welt passiert. Wenn ich nur formulieren könnte, wie viel in diesem Satz steckt, wie wenig er so dahin geschrieben ist, wie sehr diese Durchlässigkeit mein Körpergefühl prägt, meine Art in den Schlaf zu finden, wie sehr er meine Vorstellung dessen verändert hat, wer ich sein will.

Ich wollte, seit ich ein kleines Mädchen war, immer nur Bücher schreiben. (Obwohl, nicht ganz: Ich wollte auch Meeresbiologin und Köchin werden. Aber dann habe ich mich doch gegen das Schnorcheln und das Schlemmen und für das Schreiben entschieden.) Mein Wille und mein Wunsch zu schreiben, haben meinen bisherigen Lebensweg so stark auf dieses Ziel hin gespannt, dass er rückwirkend erstaunlich gradlinig aussieht. Ich wusste immer, was ich war: ich war die, die schreiben will.

Das ist jetzt anders. Ich bin jetzt jemand anderes. Manchmal habe ich Angst, dass ich mich gerade auf einem Irrweg befinde, aber dann vergegenwärtige ich mir wieder, dass mir (nur) die Jahrzehnte lang vertraute Ausrichtung flöten gegangen ist. Also versuche ich – wie beim Schreiben eines Romans – dem Prinzip des geleiteten Blindflugs zu vertrauen.

Die Fragen, die mir seit einem Jahr den Weg leuchten bzw. sich mir drängend in den Weg stellen, sind Fragen, die sich in erster Linie an die Aktivistin richten und nicht an die Schriftstellerin.

Doch auch die Schriftstellerin richtet sich langsam wieder auf. Habe ich im letzten Jahr damit gehadert, keine Anwältin geworden zu sein, denke ich jetzt, dass ich mein Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, diese Vorstellungen in Sprache zu fassen, doch auch nutzen kann.

Im letzten Jahr, als Europa zur Festung geworden und damit für mich als Wertesystem zusammengebrochen ist, habe ich erfahren, dass ich die Stille, die Konzentration, das Abtauchen und Fischen in anderen Bewusstseinsebenen, die Schreiben für mich bedeutet, brauche, um stabil zu bleiben. Es lotet mich aus. Es versenkt mich in Tiefen, in denen es Nährstoffe zu holen gibt, die ich nirgendwo anders finden kann. Und es verankert mich.

Ich habe mich immer wieder gefragt, ob das Schreiben meine Form der Weltflucht ist, aber seit letztem Jahr weiß ich, es ist im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit, mich der Welt zuwenden zu können. Ich bin jetzt (oder vielleicht schon immer) die, die schreiben muss, weil sie durchlässig für die Welt bleiben will.

Ich weiß nur noch nicht wie. Neulich habe ich ein Video gesehen, in dem ein Mann am Schreibtisch sitzt und versucht, einen Roman zu schreiben. Er versucht sich auf den Bildschirm zu konzentrieren, doch sein Blick wandert ständig zu einem Feuer, das neben ihm aufflammt. Ich kann nicht einmal einen Brief an Dich beenden, so sehr funkt mir die Welt dazwischen, so schnell ändern sich die Frequenzen. Die Aktivistin entrollt den Wasserschlauch, wie soll die Schriftstellerin sich da behaupten? Wie machst Du das, Zeruya? Wie schreibst Du Romane, ohne Dich von der Welt abzuwenden?

Seit kurzer Zeit denke ich: Vielleicht kann sich die Schriftstellerin wieder behaupten, indem ich mich frage, wie die alternative Geschichte klingen muss, die den Bedrohungs- und Angstszenarien hier in Europa und nun auch in den USA etwas entgegensetzen kann. Welcher Ton kann mit der Lautstärke der Gegenseite mithalten und wie müssen Sätze klingen, die den Parolen Paroli bieten können? Mit wie viel Zärtlichkeit, wie viel Humor, wie viel Kraft müssen wir sie erzählen? Was dringt durch? Vielleicht sind das die Fragen, bei denen die Schriftstellerin wieder aufwacht. Noch weiß ich es nicht.

Als Trump an die Macht kam, war ich gerade dabei, den Schock zu verkraften, den die europäische Politik und mein europäische Selbstverständnis in mir ausgelöst haben. Es ist noch nicht lange her, dass es mir gelang, mir überhaupt vorstellen zu können, diesen ungeschönten Blick auf mein eigenes Denken und das Handeln der europäischen Politik aushalten zu können, ohne mich wieder komplett ins Private zurückzuziehen. Ich fühlte mich langsam gewappnet, den blinden Flecken meines europäischen Denkens wirklich zu begegnen, da wird die nächste Bastion von vermeintlicher Stabilität – das demokratische System – in den USA in seinen Grundfesten angegriffen. Deswegen musste ich neu ansetzen. Deswegen habe ich so lange gebraucht, um meinen Brief abzuschicken.

Es gibt aber zum Glück noch einen zweiten Grund und der hat etwas mit Dir zu tun, Zeruya. Ich will nicht, dass unser Briefwechsel endet. Du wirst mir fehlen. Dein Blick auf die Welt wird mir fehlen, Dein Ohr und Dein Ton werden mir fehlen. Unsere Verbindung. Du schriebst in Deinem letzten Brief von unserer Nähe. Mir geht es genauso. Die Möglichkeit, mich mit Dir über unsere Gegenwart auszutauschen, wird mir fehlen. Vieles ist mir überhaupt erst klar geworden, weil ich es Dir schreiben konnte. Das ging so weit, dass sich mein Schreiben selbst durch diesen Briefwechsel geändert hat. Dadurch dass Du gelesen hast, konnte ich anders schreiben. Ich hatte beim Verfassen der Briefe das Gefühl, dass sich meine Wörter auf ein Seil fädeln, das von Berlin nach Haifa reicht. Dieses Seil vibrierte, während ich schrieb, und die Vibration produzierte einen Ton, der meine Einsamkeit zersummte. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.

Meine Wörter wissen jetzt also, wie es ist, nicht mehr in den großen, unbekannten Raum hinein geschrieben zu werden, den man für einen Roman aufspannen muss – ob man will oder nicht, ob man sich traut oder nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Wörter beim nächsten Roman nicht streiken werden. Sie werden Dich suchen, Zeruya, sie werden sich auf den Weg nach Haifa machen.

Als ich die Women’s Marches gesehen habe, musste ich an Dich denken. Meine dreizehnjährige Tochter Rosa und ich saßen dicht nebeneinander am Tisch bis spät in die Nacht, unsere Schultern berührten sich, wir konnten beide unsere Augen nicht vom Bildschirm wenden. Ich weinte, sie lachte.

Ich musste an den Marsch im Jordantal denken, von dem Du geschrieben hast. Das Bild der jüdischen und palästinensischen Frauen, die durch das Jordantal laufen, ist so stark und so herausfordernd für mich, dass es sich tief in mich eingebrannt hat. Ich denke seither darüber nach, ob und wie sich das, was ihr dort erlebt habt, nach Deutschland übersetzen lässt.

Du schriebst, wir müssten Frauen aus dem rechten Flügel mit geflohenen Frauen zusammenbringen, um zu suchen und zu finden, was uns verbindet. Mir das vorzustellen, fällt mir extrem schwer. Vielleicht blockiere ich im Kopf, weil ich mich nicht in die Seite der Rechtsradikalen hineinversetzen kann oder will, aber vielleicht ist eine Übersetzung in den deutschen Kontext auch aus anderen Gründen so schwierig.

Kann es sein, dass Eure Bewegung auch deshalb so kraftvoll war, weil eine Frau von jeder Seite das wollte und organisiert hat? Hatte es vielleicht auch deswegen so eine Kraft, weil es Opfer und Täter auf beiden Seiten und nicht nur auf einer Seite gab?

Hier hingegen werden die geflohenen Frauen als Stellvertreterinnen für islamistischen Terror, mit dem sie nichts zu tun haben, und aus Fremdenhass, dem sie als Projektionsflächen dienen, ausgegrenzt. Es gibt praktisch keine Opfer auf der Seite der Rechtsradikalen. In Deutschland stirbt man eher an einer verschluckten Nudel als an einem islamistischen Terrorakt. Auch die Kleinkriminalität von geflohenen Menschen hier in Deutschland ist unterdurchschnittlich. Gleichzeitig brennen Flüchtlingsheime und die fremdenfeindlichen Gewaltakte steigen exponentiell an.

War der Marsch im Jordantal vielleicht auch deshalb so magisch, weil jede Frau Gast und Gastgeberin zugleich sein konnte? Die geflohenen Frauen hier können hingegen nicht als Gastgeberinnen auftreten, sie sind zur Rolle des Gastes zurechtgestutzt, und selbst dieses Gastrecht wird ihnen durch die neuen Gesetze weiter streitig gemacht.

Trotz all’ dieser Einwände lässt mich Deine Aufforderung nicht los. Es ist, als hättest Du mir einen Staffelstab übergeben. Ich schaue ihn mir an, diesen Staffelstab. Ich drehe ihn hin und her und überlege, was er für mich bedeuten könnte.

Schon immer bekomme ich ein ganz bestimmtes Gefühl, wenn jemand etwas zu mir sagt, das eine Tür in meine Zukunft hinein öffnet. Dieses Gefühl pflanzt sich dann in mich ein und irgendwann erwächst daraus etwas Sichtbares. Das ist immer so. Ich werde irgendwann wissen, was dieser Staffelstab bedeutet, den Du mir in Deinem letzten Brief in die Hand gedrückt hast. Noch weiß ich es nicht.

Als ich bei dem Women’s March in Berlin war, ist mir auch klar geworden, dass wir unsere Scheu vor einfachen und emotionalen Botschaften ablegen und endlich anfangen müssen, mit der Schönheit unserer Botschaften zu arbeiten. Nur so können wir die Menschen gleichermaßen erreichen wie die Rechten mit ihrem Hass und ihrer Angstmacherei. Wir müssen uns schnellstens um Form bemühen. Um Glanz. Um Humor. Um Kraft. Und endlich aufhören, uns zu schämen.

Ich weiß zwar nicht, wer das „Wir“ ist, von dem ich hier schreibe, aber „ich“ und „sie“ würden noch falscher klingen. Also muss es bei dem „Wir“ bleiben, das die Gefahr der Vereinnahmung birgt.

Wie so ein Akt politischer Schönheit aussehen kann, war nicht nur im Jordantal, sondern auch in Washington und an so vielen anderen Orten sichtbar: was für ein wunderschönes pinkes Meer!

Ich versuche, meine Schamgefühle für meine eigene Naivität abzulegen, für mein Nichtwissenwollen, dafür, dass ich mir dieses Nichtwissenwollen geleistet habe, ohne es zu merken. Ich muss aufhören, mich zu schämen, damit ich nicht weiter ausweiche und mich so schuldig mache.

Da ich in all diesen Fragen so ein unbeschriebenes Blatt bin, empfinde ich es umso mehr als Geschenk, dass ich dieses Blatt nun mit Zeilen füllen kann, die an Dich gerichtet sind.

Während ich all das schreibe, überlege ich die ganze Zeit, ob das nicht alles zu persönlich ist. Es soll schließlich um die Fragilität von Europa gehen. Aber dann denke ich, dass diese persönliche Auseinandersetzung mit dem, was hier geschieht, vielleicht die Chance birgt, durchzudringen, gerade weil sie nicht abstrahiert, gerade weil sie so körperlich gebunden bleibt. Und vielleicht ist es auch das, was ich tun kann, weil ich es in Romanen immer schon getan habe: den Einzelfall in den Mittelpunkt zu rücken, um von dort aus etwas über das Allgemeine zu verstehen und verständlich zu machen. Der Einzelfall zählt. Mir wird das immer klarer.

Das ganze Bild im Blick zu haben, gelingt mir dabei mal besser mal schlechter. So habe ich mich, seit Trump an der Macht ist, wieder partiell abgekapselt. Ich habe mich so sehr auf das konzentriert, was in den USA passiert, dass ich kurzzeitig aus den Augen verloren habe, wie sehr sich Europa längst abgeschottet hat. Meine Psyche scheint so froh zu sein, wenn menschenverachtendes Verhalten nicht aus Europa kommt, dass sie sofort bereit ist, vergessen zu wollen, was hier passiert. Wieso identifiziere ich mich immer noch mit einer Idee von Europa, von der ich weiß, was sie alles ausblenden muss, um zu leuchten?

Ich kenne Menschen, die in Griechenland festsitzen oder in der Türkei, wir von WIR MACHEN DAS kooperieren mit Initiativen, die Hilfslieferungen nach Serbien transportieren. Ich weiß, dass dort unbegleitete Kinder frieren und hungern und ich war trotzdem sofort wieder bereit zu denken, dass das, was Trump macht, in Deutschland nicht möglich wäre.

Ich höre andauernd die Frage, was man angesichts dieser Entwicklungen machen kann. Und ich glaube, ich habe für mich eine Antwort darauf gefunden. Voraussetzung für diese Antwort ist, dass ich für mich entschieden habe, dass ich etwas tun kann und dass ich diese Entscheidung nicht mehr in Frage stelle. Welche Taten dieser Entscheidung folgen, muss ich momentan dauernd hinterfragen; dass ich mich aber entschieden habe, etwas tun zu können, diese Entscheidung bleibt bestehen – egal was passiert.

Ich habe mich außerdem entschieden auszuhalten, dass gerade das, was ich als besonders stabil empfunden habe, fragil ist, dass diese Fragilität mich persönlich betrifft und dass sie keine Phase ist, sondern dass gerade ein Paradigmenwechsel stattfindet. Es ist kein Common Sense von westlichen liberalen Demokratien mehr, dass Minderheitsrechte geachtet werden.

Ich muss das wissen, sonst geht mir der Atem aus, sonst werde ich zu leicht enttäuscht oder wähle die falschen Mittel. Ich habe mich also davon verabschiedet, dass die liberalen Demokratien schon dafür sorgen, dass alles im Rahmen dessen bleibt, was ich gerade noch unterschreiben kann. (Ich schränke das so ein, denn natürlich gab es innerhalb dieses Settings auch vorher schon politische und strukturelle Ungerechtigkeiten.)

All das bedeutet für mich, dass ich nicht vom Nichtwissenwollen in das Nichtstunkönnen fliehe. Es bedeutet für mich auch, dass ich nicht nur selbst aktiv werde, sondern die Citizenship, von der ich bisher ausgegangen bin, selbst herstellen muss. Performative Citizenship also.

Ich mache mir also einen Plan: Pro Woche zum Beispiel drei wohlwollende, aber passive Menschen in meiner Umgebung zu eigenem Handeln motivieren. Oder sich mit einem rassistisch argumentierenden oder sich von geflohenen Menschen bedroht fühlenden Menschen auseinandersetzen. Oder mich einmal pro Woche mit anderen Aktivistinnen vernetzen, um sich gegenseitig zu stärken. Oder einmal im Monat einen Newcomer auf eine Behörde begleiten. Je konkreter desto besser. Je machbarer desto besser.

An diesem Plan halte ich fest wie an einem Trainingsplan für einen Marathon. Wie viel Zeit und Energie verwenden wir auf Dinge wie Sport (ich nicht) oder darauf, sich mit Klatschzeitschriften oder anderem Quatsch abzulenken (ich viel)! Ich trainiere jetzt also für meine Performative Citizenship, als ob ich für einen Marathon trainieren würde. Mit machbarem Plan, der sich in mein Leben einfügt und den ich über eine längere Zeit einhalten kann.

Der Staffelstab der liberalen Demokratien und der damit verbundenen Wertesysteme ist gerade vor unser aller Augen auf den Boden gekracht. Er liegt dort nur so lange, wie wir ihn liegen lassen. Er ist nicht schwer. Er wiegt genauso viel, wie jede/r einzelne tragen kann. An diesem Bild halte ich mich fest.

Und daran, dass wir im Juni zusammen lesen und reisen werden, Zeruya, daran halte ich mich auch fest. Ich weiß jetzt, warum ich für Dich gebacken und gekocht habe: Ich wollte, dass Dir die Gerüche in die Nase steigen und Dich nach Berlin locken. Ich wollte Deine Anwesenheit heraufbeschwören.

Und jetzt: kommst Du! Ich werde für Dich kochen, Zeruya, und ich werde meine Freundinnen dazu einladen. Wir werden Weingläser, Blicke und Staffelstäbe tauschen. Wir werden einen rauschenden Abend haben. Ich werde Dir endlich Deinen Baumkuchen und das Chutney schenken und ich werde Dich schon vermisst haben, bevor Du wieder zurück in Haifa bist. Ich werde Dich immer vermissen. Meine Worte werden sich weiter auf den Weg zu Dir machen.

Ich danke Dir, Zeruya.

Deine Annika

11. Mai 2017 – Brief nach Berlin versendet (Shalev an Reich)

Annika, meine Liebe, dein Brief war wochenlang auf der Reise zu mir und kam am Schluss so überraschend wie die zusammengerollten Seiten in einer Flasche, die an einem Strand ins Meer geworfen und wie durch ein Wunder von den Wellen an sein Ziel getragen wurde. Natürlich geht es dabei um eine technische Störung, aber es ist wirklich seltsam zu erfahren, dass manchmal sogar elektronische Briefe nicht ankommen und sich die entsprechenden geschäftlichen oder gefühlsmäßigen Enttäuschungen vorzustellen, die sogar Schicksale verändern können.

In unserem Fall wurden keine Schicksale gefällt, und trotzdem freute ich mich sehr, dass ich deinen Brief diese Woche bekam, fast zehn Wochen, nachdem du ihn geschrieben hattest. Ich empfinde, genau wie du, dass unsere Korrespondenz in dieser unstabilen Zeit mir geholfen hat, klarer zu sehen und zu definieren und den Bildern einen Rahmen zu geben, die von den Ereignissen und den Zerwürfnissen gemalt wurden, sowohl den privaten als auch den allgemeinen, den nationalen und den internationalen.

Als ich dir meinen letzten Brief schrieb, war Trump noch ein trauriger Witz, eine Kuriosität, die immer stärker wurde, aber es wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass er die Wahl gewinnt. So untauglich ist meine Wahrnehmung der Realität Meine und die fast der ganzen Welt, die wie ich überrascht wurde. Ich erinnere mich, dass mein erster Gedanke ausgerechnet das Gebiet der Pädagogik betraf. Mein kleiner Sohn ist zehn, und ich versuche, soweit ich kann, ihn zu Höflichkeit und Zurückhaltung zu erziehen, zu Achtung vor dem Nächsten, zu Empathie und Selbstbeherrschung. Damit habe ich leider nur teilweise Erfolg, aber Trumps Mutter, scheint mir, ist es noch weniger gelungen. Was kann ich meinem Sohn bei der nächsten Gelegenheit sagen, wenn er sich unhöflich benimmt, dachte ich und fühlte, dass die Basis all meiner Argumente zu schwanken begann. Siehe da, Grobheit und Oberflächlichkeit hat Rücksichtnahme und Ernsthaftigkeit besiegt. Wie kann ich jetzt meinem Jungen sagen, dass sie sich nicht auszahlen? Dass Menschen, die sich so verhalten, von der Gesellschaft zurückgewiesen werden? Bezahlt man wirklich einen hohen Preis für mangelnde Achtung vor dem Nächsten? Da kommt die Realität und straft mich Lügen, lacht mir ins Gesicht. Sie zeigt mir, dass es die Welt ist, die den Preis bezahlt. Bestimmt haben viele Mütter das gleiche empfunden wie ich, dass diese Wahl über die Auswirkungen und Gefahren hinaus ein so ganz unpädagogisches Element enthält.

Ja, meine Liebe, politische Entscheidungen können uns leicht erschüttern, auch wenn sie über dem Ozean gefällt werden. Für deine Generation in Europa ist das vermutlich weniger relevant, aber mich begleitet es, so weit ich mich erinnern kann, genau wie das Schreiben. Du sagst, dass du schon immer schreiben wolltest. Ich weiß noch nicht mal, ob ich es wollte. Ich erinnere mich nur daran, dass ich, seit ich das Alphabet gelernt hatte, schrieb. Es war so natürlich wie das Atmen. Wir fragen uns schließlich auch nicht, ob wir atmen wollen. Was ich wollte, war, Psychologin oder Sozialarbeiterin zu werden, das Schreiben kam mir wie ein Hobby vor. Letzten Endes geschah das Gegenteil.

In den ersten Jahren drang die Realität fast ungeschützt in mein Schreiben ein. Ich habe Dir schon erzählt von einem meiner frühen Gedichte, geschrieben im Sechs-Tage-Krieg, im Juni 1967, als wir zitternd vor Angst im Schutzraum saßen und die Bomben hörten, die um uns herum fielen. Natürlich wussten wir da noch nicht, dass der Sieg nach sechs Tagen kommen würde, auch nicht, dass die Gebiete, die wir eroberten, sich in einen schmerzhaften Fluch verwandeln würden. Ja, schon immer war alles vermischt, auch wenn ich aus aller Kraft versuchte, das zu leugnen, selbst als ich zum Beispiel den Roman „Liebesleben“ schrieb, der die israelische Realität fast ignorierte, drangen auch politische Entscheidungen ein. Sogar politische Entscheidungen, die zweitausend Jahre zuvor getroffen wurden, durch die Geschichten der Zerstörung des Tempels, über die meine Protagonistin wissenschaftlich arbeitete.

Du siehst, auch bei dir mischt sich letzten Endes alles und die Gebiete bereichern sich gegenseitig, auch wenn du nicht ausdrücklich über das schreibst, was du im letzten Jahr erlebt hast. Aber wer weiß, vielleicht schreibst du sogar über die Beziehung einer deutschen Familie mit einer Flüchtlingsfamilie? Vielleicht gelingt es dir, dich mit der Not der Flüchtlinge zu identifizieren? Ich wäre sehr gespannt darauf, einen solchen Roman zu lesen, und nicht nur ich, aber wie du gesagt hast, das ist ein ferngesteuerter Blindflug, und bestimmt ist es noch zu früh für Entscheidungen. Und auch wenn es zu dem, was du geschrieben hast, kein Echo zu dem gibt, was du im letzten Jahr erlebt hast, so wird dir das Schreiben zweifellos erlauben, dich für deinen Nächsten einzusetzen, denn es ist in vieler Hinsicht die Quelle unserer Kraft. Ich glaube, dass diese Widersprüche zwischen dem Leben als Mutter und Schriftstellerin, als Aktivistin und Schriftstellerin auf lange Sicht nur Scheinwidersprüche oder vorübergehende Widersprüche sind. Manchmal muss man der Welt für eine gewisse Zeit den Rücken zeigen, und manchmal dem Schreiben, aber letzten Endes sind diese Dinge im Gleichgewicht. Manchmal braucht uns die Welt mehr, und manchmal braucht uns das Buch, das geschrieben werden will, so dringend wie ein Baby, das sogar in einem Schutzraum gestillt werden muss, wenn drum herum die Bomben explodieren.

Ich habe viel über den Taktstock nachgedacht, den ich dir, wie du empfindest, übergeben habe. Es ist mir eine Ehre, aber ich bin zu gering.[1] Gibt es ein solches Sprichwort auch auf Deutsch? Ich weiß nicht genug über das Klaffen der Schere bei euch, über die Chancen und Risiken. Ich glaube an die menschliche Begegnung und den Dialog. Ich würde versuchen, mit denen zu sprechen, die anderer Meinung sind. In meinen Augen gibt es keine Billigung für Rassismus, aber es kann durchaus eine Berechtigung für Angst geben, auch wenn sie, wie du sagst, nebensächlich ist. Man kann versuchen, diese Angst vor dem Fremden durch einfache Geschichten zu beruhigen, durch persönliches Kennenlernen, durch freundschaftliche Vermittlung. Ich würde versuchen, die Verängstigten zu treffen und ihre Ängste nicht zu belächeln, sondern sie durch einfache, emotionale Botschaften zu besänftigen.

Man muss sich für einfache Botschaften nicht schämen. Schau her – die Welt verändert sich, und du veränderst dich mit ihr. Ich sehe dich vor meinem geistigen Auge – eine zarte, gefühlvolle und starke Frau, die leidenschaftlich zwei stürmische Kontinente beobachtet, eine Frau, die einen spannenden Prozess der Desilluionierung und der Selbststärkung durchläuft. Ich bin sehr beeindruckt von deinen Entscheidungen, sie werden auch für mich relevant sein. Gemeinsam werden wir versuchen, sie lebendig werden zu lassen. Wie das Schreiben, wie das Atmen.

Über das alles werden wir von Angesicht zu Angesicht sprechen, wenn wir uns endlich treffen, wenn wir zusammensitzen und den Baum und das Chutney genießen. Das erinnert mich daran, dass ich dir noch nicht wegen des Marzipans geantwortet habe. Ich möchte deine Frage nicht unbeantwortet lassen. Auch wenn sie nicht schicksalhaft für die europäische Frage ist. Also ja, natürlich liebe ich es. Aber andererseits lange ich nur selten zu, auch bei anderen Süßigkeiten. Ich habe meine ganze Kindheit ohne Süßigkeiten verbracht. Mein Vater glaubte daran, dass Zucker der Gesundheit schadet, und da er ein radikaler Mann war, behandelte er Zucker fast wie Gift. Natürlich durfte er nicht ins Haus gebracht werden, und nichts ähnlich Gefährliches steckte man nicht in den Mund. Nur bei Freunden, heimlich, konnte ich Schokoladenkuchen oder Marzipan genießen, doch letztlich hatte ich seine Angst so verinnerlicht, dass ich bis heute, wenn ich etwas Süßes esse, ein Stechen im Hals spüre oder Kopfschmerzen bekomme oder das Gefühl einer nahenden Grippe spüre. Und vielleicht passt diese Geschichte zu den Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen. Zur Angst vor dem Extremismus. Vor dem Fanatismus. Ich schätzte meinen Vater sehr, aber sein Extremismus hat mir und auch ihm das Leben verbittert. Deshalb bin ich immer für Verzicht, Dialog, Aufmerksamkeit, Kompromiss.

Deshalb verspreche ich, mit dir zu einem Kompromiss zu kommen und die Hälfte des Kuchens zu essen. Ich freue mich so sehr auf unsere Lesungen. Ich freue mich darauf, dich zu treffen, die deutschen Leser, und, ja, ich freue mich auf Europa. Auf Europa, dem Protagonisten dieses Briefwechsels. Ich, in der fernen Levante, spüre noch immer die alte Anziehung. Das Erstaunen über die Landschaften, die auch im Sommer grün sind, über die milde Sonne, die nicht vom Himmel brennt und jede Feuchtigkeit austrocknet. Noch immer staune ich über den Anblick von Seen und Flüssen, von Kirchen und Schlössern. Über alte Überlieferungen. Über das Zusammentreffen mit ernsthaften, gedankenreichen Lesern, mit beeindruckenden Schriftstellern, mit Straßen, die Schönheit, Höflichkeit und Kultur bewahren. Vielleicht wirst du sagen, das alles existiert nur noch in meiner Fantasie, aber auch meine Fantasie ist ein Ort.

[1] Dieses Zitat bezieht sich auf 2. Mose, 32,11, in dem Jakob und Laban sich mit Komplimenten überhäufen. Es bedeutet: Ich bin es nicht wert, von dir so toll behandelt zu werden.