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Björn Bicker Ece Temelkuran

31. Mai 2016 – Brief nach München versendet (Temelkuran an Bicker)

Ece Temelkuran, Brief 1 vom 31. Mai 2016

Lieber Björn,

aus mehreren Gründen schreibe ich meinen ersten Brief gerade heute. Welch eine Ironie! Heute vor drei Jahren nahmen die Gezi-Proteste ihren Ausgang, statt Briefe zu schreiben sagte ich damals mit Blick auf die wachsende Menge auf dem Taksim-Platz: „Heute beginnt etwas Großes!“ Niemand hatte es glauben wollen, doch schließlich geschah tatsächlich Großes und die ganze Welt weiß, wovon ich rede. Da sich heute die Gezi-Proteste jähren, reden seit Tagen alle darüber, ob heute wohl „etwas“ passiert. Ich denke, jeder weiß, dass nichts passieren wird. Wir sind zerbrochen. Ich bin zerbrochen.

Wäre Fragilität doch etwas Persönliches wie in dem Song von Sting! Etwas rein Innerliches. Was für ein Luxus wäre das für die Menschen dort, wo wir leben. Es gibt aber das Phänomen, als große Gruppe von Menschen gemeinsam zu zerbrechen. Diese Erfahrung machen ich und meinesgleichen gerade in meinem Land.

Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Das ist natürlich nicht neu. Doch man erfährt es viele Male auf unterschiedlichste Weise, lernt im Laufe des Lebens die verschiedenen Arten der Fragilität kennen. Letztlich ruft Fragilität ja nicht ausschließlich Betrübnis, Scheitern oder Groll hervor. Wenn du in einer Gegend lebst, wo Wut und Zorn näher liegen als Betrübnis, produziert Fragilität vor allem Wut und Hass. Menschen, die sich ähnlich sind, zürnen einander noch am meisten, eben weil sie fragil sind. Ich glaube, wir hier klagen einander und uns selbst jetzt wegen des Scheiterns nach dem Gezi-Aufstand an. Wir verabscheuen uns, weil wir scheiterten. Wut ist die hübscheste Verkleidung, unsere Fragilität zu verhüllen.

Gezi und ähnliche Aufstände sind angesichts gewaltiger Begriffe wie Menschheit und Geschichte Lappalien. Ebenso verhält es sich mit den Selbstmordattentätern, die im Herzen Europas und im Südosten der Türkei Hunderte Menschen mit sich in den Tod reißen. Mir ist, als betrachtete ich Ereignisse und Gegebenheiten von beiden Seiten eines Fernrohrs zugleich. Beschaut man Aufstände, Sterben und Tragödien durch die richtige Seite des Teleskops, wirken sie riesengroß, bei einem Blick von der anderen Seite aber, von der Seite der Geschichte aus, werden sie mikroskopisch klein. Übt man einen Beruf aus, in dem es darum geht, die Menschheit zu betrachten, dann wechselt man ständig von einem Ende des Teleskops zum anderen.

Menschen, die in Ländern mit komplexen Verhältnissen leben wie ich, sehen notgedrungen noch andere Gründe für einen Linsenwechsel. Wir sind gezwungen, den Wahnsinn, den wir erleben, zu ästhetisieren, um den Menschen anderer Länder, in denen mehr Ordnung, Sicherheit und Ruhe herrschen, von unserer Fragilität zu sprechen. Wir dürfen auf uns selbst nicht durch unsere Linsen schauen, sondern durch die des Westens, und müssen unsere Geschichten in Häppchen servieren, die für sie verzehrbar und verdaulich sind. Andernfalls hört uns niemand zu. Das mag der Grund dafür sein, dass wir ins Stottern geraten, wenn wir von unserem Leben, von unserer Realität erzählen. Der permanente Zwang, die Linsen zu wechseln, verschlägt uns schier die Sprache.

Lass mich noch von einer weiteren Linse reden. Das ist die, durch welche wir auf unser eigenes Herz schauen. In Ländern, in denen Gewalt zur Normalität wurde, und vielleicht auch in Ländern wie Deinem, wo Gewalt zwar noch erschreckt, aber klar ist, dass sie von Dauer sein wird, müssen wir die Linse auch für den Blick aufs eigene Herz ändern. An der Stelle unseres Herzens finden wir Trümmer vor, verursacht von dem, was wir sehen und erleben, aber nicht verändern können. Wahrscheinlich kommt es einer erneuten „Bombardierung“ gleich, wenn wir diese Trümmer dort sehen, und wir ziehen es dann vor, nicht länger hinzuschauen. Das nennt man fühllos werden. Etwas, das leicht mit Gewöhnung zu verwechseln ist. Etwas, das man tut, wenn die Wunde unheilbar durchgefault ist. Ich spreche davon, das Herz vollkommen außer Acht zu lassen, wenn es zu einer finsteren Grube ohne jede Aussicht, jemals wieder herauszukommen, mutiert ist.

Meine in Brüssel lebende Schriftstellerkollegin Annelies Beck erzählte bei einem Treffen in Paris eine sonderbare Geschichte, nachdem herauskam, dass einer der Attentäter ihrer Stadt in derselben Straße wie sie gewohnt hatte. Ihr kommt die Sache sonderbar vor, dabei handelt es sich bei dem, was sie erzählte, im Grunde lediglich um ein weiteres Beispiel für den Linsenwechsel. Es geht um eine Linsentäuschung darüber, wie weit das Ereignis, die Tragödie „von mir“ entfernt ist. Diese Täuschung ist gewählt. Da man nicht daran denken will, in welch unmittelbarer Nähe sich der Schrecken ereignete, schiebt man die Sache weit von sich:
„Nein nein, er wohnte ganz am anderen Ende der Straße.“
Diese Linsenproblematik kam mir zum ersten Mal 2006 in Beirut unter. Nach dem israelischen Angriff beobachteten die Bewohner im Norden von Beirut die Bombardierung des nur zwanzig Autominuten von ihnen entfernt gelegenen Viertels von ihren Balkonen aus und sagten:
„Nein nein, Beirut wird nicht bombardiert. Süd-Beirut wird bombardiert.“
So verhält man sich, um keine Angst aufkommen zu lassen, um etwas nicht wahrhaben zu müssen.

Ich weiß selbst nicht mehr, durch welche Linse wir auf unsere Fragilität schauen. Oder gibt es einen Unterschied zwischen euch dort und uns hier? Gibt es den noch?

Herzlich
Ece

 

Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

23. Juni 2016 – Antwortbrief nach Istanbul versendet (Bicker an Temelkuran)

München, 23. Juni 2016

Liebe Ece, vielen Dank für Deinen Brief. Ich habe lange gebraucht, um Dir zu schreiben. Drei Wochen sind ins Land gegangen. Mir fällt das Anfangen meistens sehr schwer. Diesmal war so viel Arbeit. Wie immer. Und Deine Eröffnung war so gewichtig, dass ich mich ein wenig gedrückt habe, gleich darauf zu antworten. Die großen Themen. Der Blick. Die Perspektive. Die Trümmer im Herzen. Der Unterschied zwischen Dir und mir. Die Fragilität der Verhältnisse.

Am Ende fragst Du, ob es einen Unterschied gibt zwischen Euch da und uns hier. Ja, natürlich gibt es einen Unterschied. Aber wir wohnen in der selben Straße. So wie Deine Freundin und der Attentäter. Nur leider haben das viele Leute noch nicht begriffen. Schlimmer noch: Sie sind andauernd damit beschäftigt neue Schlagbäume zu errichten. Die Straße für unpassierbar zu erklären. Sie wollen nicht wahr haben, dass sie mit verantwortlich sind dafür, wie es dem Nachbarn am Ende der Straße geht, welche Wut er hat, welche Krankheit, welche Träume, welchen Hass. Ja mehr noch – das zeigen die Anschläge in Belgien, in Frankreich, in Orlando: Diese Typen sind unsere Verwandten, unsere Kinder, unsere Cousins und Cousinen, ob wir wollen oder nicht. Unsere Familiengeschichte hat dazu geführt, dass wir die Probleme haben, die wir haben. Was wäre, wenn wir das alle mal anerkennen würden? Was würde sich verändern? Welche Schmerzen hätten wir zu ertragen? Welche Sorgen würden uns umtreiben? Wie würden wir die Kinder behandeln?

Ich muss ganz ehrlich sagen: das Bewusstsein, dass alles fragil ist, die politischen Verhältnisse, die persönlichen Beziehungen, die Liebe, alle Zustände, die davon leben, dass Menschen Verbindungen eingehen, dieses Bewusstsein hat sich bei mir erst in den letzten 15 Jahren so richtig entwickelt. Mir kommt es vor, als hätte ich vorher in einer Blase gelebt. Zwar bin ich in einer Familie aufgewachsen, in der immer alles fragil war, die Beziehungen, der Wohlstand, die Zukunft, die Vergangenheit. Meine Familie ist eine deutsche Nachkriegsfamilie – geteilt, zerhackt, verfressen, versoffen, aber durchweg mit dem starken Willen alles besser machen zu wollen als die Eltern, die Großeltern, die Urgroßeltern… mit der ehrlichen Ambition nicht mehr länger das Problem der Welt sein zu wollen, sondern Teil der Lösung. Spätestens seit Adorno wissen wir, dass auch das ein Problem sein könnte… Es ist alles so scheiß kompliziert. Und dennoch war es insofern ein Leben in der Blase, als dass ich erst in den letzten Jahren, eigentlich seit 9/11, diesem historischen Cut – der eigentlich ja gar kein Cut war und wenn überhaupt dann nur aus unserer westlichen Perspektive – sondern die Folge jahrzehntelanger Entwicklungen – ich weiß schon, aber genau das ist der Ausdruck dieser Blase – dass ich eigentlich erst seit diesen Anschlägen ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt habe, dass auf dieser Welt alles mit allem zusammen hängt. Vorher war ich so sehr mit der Abwehr des Fragilen beschäftigt, dass ich keine Linse hatte, um das Fragile wahrnehmen zu können. Genährt von diesem Westdeutschen Wohlstandswunder habe ich in dem Glauben gelebt, dass alles safe und fest ist. Weil nach dem 2. Weltkrieg alles kaputt war, die Häuser, die Menschen, die Beziehungen, einfach alles, wurde eine Illusion aufgebaut. Die Illusion davon, dass Fragilität besiegbar sei. Wenn ich Psychologe wäre, würde ich sagen: Die Traumatisierungen haben dazu geführt, dass wir uns abgekapselt haben in Scheinwelten aus Sicherheit, Wohlstand, Frieden. Und jetzt merken wir, dass es niemals eine Nachkriegszeit gegeben hat. Es war immer Krieg.
Aber die Welt hat sich weiter gedreht – es kam der Zusammenbruch des Ostblocks. In Deutschland die Wiedervereinigung. Es kamen neue Kriege. Die Globalisierung und in ihrer Folge ekelhafte, weltweite ökonomische Raubzüge, postkoloniale Konflikte, die nie zur Ruhe gekommen sind, nicht enden wollende Migrationsbewegungen, Wanderungen der Menschen, auf der Flucht vor Armut, Krieg, Perspektivlosigkeit. Um so heilsamer für mich, als ich vor ein paar Jahren angefangen habe in genau jenem Stadtteil in Hamburg zu arbeiten, in dem einer der Unterstützer der 9/11 Attentäter gelebt hat. Ich habe dort in diesem klassischen Einwandererquartier die ganze Kompliziertheit unserer aktuellen Gesellschaft kennengelernt und ganz nebenbei sehr gute Freunde gefunden. Die Welt ist dann doch komplexer und manchmal auch hoffnungsvoller als uns das viele Meinungsmacher*innen weismachen wollen.

Wenn in meinem kleinen Macbook das Wissen der ganzen Welt in Sekundenschnelle verfügbar ist, was sind da 3000 Kilometer Fußweg? Wie kann ich eine Welt weiterhin unterteilen in Länder, Kontinente, Nationen, wenn ich im Netz auf engstem Raum zusammen hocke und mich jederzeit zum Chatten über die intimsten Dinge treffen kann? Oder umgekehrt gefragt: Warum macht mich der Achselschweiß des Unbekannten neben mir in der U-Bahn so unmittelbar aggressiv und warum kann ich das Tränengas mit dem die Gezi-Demonstranten beschossen worden sind nicht riechen? Warum tränen mir nicht die Augen, warum muss ich nicht kotzen, warum kaufe ich mir keine Gasmaske? Obwohl es am anderen Ende der Straße stattfindet.

Du siehst, ich habe viele Fragen. Und es werden immer mehr. Ich weiß, hinter jeder Frage steckt immer auch eine Aussage. Das habe ich so richtig erst in Istanbul gelernt. Ich habe vor ein paar Jahren im Rahmen eines gemeinsamen Projekts des Theaters in Freiburg und dem Theater garajistanbul in Istanbul einen Text über zehn türkische Ikonen des kulturellen und politischen Lebens geschrieben. Ich war Teil eine deutschen Teams aus verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern. Der Text handelte von so unterschiedlichen Figuren wie Bülent Ersoy, Deniz Gezmis, Duygu Asena, Tanju Colak, Ajda Pekkan, Kemal Atatürk und ein paar anderen. Es war der Versuch einer Annäherung an Geschichte und Gegenwart Deines Landes. Nicht mehr und nicht weniger. Es gab auch ein türkisches Team, das das gleiche in Deutschland getan hat. Am Ende wurden die Ergebnisse zu einer gemeinsamen Aufführung zusammengefügt. Mein Text bestand nur aus Fragen. Das waren ernsthafte Fragen, aber auch suggestive Fragen. Und so kam es, dass bei der zweiten Aufführung in Istanbul ein paar ältere, kemalistische Damen die Bühne stürmten, um uns, dem deutschen Team lautstark und exaltiert mitzuteilen, dass wir uns erst einmal für Hitler schämen sollten, bevor wir Aussagen über Kemal Atatürk oder ganz generell über die türkische Gesellschaft träfen. Wir waren überrascht von dieser heftigen, kontroversen Reaktion, die tags drauf natürlich in den lokalen Medien nicht nur kolportiert, sondern auch ordentlich angeheizt wurden. Ich war, ehrlich gesagt, froh, dass mein Rückflug noch vor dem Erscheinen der ganzen Artikel und Fernsehbeiträge gebucht war. Was ich sagen will: Ich habe ein klein wenig von dem Erregungspotential erlebt, das Du in Deinem Brief beschrieben hast und gleichzeitig ging es bei dem Erlebnis um Fragilität: Es ging auch um die Fragilität von Übersetzung. Denn Im Nachhinein war klar, dass die türkische Übersetzung meines deutschen Textes offensichtlich sehr missverständlich war. Dass der Modus des Fragens nicht so rüber kam, wie ich mir das gewünscht hatte.
Ich habe aber auch verstanden, und das wurde schon in der Zusammenarbeit mit den türkischen Künstlerkolleginnen deutlich, dass es Leute auf dieser Welt gibt, die keine Lust haben, sich von irgendwelchen westlichen Typen wie mir, die Welt erklären zu lassen und sei es noch so geschickt als Frage getarnt. Das sind vielleicht die Linsen, die Du meinst. Meine Linsen haben jedenfalls einen Sprung bekommen – das ist gut so. Um so erschreckender und beängstigender erlebe ich gerade, wie all die Werte, die für mich wichtig sind, zu zerbrechen drohen. Überall in Europa werden diese rechten Parteien immer stärker, immer mehr Menschen schließen sich ihnen an. Sie machen ihr Geschäft mit dem Hass. Sie ernten Hass und sie säen Hass. Im Internet und in der analogen Welt. Und ich frage mich, wo dieser ganze Hass herkommt. Der Hass auf Muslime, auf Menschen, die aus ihren Ländern fliehen mussten, der Hass auf Frauen, auf Homosexuelle, der Hass auf Sonderlinge, auf Intellektuelle, der Hass auf Juden, der Hass auf sich selbst. Werte wie Empathie, Liebe, Großzügigkeit, Barmherzigkeit und Klugheit sind fragil. Und es ist so deutlich, dass der Hass der Rechten und der Hass der Terroristen zwei Seiten ein und der selben Medaille sind. Es ist die Münze der Unterlegnen, der Abgehängten, es ist die Münze derer, deren Herzen verkümmert und vernarbt sind. Und manchmal habe ich Angst, dass unsere Werte viel schwächer sind als der Hass und der Narzissmus und die Gier nach Macht. Ja, in Deinem Land ist die Gewalt längst offen ausgebrochen – Menschen sterben auf den Straßen, in Gefechten. Und in meinem Land gibt es viele Menschen, die so viel Hass in sich tragen, dass der Schritt zum Morden nicht mehr groß ist. Wie schaffen wir es, Ihnen den Hass auf sich selbst zu nehmen, die Angst vor dem Fragilen? Sie zu öffnen und vielleicht sogar zu begeistern für eine Welt, die eigentlich keinen Hass braucht. Sondern Vielfalt. Und Liebe. Und Respekt. Und Fragilität. Wie schaffen wir das? Wie können wir die Trümmer aus unseren eigenen Herzen räumen und weiter machen? Wie geht das?
Ganz viele Grüße aus München sende ich Dir, wo auch immer in Europa Du Dich gerade aufhältst!

Dein Björn

10. September 2016 – Brief nach München versendet (Temelkuran an Bicker)

Ece Temelkuran, 2. Brief vom 10. September 2016

Lieber Björn,

lange nicht gesehen, oder? Verzeih mein langes Schweigen. Allerdings sind in der Zwischenzeit, in der wir keinen Kontakt hatten, in der Türkei ein paar historische Dinge geschehen. Eine Explosion am Flugplatz, von der viele Menschen in der Türkei so tun, als wäre sie nicht geschehen, und ein misslungener Putschversuch, der die Türkei in den internationalen Medien über Wochen in die Schlagzeilen brachte. Keine gute Zeit, um über Fragilität zu reden, wie? Nun, vielleicht auch gerade das Gegenteil und gerade jetzt ist die beste Gelegenheit, über Fragilität zu reden.
Dieser Tage sehe ich diverse Formen verschleierter Fragilität und erlebe auch persönlich welche. Ablehnen, wütend sein, sich ins Vergnügen stürzen oder grundsätzlich Selfies machen, um nur ja nichts anderes zu sehen als das eigene Gesicht. Meine persönliche Wahl ist es, krankhaft zu arbeiten. Ich tue nichts anderes mehr als arbeiten. Morgen breche ich mit meinem Buch über die Türkei zu einer Lesereise nach London auf, weshalb mir eine Frage im Kopf herumgeht. Ist das tatsächlich ein spannendes Thema für ein Publikum im Ausland? Meinst Du, es interessiert „Ausländer“ in irgendeiner Weise, wie Menschen in der Türkei mit Traumata umgehen? Ich glaube das nicht. Denn ich fürchte, mein Land ist mittlerweile in der Kategorie der irren Länder gelandet, in denen alles Mögliche geschehen kann. Und wenn man in so einem Land lebt, hat man nicht den Luxus, zu seinen Traumata befragt zu werden. Dabei fällt mir ein Äthiopier ein, den ich in einem Flüchtlingscamp an der tunesisch-libyschen Grenze traf, kurz nachdem Gaddafi umgebracht worden war. Ich lief herum und stellte den Bewohnern des Camps journalistische Klischee-Fragen. Wasser? Essen? Lebensumstände und solche Dinge. Dieser Mann stand vor seinem verdammten Zelt und hörte geduldig zu, mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Als ich mit meinen dummen Fragen durch war, fing er in fließendem Englisch zu reden an und stellte mir eine Frage:
„Sie ziehen also tatsächlich nicht in Betracht, dass ich einen Lebenslauf haben könnte, nicht wahr?“
Das hatte ich tatsächlich nicht. Ich glaube, in diesem Moment war ich zum ersten Mal im Leben wirklich beschämt. Weil er aus einem irren Land namens Äthiopien kam, hätten seine Bedürfnisse sich darauf beschränken sollen, aus seinem Land zu fliehen, sich zu ernähren und sich regelmäßig waschen zu können. Da stand ich, die weibliche weiße Journalistin, die vermeinte, wenn dein Land so irre ist wie die Hölle, dann solltest du keine anderen Bedürfnisse, Probleme oder auch nur Eigenschaften haben. Mir geht es im Augenblick ganz ähnlich, wenn ich in einem europäischen Land bin. Alle stellen nur eine Frage: „Fühlen Sie sich sicher?“ Als würde es reichen, sich sicher zu fühlen, wenn man in der Türkei lebt. Alles rächt sich irgendwann, denke ich. Der Mann war übrigens Englischlehrer. Und ich glaube, ich habe es wieder gut machen können, indem ich ihm meinen Lieblingsfüller schenkte. Als würde das die Sache besser machen. Mir geben jetzt Journalisten und Pressefreiheitsaktivisten ihre Karten, damit ich sie nötigenfalls anrufen kann. Als würde das die Sache besser machen. Wir sind doch alle in gewisser weise Desperados, nicht wahr?

Ich bin fragil. Ja, das bin ich. Ich bin sogar zerbrochen. Na und? Die Geschichte ändert sich rücksichtslos, da ist die Tatsache, dass ich zerbrochen bin, unerheblich. Vielleicht denkt irgendwo irgendjemand mal darüber nach, die Geschichte zer- und gebrochener Menschen aufzuschreiben und auf wie viele Arten Menschen brechen können. In Ländern, wo der Tod im Dutzend kommt, würde das die Menschen vermutlich nur zum Lachen bringen, zu einem bitteren Lachen.

Mir ist ein wenig düster zumute dieser Tage. Sorry, dass ich Dir nichts besseres zu erzählen habe als meinen persönlichen Frust.

Herzlich
Ece

Aus dem Englischen von Sabine Adatepe

9. Dezember 2016 – Brief nach Istanbul versendet (Bicker an Temelkuran)

Liebe Ece,

unser Briefwechsel gleicht mehr einem Schweige-Retreat. Ab und an hört man die Klangschale und dann fallen ein paar Sätze und dann ist wieder wochenlang Ruhe. Dein letzter Brief hat mich umgehauen. Weißt Du noch? Bevor Du ihn geschrieben hast, habe ich ein wenig gedrängelt… weil ich dachte, es wäre gut, weiter zu machen, in einen echten Austausch zu kommen. Und dann hast Du geschrieben, dass du zerbrochen seist. Du fragst, ob sich irgendjemand in dieser Welt für die Traumatisierungen von Türken interessiere? Aber sofort relativierst Du Dein Leid, Dein Erleben, klar, es gibt immer noch jemanden, dem es schlechter geht und was wiegt Deine Not gegen die Nöte unserer Freunde, die in Aleppo festsitzen und schon gar nicht mehr wissen, wer sie gerade beschießt, wer ihnen nach dem Leben trachtet, wer ihnen die Kinder genommen hat, die Hoffnung, alles. Wie sollen wir noch zusammen leben? In dieser Welt. In der Türkei. In Syrien, in Frankreich, in England, in Russland, in Angola, in Deutschland.

Dein Brief hat mich gelähmt; ich habe das noch nie erlebt. Ich habe schon so oft davon gelesen, irgendein Autor, irgendeine Autorin berichtet von irgendeiner Schreibblockade. „Jammer nicht rum“, habe ich jedes Mal gedacht, wenn ich so was gelesen habe. Don’t cry, work! Und jetzt? Hat es mich selber erwischt. Wochenlang. Keine Zeile. Ich bin geflohen. Vor dem Schreiben. Ich habe mir jeden Tag gesagt: Morgen setzt Du Dich hin, dann geht es weiter, dann antwortest du Ece. Aber dann habe ich an unser Thema gedacht, an die Fragilität und mir ist zum Heulen zumute gewesen. Ich kann nicht mehr, habe ich gedacht. Wie kann ich ihr antworten, wo ich null Ahnung davon habe, wie es ihr wirklich geht; kann ich mir vorstellen, wie es ist, in der Türkei zu sein, den ganzen Irrsinn dieser Wochen und Monate mit zu erleben? Aber nicht nur das: Diese Blockade hat mein ganzes Denken besetzt. Ist in meine Glieder gekrochen. Plötzlich war es nicht mehr die Winzigkeit meines privilegierten Lebens hier in Deutschland, in München, auf einmal war es die Fragilität unserer Lebensumstände, das Zerbrechen und Verwischen meiner gewohnten Koordinaten, das mich hat verstummen lassen. Es war, glaube ich, genau das Gegenteil von dem, was ich dachte, dass es ist. Schreiben kann ich nur, wenn ich von einem Ort aus schreibe, wenn ich eine Haltung habe, einen Standpunkt, eine Perspektive, aber das alles ist mir kurzerhand abhanden gekommen; ich habe nur noch Verfall, Bedrohung, Risse und Zerwürfnisse gesehen. Wenn ich im Netz unterwegs war: Hass. Überall Hass. Auf Migranten. Auf Muslime. Auf Demokraten. Auf Schwule. Auf Lesben. Auf Flüchtlinge. Auf Schwache. Auf das offene, freie Leben, das ich so liebe. Ungefilterter Hass, der sich in Worten ausdrückt. In Beschimpfungen. In diesen ekelhaften, selbtgewissen Kommentaren, die in erster Linie Ausdruck von mangelndem Selbstwert derer sind, die sie verfassen. Aber warum, frage ich mich, sind die Menschen so schwach, warum müssen sie alles mit Häme, Hass und Revanchismus überziehen. Wer hat sie so kaputt gemacht? Welche Eltern waren da am Werk? Dieser Hass findet in Deutschland aber auch auf den Straßen statt, auf den Demos dieser right-wing-Bewegungen, Pegida, AFD. In ihren Reden, ihrer Politik, ihren Drohungen. Und die etablierten Parteien übernehmen deren Standpunkte, um ein paar Wähler zu gewinnen, aber sie erreichen nichts, außer, dass sie die Angst nur noch größer werden lassen, meine Angst, meine Angst, um unsere Demokratie, um unser funktionierendes System, an dem man sehr viel kritisieren kann, das aber immerhin so gut funktioniert, dass es vielen von uns ziemlich gut geht und wir ein hohes Maß an Freiheit genießen. Diese Freiheit erster Ordnung.  Nie genug Freiheit, aber doch mehr als anderswo, aber wenn ich diesen Gedanken wende, dann zerbröckelt er sofort, weil ich denke, dass es zynisch ist, so zu denken, dann kommt mir Dein Brief wieder in den Sinn; das ist doch eine Welt. Meine Freiheit – Deine Unfreiheit. Wir hier im Frieden – mitten im Krieg. Unser leben ein einziger Zynismus. Das hängt doch alles miteinander zusammen. Das sind die zwei Seiten dieser berühmten Medaille. Erdogans Politik hängt untrennbar mit der Politik meines Landes, Europas zusammen. Und dann treffe ich meine neuen, syrischen Freunde, die auf der Flucht hier in München gelandet sind, die viel zu sagen haben zu dem Thema Fragilität, deren Familien immer noch in irgendwelchen Kriegsgebieten hängen, deren Verwandten gestorben sind, die alles verloren haben, ihr Zuhause, ihr Vertrauen, ihre Freunde, ihre Lebensperspektive und dann verstumme ich. Und als im Sommer bei der Ruhrtriennale, einem internationalen Kunst- und Theaterfestival, mein Stück URBAN PRAYERS in einer DITIB Moschee aufgeführt wurde, da habe ich erfahren, dass die Türkei auch hier stattfindet, da habe ich gespürt, wie zerrissen die türkische Community hier in Deutschland ist, da habe ich zu spüren bekommen, wie verlogen die deutsche Öffentlichkeit darauf reagiert. Viele Jahre waren die türkisch-muslimischen Gemeinden der DITIB die ersten Ansprechpartner offizieller Stellen in Deutschland, weil sie für einen moderaten, dialogbereiten Islam stehen. Und dann plötzlich kamen die Fragen der Journalisten: Warum macht ihr Theater in einer DITIB Moschee? Darf man das? Sind die nicht radikal? Sind die nicht alle komplett Erdogan? Und dann habe ich gemerkt, wie kompliziert das alles ist. Das sind Leute, die seit vielen Jahrzehnten in Deutschland leben; die aber nie so RICHTIG heimisch geworden sind, weil die hiesige Gesellschaft ihnen immer das Gefühl gegeben hat, dass sie nicht so RICHTIG dazu gehören. Und jetzt wundern sich alle, warum sie sich emotional und gedanklich manchmal mehr  an der Türkei orientieren, als an ihrer zweiten Heimat, Deutschland. Die Jüngeren sind meistens hier geboren, haben selbst schon Kinder, bei denen sieht es wieder komplizierter aus. Was ich sagen will: Es gibt keine zwei Länder Türkei – Deutschland. Es gibt nur ein Land. Keine Ahnung, wie das heißt. Keine Ahnung, was das bedeutet. Unsere Länder sind nicht zu trennen. Es wird immer komplizierter. Ich war im Oktober, auch auf der Flucht vor dem Schreiben, die Blockade war die ganze Zeit dabei, in Venedig. Auf der Architekturbiennale habe ich mit meinem Team und ca. 60 Bewohnerinnen und Bewohnern eines multikulturellen Stadtteils in Hamburg, eine Botschaft eröffnet. Unter der Überschrift „Representing Germany – THE VEDDEL EMBASSY“ haben wir eine Woche lang das neue Deutschland, das multireligiöse, multiethnische, aber auch das arme und vernachlässigte Deutschland präsentiert. Wir alle waren Botschafter dieser neuen Welt der Vielfalt, der Offenheit. Wir haben Work-Shops organisiert, Konzerte veranstaltet, Gespräche geführt. Mit dabei waren türkischstämmige Muslime, Kurden, Aleviten, Leute, die aus Afrika nach Deutschland eingewandert sind, Roma, Afghanen, Bulgaren, Franzosen, Engländer und deutschstämmige Leute. Die Moscheegemeinde, die Kirchengemeinde, der Fußballverein, der SPD-Abgeordnete und der Hausmeister der Flüchtlingsunterkunft. Einheimische, Eingewanderte, Geflohene, Staatenlose. Alles Menschen, die auf der Veddel gut zusammenleben.  Das Ganze hat auf Einladung des Goethe Instituts in der Chiesa della Misericordia stattgefunden, das ist die Kirche in der im Sommer der Fußballer Sebastian Schweinsteiger die Tennisspielerin Ana Ivanovic geheiratet hat. An einem Abend sollte es nach unserem Botschaftsdinner, das jeden Abend gemeinsam mit unseren italienischen und internationalen Gästen stattfand, um die Situation der Refugees in Europa gehen. Einer von unseren  Botschaftern, Hassan aus Afghanistan, ist am frühen Abend kollabiert. Er hatte aus unerfindlichen Gründen so starke Schmerzen, dass er in Ohnmacht fiel. Sofort waren ein paar Leute aus unserer Gruppe bei ihm und haben versucht, ihn wieder zu Bewusstsein zu kriegen. Wir haben den Notarzt gerufen, der in Venedig mit dem Schiff kommen muss. Wir hatten große Angst um Hassan, es sah aus, als würde er sterben, seine Atmung wurde immer langsamer, sein Puls war kaum noch zu fühlen. Langsam machte sich Panik breit. Als das Rettungsboot nach einer gefühlten Ewigkeit endlich eingetroffen war, verfrachteten die Sanitäter den jungen Mann auf ihr Schiff und zwei Leute von uns, die Arabisch, Englisch und Kurdisch sprechen, wollten ihn plus einer Italienisch-Übersetzerin des Goethe Instituts begleiten. Und dann fuhr das Schiff nicht los. Ich bin fast durchgedreht. Die Sanitäter waren seelenruhig bis unbeteiligt. Die Italienisch-Übersetzerin sagte uns: Sie fahren erst los, wenn sie ein Ausweisdokument haben. Ich konnte das nicht glauben. Da lag ein bewusstloser, junger Mann und die Sanitäter wollten einen Ausweis sehen? Schaut in seinen Taschen nach, habe ich geschrien. Aber nichts geschah. Zum Glück fiel unserer Produktionsleiterin ein, dass wir in einem Ordner Kopien aller Pässe unserer Botschafter hatten. Sie rannte in die Kirche zurück, riss das Blatt Papier aus dem Ordner und brachte es den Sanitätern, die keine Anstalten machten, in Hassans Hosentaschen nachzuschauen, ob da vielleicht sein Ausweisdokument drin war. Als sie die Kopie des Ausweises hatten, ließen sie den Motor an und fuhren los. Als sie weg waren, kam eine italienische Aktivistin, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, zu mir und entschuldigte sich. Sie sagte: „I´m so sorry, it´s italy.“ Sie tat mir leid. Und ich sagte, „No it´s Europe“ und dann dachte ich „Scheiße, es ist diese Welt.“ Das ist doch genau das Problem, das wir haben, dass wir alle fortwährend diese Grenzen in unseren Köpfen errichten. Italien, Afghanistan, Deutschland, Türkei, Kurden, Sunniten, Alewiten, Schiiten, Christen, Katholiken, Protestanten, Juden, Sikhs, Hindus, Bahai, Yedi. Verdammt noch mal. Wie kompliziert ist das alles. Deshalb habe ich so lange geschwiegen, Ece. Deshalb. weil alles so kompliziert ist und ich nun, mit 46 Jahren, das erste Mal wirklich verstanden habe, was es heißt, dass alles mit allem, alle mit allen zusammen hängen. Dass es kein kleines und kein großes Leid gibt, sondern nur unser gemeinsames Leid. Dass diese ganze Fragilität unserer Welt, unsere gemeinsame Fragilität ist. Trump ist mein Präsident. Obama ist mein Präsident. Erdogan ist mein Präsident. Die Nazis auf deutschen Straßen sind meine Landsleute. Der Krieg in Syrien hat mit meinem Leben zu tun. Die Grenzen sind meine Grenzen. Die Toten sind meine Toten. Das Kopftuch meiner Nachbarin ist mein Kopftuch. Das ist das Kolonialismus-Ding. Alles hängt mit allem zusammen. Diese Welt ist klein und eng und grausam. Und diesmal hat mich diese Einsicht erdrückt, mir den Hals zugeschnürt, mich daran gehindert Dir zu antworten. Dafür danke ich Dir, liebe Ece. Für diese Blockade, für diese Krise. Und jetzt habe ich das aufgeschrieben und ich will Dir sagen, dass mich dieses pubertäre Gefühl, mit allem Recht und Unrecht dieser Welt in Verbindung zu stehen, nicht mehr lähmt. Im Gegenteil. Ich glaube, es kann mich befreien. Ich glaube, das ist die Liebe. Die Liebe zu dieser Welt, zu diesem Leben, zu den Menschen.

Pass auf Dich auf, Dein Freund Björn

22. Dezember 2016 – Brief nach München versendet (Temelkuran an Bicker)

Ece Temelkuran, 3. Brief vom 22. Dezember 2016

„Es gibt keine zwei Länder Türkei – Deutschland. Es gibt nur ein Land.“ Dieser Satz knallte mir förmlich ins Gesicht, Björn. Nicht wie ein Wind, sondern wie ein harter Gegenstand. Ich glaube, da wurde mir klar, dass da noch jemand eine Sache spürt, die ich seit geraumer Zeit meinen Freunden zu erklären versuche und in der ich wie in einem Stau feststecke.

Unterdessen, hallo Björn.

Diesmal meinte ich, Dir gleich schreiben zu müssen. Jetzt denke ich, wie viele unentdeckte, noch unbegangene Pfade es doch in der Angelegenheit gibt, über die wir reden.

Lass mich von vorn beginnen.

Ich bin jetzt in Zagreb. Vor zwei Jahren drängte mich meine Verlegerin und Freundin Petra, hier eine winzige Wohnung zu kaufen. „Hör zu, Ece, was in der Türkei geschieht, ist ungewiss. Du brauchst eine Wohnung in Europa.“ Jetzt bin ich in dieser Wohnung, denn es ist tatsächlich ungewiss, was in meinem Land geschieht, was wo zerbrechen wird. Doch dass etwas zerbricht, scheint festzustehen. Seit anderthalb Monaten bin ich hier. Wenigstens kann ich jetzt meinen Freunden in Europa und Amerika, die sich nach beinahe jeder Explosion in der Türkei erkundigen, ob ich noch lebe, sagen: „Ich bin in Zagreb“ statt: „Ich bin nicht tot.“ Dann sind alle erleichtert. Nur mir will das nicht gelingen.

Nicht dass ich mich beklagen wollte, ich lebe derart komfortabel, dass man sich dafür schämen müsste. Während Millionen von Menschen überall auf der Welt ihr Zuhause verlassen müssen und sich auf eine ungewisse Reise begeben, habe ich einfach ein Ticket gekauft und bin nach Zagreb gekommen, in diese nette Stadt am Rande Europas. Manchmal denke ich, hätte ich je die Chance gehabt, im Katholizismus Karriere zu machen, hätte ich es mit meinem Riesenschuldgefühl wohl bis zum Papst gebracht!

Nun, ich bin hier und ich schreibe. Zuletzt schrieb ich einen Artikel für den Guardian, er wurde zu einem kleinen Hit, weil ich darin offenbar aussprach, was alle zu hören sich fürchten. Am Beispiel der Türkei malte ich Europäern und Amerikanern aus, was ihnen bevorsteht. Wir traten ja als erste in die postfaktische Welt ein, da wollte ich meine Erfahrungen gern teilen. Wie viele Menschen es doch gibt, die spüren, was vor sich geht, aber nicht darüber reden können. Der Artikel handelt von einem zweitägigen großen Symposium in Kopenhagen mit dem Titel NewsXchange. Journalisten aus aller Welt waren dort. Ich war Rednerin auf dem Eröffnungspodium „Are we out of touch?“. Rate mal, wer die Keynote hielt. Nigel Farrage! Mr. Brexit! Farrage war wohl als Keynote Speaker ausgesucht worden, um uns zu zeigen, wozu wir den Kontakt verloren hatten, doch er war so freundlich, uns Lektionen in Journalismus zu erteilen. Alles wirkte wie die Bestattung der Wahrheit und Farrage, absolut sicher, nicht der hier zu Grabe Getragene zu sein, war der einzig Glückliche bei der Sache. Wie ich anschließend auch in meinem Artikel schrieb, sagte ich zu den Journalisten, die Farrage mit ihren Fragen in die Ecke zu drängen versuchten, aber der Dummdreistigkeit gegenüber natürlich machtlos waren: „Das bringt euch nur um den Verstand. Denn mit postfaktischen Politikern zu reden, ist wie mit Tauben Schach spielen. Selbst wenn ihr nach allen Regeln der Kunst das Spiel gewinnt, werfen sie die Figuren durcheinander.“

An jenem Tag wurde mir einmal mehr klar, dass die Erde mittlerweile eine einzige fragile Kugel ist und wir alle vielleicht an derselben Stelle zerbrechen, und zwar an der Wahrheit. Daher rührt auch das Ringen um Leben und Tod deines Hassan „ohne Papiere“ aus Afghanistan. Denn die allgemein akzeptierte Wahrheit, dass man Menschen, die mit dem Tod ringen, helfen muss, gilt nicht mehr für jeden in gleichem Maße wie früher. Für die anderen lautet die Wahrheit vielmehr: Leute ohne Papiere sind kriminell. Es ist, als spulten sie die Renaissance zurück. Wir, wir alle gemeinsam, kehren in die Zeiten vor jenen Tagen zurück, als Europa beschloss, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Nach der Veranstaltung war ich in Berlin. Um Himmels willen! In Berlin entsteht ein neues Türkei-Ghetto. Ich will dir verraten, worüber ich vor Erbitterung lachen musste: Einige der Intellektuellen, die uns die Plage Erdoğan beschert haben, die in seinen ersten Jahren ihren gesamten Verstand als Intellektuelle dazu einsetzten, ihm Legitimität zu verschaffen, haben längst in Berlin, im Stadtteil Mitte, Wohnungen gekauft, in die sie sich nun flüchteten. Widerwärtig, nicht wahr? Das meine ich, wenn ich sage, es gibt unentdeckte Pfade in den Zeiten, die wir gerade durchmachen. Diese widerwärtigen Details meine ich. Diese Leute gesellen sich jetzt zu der Gruppe „In der Türkei unterdrückte Intellektuelle“ und surfen auf dieser neuen politischen Welle mit, die Schriftstellerin Aslı Erdoğan sitzt unterdessen im Gefängnis. „Interessante Zeiten“ sind wie Jahrmärkte des Bösen, denke ich, da werden an tausenden Ständen all die großen und kleinen Bosheiten und schlechten Seiten des Menschen präsentiert. Sieh dich um, schau sie dir an, such dir etwas aus!

Doch es war etwas anderes, das mir in Berlin am stärksten auffiel. Ich will von einem Gefühl berichten. Wie du weißt, haben die meisten Taxifahrer in Berlin türkischen Hintergrund. Und vielleicht weißt du auch, dass die meisten Türken hier die AKP unterstützen. Bei jeder Taxifahrt fühlte ich mich wie in die Türkei versetzt. Und zwar nicht in die Türkei, die ich liebe, sondern in die „neue Türkei“, die wiederzuerkennen mir schwerfällt. Und ich stellte fest, dass ich jedes Mal nervös war. Als würden mich diese Taxifahrer festhalten und nicht mehr loslassen, als unterstützten sie alle die AKP, als wären sie alle militante Aktivisten jener Partei, die mich hasst. Sie würden mich mit Fragen bedrängen, ich würde im Taxi gefangen sein und nicht mehr herauskommen. Es war wie die in den letzten Monaten, bevor ich die Türkei verließ, zwanghaft gewordene Angst, man würde mir den Pass abnehmen. Erleichterung stellte sich erst ein, als ich das Flugzeug zurück nach Zagreb bestieg. Stell dir vor, du wirst nervös, sobald du jemanden aus deinem Land siehst! Fürchtest dich davor, dieselbe Sprache zu sprechen. Eine idiotische Situation und zugleich lohnt es sich, ihr auf den Grund zu gehen.

Seit einem Jahr denke ich viel über Hannah Arendt nach. Sie ist meine Heldin. Ich las ihre Schriften in viel zu jungen Jahren. Seit dem vergangenen Jahr lese ich sie nun wieder. Ich versuche in ihren Schriften auszumachen, was sie wohl empfunden haben mag, als sie ihr Land verließ. Ob sie die Möglichkeit beunruhigte, nach Ende der NS-Zeit in Amerika einem aus Deutschland geflüchteten Deutschen zu begegnen?

Ich will mich nicht wie eine „Exilantin“ fühlen, Björn. Deshalb tue ich verrückte Dinge. Gestern habe ich zum Beispiel bei Ikea einen Plastik-Weihnachtsbaum gekauft und, in Begleitung von Cognac, zum ersten Mal im Leben einen Christbaum geschmückt. Kindisch und lustig. Doch mir scheint, nur wenn ich solche Dinge tue, gelingt es mir, aus den irren Rollen auszusteigen, die diese „interessanten Zeiten“ uns aufzwingen. Denn ebenso wie interessante Zeiten spektakuläre Diktatoren schaffen, so schaffen sie als deren Gegenstück auch spektakuläre Opfer. Mir scheint, Opfer zu sein, macht einen zu einer der Seiten, die das Spiel in Gang halten. Es macht deine Würde zunichte und dennoch fängst du an, dich über das Spiel zu definieren. Ich denke, man muss mehr sein als dieses Spiel, und um etwas über das Spiel hinaus sein zu können, schmücke ich eben den Tannenbaum und schreibe.

Kennst du Nasreddin Hodscha? Er ist der Held des anatolischen Humors. Alle kennen den langweiligen Rumi, aber wenn du mich fragst, sagt Nasreddin Hodscha viel mehr über mein Land aus. Eine seiner berühmtesten Schnurren geht so:

Eines Tages fiel Nasreddin Hodscha vom Esel. Alle lachten. Auch der Hodscha lachte und sagte: „Ich wollte sowieso grad absteigen.“

Ich glaube, auch ich bin vom Esel gefallen, lache und sage: „Ich wollte sowieso grad absteigen.“ Ich versuche meinen gekränkten Stolz, gekränkt, weil ich mein Zuhause verlassen musste, mit Scherzen zu verschleiern. „Vielleicht bin ich eine Exilantin, aber ich bin eine Exilantin, die Martini trinkt!“

Ich denke so: Im Laufe der Geschichte mussten Milliarden Menschen ihr Zuhause verlassen. Im Laufe der Zeit wurden hunderte Länder derart umgekrempelt, dass jene, die ihr Land  liebten, es nicht wiedererkannten. Und sie alle suchten nach Möglichkeiten, in den interessanten Zeiten, in denen sie lebten, ihre Würde zu bewahren. Dem ein oder anderen gelang es zweifellos, einen Weg zu finden. Einen Weg, mit dieser Fragilität fertig zu werden. Vielleicht sollte man Geschichte studieren.

Liebe Grüße

e.

 

aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

23. Januar 2017 – Brief nach Istanbul versendet (Bicker an Temelkuran)

München, 23. Januar 2017

Liebe Ece, ja, vielleicht sollten wir Geschichte studieren – es ist kein Wunder, dass Du Hannah Arendt liest… ich horche neuerdings auch auf, wenn es im Radio um deutsche Exil-Literaten in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts geht. Was vormals so weit weg schien, wird plötzlich zur Ahnung, zur Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Es ist verrückt. Wir unterhalten uns über Zerbrechlichkeit, über das, was kaputt gehen kann. Und während wir das tun, wird das, was Du erzählst, für mich zum Bild für Fragilität. Was für ein Satz Deiner Verlegerin: „Du brauchst eine Wohnung in Europa.“ Ich sitze in Europa und frage mich, welches Europa sie wohl meint?! Für was steht Europa da? Für Sicherheit? Für Schutz der Menschenrechte? Für Pressefreiheit? Für die Gewissheit, gut behandelt zu werden? Meint sie das postjugoslawische Europa, das an den Traumata des letzten Krieges laboriert, meint sie das osteuropäische Europa, das sich gegen jede Art der Einwanderung abschotten will, meint sie das britische Europa, das nicht mehr existiert, meint sie das Europa der deutsch-französischen Aussöhnung, das es spätestens nach dem bevorstehenden Wahlsieg von Marine Le Pen nicht mehr geben wird? Ja, das sind rhetorische Fragen, das sind Verkürzungen, das ist alles nur die halbe Wahrheit. Aber die Wahrheit ist halt immer eine Frage der Perspektive: Wenn ich als Angehöriger der Roma-Minderheit auf Europa schaue und sehe, dass es in diesem Europa so gut wie gar keinen Platz gibt für diese Menschen, dass sie andauernd und überall struktureller und akuter Diskriminierung ausgesetzt sind, wenn ich als Mensch muslimischen Glaubens miterlebe, wie sich in ganz Europa Ausgrenzungsgelüste und Hassfantasien gegen Muslime ausbreiten, wenn ich als Mensch auf der Flucht in einem serbischen Flüchtlingslager fast erfrieren muss, weil mir nicht einmal ein warmes Dach über dem Kopf angeboten wird, wenn ich als Enkel türkischer Gastarbeiter in Deutschland immer noch als Ausländer behandelt werde, wenn ich als Mensch jüdischen Glaubens miterleben muss, wie rechte Politiker*innen es schaffen, in Deutschland den Diskurs über das Gedenken an den Holocaust zu entern, wenn ich als junger griechischer Akademiker zu Lebzeiten keine Aussicht auf eine adäquate Arbeit mehr habe, wenn ich als 55jähriger Arbeitsloser auf Essensgutscheine angewiesen bin, weil das Geld zum Überleben nicht mehr reicht, wenn in Polen meine Homosexualität beim katholischen Exorzisten ausgetrieben werden soll, … dann brauche ich auch eine Wohnung in Europa, in jenem Europa, das den Humanismus, die Menschenrechte, den Wohlstand, die Solidarität, den kritischen Geist der Aufklärung  auf seine Fahnen geschrieben hat… aber diese Fahnen sind zerfetzt, sie flattern ramponiert im  eisigen Wind dieses bitterkalten Winters. Das schreibe ich, Björn Bicker, der privilegierte, weiße Mittelschichttyp, der mit seiner Familie eine luxuriöse Mietwohnung in einer der wohlhabendsten Städte Europas bewohnt, der noch nie wirklicher Diskriminierung ausgesetzt war, dessen Kindern eine gute Schulbildung offen steht, der bestens davon leben kann, dass er Theaterstücke und Bücher schreibt, dass er künstlerische Projekte entwickelt, die sich mit genau den politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen, die ich oben aufgeworfen habe. Das schreibe ich, der ich neuerdings große Angst habe, dass es bald vorbei sein könnte mit diesen Privilegien, die aus allen möglichen Richtungen bedroht und infrage gestellt werden. Zu Recht und zu Unrecht. Beides gleichzeitig. Wie gehe ich damit um? Und dann lese ich, wie Du von Deiner Angst vor den eigenen Landsleuten schreibst. Und weißt Du was? Diese Angst kenne ich auch. Es ist ein Gefühl, das sich in den letzten zwei Jahren immer breiter Macht, ein Unbehagen, das man sich zuerst gar nicht zu fühlen, geschweige denn zu sagen traut. Auch in Deutschland ist es so, dass ich mittlerweile Angst habe vor spontanen Gesprächen mit Leuten, weil ich fürchte, dass das Gespräch auf Politik kommt. Dass die Leute über Flüchtlinge reden, über Muslime, über Parteien, über alles Mögliche. Denn die Hemmungen fallen, die Schranken sind eingerissen. Letzten Sommer war ich mit meiner Familie in Italien. Wir waren während der Fußballweltmeisterschaft auf einem Campingplatz am Meer. Am Abend bin ich mit meiner fußballverrückten Tochter immer in die Pizzeria da auf dem Platz gegangen, um die Spiele anzuschauen. Auf dem Campingplatz waren viele Deutsche. Am Abend kamen sie mit schwarz-rot-goldenen Hüten und Trikots und bauten sich vor dem großen Fernsehschirm auf. Und als die Nationalhymne gespielt wurde, sind sie aufgestanden, haben ihre rechte Hand auf die Brust gedrückt – das hört sich für Dich als Türkin wahrscheinlich nicht sonderlich spektakulär an, aber wenn Du das als Deutsche tust, dann ist das eine Botschaft. Eine Nachricht an die Welt: eine neue Zeit hat begonnen. Die Nachfahren derer, die die halbe Welt in Schutt und Asche gelegt haben, die sechs Millionen Juden ermordet haben, die Nachfahren von denen, die auch in Italien Massaker verübt haben, übrigens gar nicht weit von dem Campingplatz auf dem wir waren, die neuen Deutschen sind wieder da. Und weil sich viele von meinen Landsleuten permanent schwach und ungeliebt fühlen, weil sie mit der unfassbaren narzistischen Kränkung zweier aufeinanderfolgender Diktaturen nicht zurecht kommen, müssen sie sich schon wieder in so ein übersteigertes RiesenIch flüchten. Die Grenzen haben sich verschoben. Es ist wie Du schreibst: die Wahrheit ist nur noch eine Hülle, ein Witz, jede Behauptung wird heutzutage zur Wahrheit, Du musst sie nur laut genug raus schreien oder oft genug twittern. Es ist in Deutschland mittlerweile normal, dass man schlecht über ganze Bevölkerungsgruppen redet, dass man Solidarität aufkündigt – das ist in den meisten Medien, sei es Fernsehen oder Print, egal, längst gang und gäbe. Es werden Talk-Shows vor Millionenpublikum abgehalten, in denen ernsthaft diskutiert wird, ob man ganz Bevölkerungsgruppen diskreditieren dürfe oder nicht, Feuilletonredakteure in vormals links-liberalen Zeitungen, schreiben Artikel darüber, dass sie jetzt rechts seien und darauf gefälligst auch ein Recht hätten – immer mit der Unterstellung, irgendwer würde ihnen dieses Recht absprechen. Wir nehmen hin, dass Lehrer, die unsere Kinder unterrichten, Mitglieder in einer Partei sind, die offen gegen Muslime hetzt, die unser Grundgesetz in Frage stellt, weil sie gegen Kunst- und Pressefreiheit agitiert, wir dulden sogar Richter, die offen völkisches und antidemokratische Gedankengut von sich geben. Eines der bestverkauftesten Sachbücher der letzten Jahre hat ein SPD Politiker, ein ehemaliger Finanzsenator Berlins,  geschrieben. „Deutschland schafft sich ab“ ist der Titel. In diesem Buch unterstellt er muslimischen Menschen mangelnde Intelligenz und Entwicklungsfähigkeit. ER argumentiert offen biologistisch. Er ist mit seinem Buch vom bürgelichen Publikum in Literaturhäusern und Buchhandlungen gefeiert worden. gefeiert worden.  Er ist nach wie vor Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Man hat ihn nicht rausgeschmissen, man hat die Solidarität nicht aufgekündigt. Aber es ist noch komplizierter. Es ist, wie Du es geschrieben hast, es geht um die Wahrheit, es geht um die postfaktische Wahrheit, um die Infiltrierung aller Gehirne, um das Behaupten von Unwahrheit. Aber weißt Du, die Strategie der Lügner, so nannte man das früher, ist klug. Sie setzen ihre Lügen solange in die Welt, bis sie von den anderen übernommen werden, ohne dass sie es merken. Und dann haben sie gewonnen. Ich gebe Dir zwei Beispiele: Als Reaktion auf die vielen sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015/2016 hat die Kölner Polizei, in diesem Jahr präventiv ganz Gruppen von scheinbar nordafrikanisch aussehenden Männern festgesetzt, sie kontrolliert und registriert. Sie haben also aufgrund von äußeren Merkmalen, Profiling betrieben. Man nennt das Racial Profiling, ob man will oder nicht. Nun hat am Tag danach eine Politikerin der Partei Die Grünen, dieses Verhalten der Polizei infrage gestellt und angemahnt, man müsse über derartiges Vorgehen der Polizei öffentlich debattieren. Alle, wirklich alle, sind der Politikerin in den Rücken gefallen. Auch ihre Parteikolleg*innen. Die Polizei habe richtig gehandelt, hieß es fast überall, man habe  die Frauen schützen müssen usw. Das heißt, auch Politiker*innen, die normalerweise für eine liberale und offene Gesellschaft frei von Diskriminierung stehen, haben plötzlich Kritikverbote ausgesprochen. Und warum? Weil sie Angst hatten, dass der populistische, der postfaktische Teil der Gesellschaft mit dem Finger auf sie zeigen könne und sagen: Schaut mal, diese intellektuellen Mitglieder der Elite haben den Kontakt zur Realität verloren, sie nehmen Straftäter und Vergewaltiger in Schutz! Die Polizei hat in der Nacht getwittert, dass es sich bei den feierwütigen jungen Männern um NAFRIS handle, um sogenannte „NordAFRnische IntensivStraftäter“. Die freundlichere Variante spricht schlicht von „NordAFRIkanischen Männern“ Und prompt diskutiert das ganze Land darüber, wie man mit nordafrikanischen, muslimischen Männern umzugehen habe, Tunesien, Algerien, Marokko werden schnell zu sicheren Herkunftsländern erklärt, damit man Asylsuchende schneller und leichter abschieben kann. Die Information, dass der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz aus Tunesien stammt, wird genüsslich in den ganzen Brei hineingerieben und als Bestätigung des eigenen Ressentiments gewertet. Das musst Du Dir mal vorstellen! Und weißt Du, was sich zwei Wochen später, nach der Analyse der Polizeidaten herausstellt? Unter den 900 kontrollierten Personen am Kölner Hauptbahnhof waren kaum Nordafrikaner. Es war eine diverse Gruppe aus Afghanen, Syrern, Irakern, Deutschen und ein paar Nordafrikanern, die kontrolliert wurden und denen präventiv Platzverweise etc. ausgesprochen wurden.  Aber weißt Du, was als Message zurückgeblieben ist? Man darf die Polizei nicht mehr ob ihres rassistischen Gebarens, massenhaft racial profiling zu betreiben kritisieren, ohne in die Ecke von Vergewaltigern, Vaterlandsverrätern und linken Spinnern gestellt zu werden. Noch schlimmer: es ist so weit, dass das Reden über Rassismus als unanständig gilt. So verschiebt sich der Diskurs. Das andere Beispiel ist viel subtiler und erzählt darüber, wie das Gift der postfaktischen Marktschreier, längst in unsere eigenen und die Hirne und Herzen unserer Freunde gesickert ist. Ein befreundeter Journalist, ein offener, herzensguter, an Ehrlichkeit interessierter Kerl, Musikfan und Kenner und Beobachter der amerikanischen (Pop)Kultur hat neulich ein Video auf Facebook gepostet, in dem ein paar vermummte,  amerikanische Feministinnen zu sehen sind, wie sie auf einer Demo gegen Trump immer wieder Allahuakbar rufen. Offensichtlich eine Art Protest gegen den islamophoben Diskurs, den Trump und seine Anhänger forcieren. Gleichzeitig auch eine solidarische Aktion. Mein Bekannter hat ernsthaft gefragt: „Wieso rufen diese Feministinnen die selben Worte, die kriminelle Attentäter schreien, wenn sie massenhaft Menschen erschießen, in die Luft jagen oder mit dem LKW überfahren?! Kann mir das jemand erklären?“. Er wollte das wirklich wissen. Hä? Diese Worte sprechen Millionen von friedlichen Muslimen fünf mal am Tag während ihrer Gebete…. aber der gewöhnliche, nicht-muslimische Westeuropäer identifiziert diesen Ausruf nur noch mit diesem terroristischen Haufen verblödeter Menschenfeinde. Seine Frage hat mich schockiert. Das heißt: Sowohl die Terroristen als auch die rechten Islamhasser haben ganz Arbeit geleistet. Die Religion der Muslime, die Muslime selbst, sind diskreditiert. Die Terroristen können sich die Hände reiben, weil das die Grundlage ist, warum Muslime in den nicht-muslimischen Ländern weiter und noch krasser diskriminiert und wahrscheinlich bald verfolgt werden und das wiederum ist für diese terroristischen Spatzenhirne die Rechtfertigung weiter zu töten. Und die rechten Islamhasser sind zufrieden, weil sie erreicht haben, was sie erreichen wollten: die Menschen assoziieren mit Muslimen Gewalt, Terror und Angst. Sie haben den „Anderen“ kreiert und markiert, den „Anderen“, den es zu vertreiben, zu bekämpfen, zu beschimpfen gilt. Weil man selber so eine arme Wurst ist. In Wirklichkeit. Ja, so wird aus der Verkürzung, aus der Lüge, eine schmerzende, postfaktische Wahrheit, die selbst von denen verkündet wird, die es gar nicht so meinen. Das ist die Gefahr. Diese Verschiebung von der Behauptung zur Wahrheit ist ein Phänomen, das uns Donald Trump und seine Entourage am Tag nach seiner Inauguration vorgeführt haben. Es ging um die lächerliche Frage, bei wessen Amtseinführung eigentlich mehr Leute waren, bei seiner oder bei Obamas. Journalisten haben Bilder gezeigt, ein halb leeres Feld bei Trump, ein gefülltes Feld bei Obama. Und dann hat Trump einfach behauptet, dass noch nie so viele Menschen bei einer Inauguration waren wie bei seiner. Punkt. Und am Abend hat er von seinem Krieg mit den Medien geredet und am nächsten Morgen hat sein Pressesprecher gesagt, dass man Journalisten zur Rechenschaft ziehen werde, die Unwahrheiten verbreiteten. Angesprochen auf die Faktenlage, dass es tatsächlicher weniger Zuschauer bei Trump waren als bei Obama, sagte der Pressesprecher: Ich biete ihnen alternative Fakten an. Das ist das neue Wort: Alternative Fakten. Das ist das kindliche „Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt“ und zwei Mal Drei ist Neun. Kennst Du Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf? Und bei genauerem Nachdenken, muss ich sagen, dass dieser lächerliche Phallus-Vergleich, wer mehr Zuschauer hatte, gar nicht lächerlich ist, sondern beängstigend. Denn wer solange behauptet, dass zwei mal drei neun ist, bis die anderen ernsthaft anfangen darüber zu diskutieren, ob etwas dran sein könnte, an dieser „steilen These“, der behauptet auch irgendwann, dass bestimmte Menschen nicht mehr zu unserer Gesellschaft gehören, der behauptet auch irgendwann, dass es Leben gibt, das nicht lebenswert ist, der behauptet auch irgendwann, dass man andere Menschen hassen müsse, weil sie eine andere Religion, eine andere Hautfarbe, eine andere Herkunft haben. Und die anderen werden darüber diskutieren, anstatt zu sagen: NO! Enough is enough! Und das ist die Gefahr der postfaktischen Realität. Dass sie uns aus den Fingern gleitet, dass wir ohnmächtig werden. Uns zurück ziehen… Und lachen, wie Dein türkischer Spaßmacher, ach, ich wollte doch sowieso gerade absteigen… ich muss mich jeden Tag daran erinnern, dass ich nicht absteigen möchte, ich möchte erhobenen Hauptes auf dem Esel sitzen und die Kompliziertheit und die Schönheit und das Scheitern verteidigen. Mit Wörtern. Mit Geschichten. Mit Liebe und mit Zuversicht.

Pass auf Dich auf, alles Gute, Dein Björn

31. Januar 2017 – Brief nach München versendet (Temelkuran an Bicker)

4. Brief Ece Temelkuran vom 31.01.2017 – aus Zagreb

Lieber Björn,

Dein Brief zwingt mich, über die Sache nachzudenken, bei der meine Worte wohl am fragilsten sind. Islam. Da ich mich eigentlich bemühe, darüber weder nachzudenken noch zu reden, wird es das Beste sein, meine Gedanken dazu beim Schreiben an Dich zu entwickeln. Kürzlich, am Tag nach Trumps Vereidigung, hielten amerikanische Frauen eine riesige Protestdemonstration ab, eine Erleuchtung für mich und meinesgleichen überall auf der Welt. Was für ein Glück haben die Amerikaner mit Trump. Er ist nicht wie unser Trump an die Macht gekommen, indem er sich verstellt und als netter Demokrat dargestellt hat. Er ist ganz offen ein „bully“. Das macht die Sache für die amerikanischen Oppositionellen leichter. Zum ersten Mal schätze ich die Amerikaner wirklich hoch. Sie weigerten sich, wie Arendt es beschrieb, sich an der Macht auszurichten. Künstler, Intellektuelle, Journalisten äußern offen ihren Unmut. Andererseits aber ist das von Albert Camus erwähnte Vertrauen darin, eine menschliche Reaktion zu wecken, wenn wir zu Menschen in menschlicher Sprache sprechen, vielleicht gar nicht mehr vorhanden. Denn Meryl Streep mag mit ihrer Rede bei einer Preisverleihung zwar offen ihren Protest gegen Trump geäußert und dafür gesorgt haben, dass unsere Augen feucht wurden. Doch Trump-Anhänger halten sie, genau wie Trump es formulierte, schlicht für „überschätzt“. Unsere Worte erreichen diese Menschen gar nicht.

Ich bin vom Thema abgekommen. Was ich eigentlich sagen wollte: Auf einem der Transparente bei der Frauendemonstration war eine muslimische Frau abgebildet, mit der US-Flagge als Kopftuch. Die ägyptische Journalistin Mona Eltahawy, Autorin des Buches Warum hasst ihr uns so?, schrieb dazu auf Twitter: „I cannot celebrate this poster“ (Ich kann dieses Poster nicht gut finden), denn: „Ich habe jahrelang gegen das Kopftuch gekämpft.“ Genau das dachte ich auch. Unter den Kopftuch tragenden Frauen sind viele, die sich nicht frei dafür entscheiden, sondern dazu gezwungen werden. Warum sollten wir ihre Lage legitimieren? Außerdem: Hat man denn in Sachen Religion eine freie Wahl? Für die Rechte von Kopftuchträgerinnen eintreten oder für das Kopftuch eintreten, die Linie dazwischen ist ungeheuer schmal. Es ist die schmale Linie zwischen Respekt und Unterstützung. Und wir haben in der Türkei gesehen, dass es unmöglich ist, diese Linie nicht zu überschreiten.

Ich habe ein Jahr in Tunesien gelebt, um meinen Roman „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann“ zu schreiben. Ein Land, in der die sexuelle Frustration schier mit Händen greifbar ist. Ja, es ist ein unglaubliches Profiling, Männer festzusetzen, nur weil sie aus Tunesien stammen, andererseits gibt es einen Fakt: Es kommt durchaus vor, dass diese Männer Frauen belästigen. Vielleicht macht es auch mich zur Rassistin, wenn ich das offen ausspreche, aber ich glaube, es bringt nichts, nicht darüber zu reden, dass genau hier das Problem liegt. Es gibt eine Menge Probleme in den islamischen Ländern: sexuelle Ungleichheit, Bildungsmangel, Unterentwicklung, religiöse Unterdrückung. Die werden nicht gelöst, wenn wir alle, die sich kritisch dazu äußern, als Rassisten hinstellen.

Ich muss das sagen, denn eines haben wir in der Türkei gesehen: Jene, die mit der Forderung: „Respekt für unseren Glauben, Freiheit für das Kopftuch!“ an die Macht kamen, zwingen jetzt Mädchen schon im Vorschulalter unter das Kopftuch. In den Vorschulen werden Scharia und Tod propagiert. Für dieses kranke Verhalten gibt es Tausende historische Gründe. Die Sache reicht in die Zeit des Kalten Krieges zurück. Der Islamismus, von westlichen Staaten einst gefördert, um den Anti-Kommunismus zu stärken, wendet sich heute gegen sie selbst. Besonders schwer aber haben es die fortschrittlichen, säkularen Menschen in diesen Ländern, die von einem menschenwürdigen Leben träumen. Wir stellen uns natürlich nicht auf die Seite der Rassisten in Europa, aber wir können uns auch nicht auf die Seite der anderen stellen. Ich glaube, der „fortschrittliche Mensch in Nahost“ ist eine bedrohte Spezies, wir sterben nach und nach aus. Am allereinsamsten sind wir.

Du erwähnst Pippi Langstrumpf, wie schön! Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind stundenlang allein mit dem Betrachten des Buchdeckels zubringen konnte. Als ich die Abenteuer des Mädchens mit dem orangefarbenen Haar las, ahnte ich nicht, dass das Schicksal des Menschen maßgeblich von den als Kind gelesenen Büchern mitbestimmt werden kann. Dieses Mädchen hat vermutlich mit dafür gesorgt, dass überall auf der Welt eine Generation ganz anderer Frauen heranwuchs. Auch ich gehöre dazu. Welche Fragen würde Pippi, „das schönste Mädchen der Welt“, wohl heute stellen?

Früher liefen ihre Filme im türkischen Staatsfernsehen. Dort gibt es jetzt nur noch dumme religiöse Sendungen. In den letzten 10 Jahren wuchs eine Generation heran, die derart indoktriniert wurde, dass weder sie etwas mit uns anfangen kann, noch wir mit ihr. Diese Generation hält Pippi für abartig. Und nun sag Du mir, warum ich geneigt sein sollte, mich für deren Glaubensfreiheit einzusetzen. Solange der Islam nicht reformiert wird, und das dürfte ziemlich blutig vonstatten gehen, tut Pippi gut daran, erst einmal sich selbst zu schützen.

Du hast recht, Europa ist kein Zufluchtsort mehr. Auch in Kroatien ist von Spannungen die Rede, davon, dass in Bosnien ein neuer Krieg ausbrechen könnte. Daran mag ich nicht einmal denken. Ich habe gerade begonnen, „Writing Box“  zu lesen, ein seltsames Buch des serbischen Schriftstellers Milorad Pavić. Über einen Satz zu Beginn des Buches musste ich bitter lachen:

„Whenever Europa gets sick, it seeks a cure for the Balkans.“ (Immer wenn es Europa schlecht geht, sucht es Heilung für den Balkan.)

Ich glaube, du hast recht, es gibt keinen echten Zufluchtsort mehr auf der Welt. Das wiederum bringt mich dazu, über die Chemie des Menschen nachzudenken. Erster Reflex des Menschen ist es nicht, Widerstand zu leisten, das tut er erst, wenn es keinen Ort mehr gibt, an den er sich flüchten könnte. Wir stehen wohl an der Schwelle zu „Widerstand“ im weitesten Sinne. Ich weiß nicht, ob unsere Generation es noch erleben wird, doch ich glaube, es wird auf der Welt so ähnlich werden wie in „V wie Vendetta“ . Massen, die ihre Ideologie nicht mehr formulieren können, weil sie verdummt wurden, werden aufstehen, doch ohne zu wissen, wogegen sie rebellieren und was sie stattdessen eigentlich genau wollen. Am liebsten würde ich der Menschheitsgeschichte zurufen: „Diese Sache mit dem Sozialismus hättest du besser nicht so radikal aus der Geschichte gestrichen! Vielleicht gab es daran durchaus etwas zu lernen!“ Wenn ich sehe, wie überall auf der Welt junge Menschen darum ringen, die Impulse des sozialistischen Diskurses neu zu erfinden, neu zu buchstabieren, verkrampft sich mein Herz: Welch verlorene Zeit!

Sie sind so fragil. Wenn wir über Fragilität reden, dann vielleicht genau darüber. Protest und Widerstand sind so fragil, weil die Leute keine Worte haben. Worte, die sie den Herrschenden um die Ohren schlagen könnten. Darum werden sie noch oft stolpern. Das sehe ich, wenn ich mir die Amerikaner anschaue. Dabei könnten wir die Texte, die Worte, die es ja gibt, erneuern und damit unseren Weg fortsetzen, wenn sie nicht gänzlich aus der Geschichte gestrichen worden wären.

Protest und Widerstand sind so fragil, weil sie allein auf einem großen „Nein“ gründen. Ein zweiter Satz dahinter fehlt, auch wenn so getan wird, als gäbe es ihn. Die Welt sieht sich mit einem infantilisierten Protest konfrontiert. Wie traurig.

Dennoch habe ich Hoffnung. Es sieht ganz danach aus, als würde Amerika uns in all seiner Naivität einmal mehr inspirieren. Zum ersten Mal schätze ich diese Naivität und beobachte sie aufmerksam.

In Freundschaft,
Ece.

PS: Magst Du Trüffel? Die sind hier sehr günstig. Wenn Du mir Deine Adresse gibst, schicke ich Dir welche 🙂

 

 Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe