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Georg Klein Viktor Martinowitsch

Brief nach Vilnius versendet (Klein an Martinowitsch)

Traum auf singenden Geleisen

Erster Brief an Viktor Martinowitsch

Lieber Viktor Martinowitsch,

wir kennen uns noch nicht von Angesicht zu Angesicht, aber es hat mir bereits von uns beiden geträumt:

Ich bin unterwegs. Ich befahre in einem Zug eine besondere Bahnstrecke, die in der Zeitrechnung meines Traums erst vor wenigen Wochen erneut in Betrieb genommen worden ist. Es ist die alte Fernverbindung Berlin – Königsberg, die vor mehr als einem halben Jahrhundert Deutschlands einzige Metropole mit der damals östlichsten deutschen Großstadt verband.

Ich rolle auf restaurierten Geleisen. Und ich weiß – weit besser als je im Wachen! – über die eisenbahngeschichtliche Bedeutung dieser Strecke Bescheid: Vor dem letzten großen Krieg wurde hier, auf einem schnurgerade verlaufenden Teilstück, ein denkwürdiger Geschwindigkeitsweltrekord für Dampflokomotiven aufgestellt: 220 Stundenkilometer! Unter Eisenbahnfans ist der Name der fraglichen Lok seitdem rund um den Globus Legende. Als ich mich später, im nüchternen Licht des Wachseins, an diesen Namen zu erinnern versuchte, konnte ich allerdings bloß noch sagen, dass er aus einem deutschen Mädchenvornamen und einer recht langen, fünf- oder sechsstelligen Nummer bestand.

Im Traum stimmt mich der alte, der Kraft der Steinkohle geschuldete Rekord heroisch. Ich bin stolz, dass solch grandiose Zugmaschinen von den Ingenieuren des Jahrhunderts ersonnen worden sind, in dessen Mitte ich geboren wurde. Und wunderbar angemessen erscheint mir, dass die Planung und der Neubau der Strecke nun von einem internationalen Konsortium bewerkstelligt wurden: Nicht nur die EU und Russland, sondern auch verschiedene Organisationen der UN haben kooperiert. Und kein geringerer als Mark Zuckerberg, der seit seit seiner Kindheit ein notorischer Railroad-Fan ist, hat das Projekt mit einer einzigartigen Facebook-Kampagne und einer märchenhaft hohen Spende aus seinem Privatvermögen unterstützt.

Leider existiert keine Dampflokomotive der fraglichen Baureihe mehr. Ein Nachbau ist jedoch bereits in Arbeit. Vorläufig wird das grandiose Dampfross noch von einer russischen Diesellok vertreten, die aus den Beständen der Deutschen Reichsbahn der DDR stammt und in einem Eisenbahnmuseum den Feueröfen der Verschrottung entgangen ist.

Auch bei Instandsetzung der fast 600 Kilometer langen Trasse wurde nach Möglichkeit originalgetreu verfahren. Und so rollt mein Zug nun über sündteure Eichen- und Buchenschwellen Richtung Kaliningrad. Hier, im Traum, ist just mit dem Verzicht auf moderne Betonschwellen ein besonderer Gewinn verbunden: Das Fahrgeräusch wird von den hölzernen Querstreben auf eine mirakulöse Weise gemildert. Kenner behaupten sogar, dass sich das schnöde Rattern der Räder auf den stählernen Schienen durch perfekt verlegte Hartholzschwellen in polyrhythmischen Wohlklang, fast in etwas Melodiöses verwandelt. Und im Traum bekümmert mich, dass ich leider zu unmusikalisch bin, um nun dergleichen herauslauschen zu können.

Die Abteile, an denen ich entlanggehe, gleichen bis ins Detail den westdeutschen Regionalzügen meiner Kindheit. Der Traum hat sich nur wenig Mühe damitgemacht, weitere Elemente hinzuzufügen. Die samtenen Vorhänge an den Fenstern kenne ich aus einem italienischen Provinzzug, mit dem ich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gefahren bin. In die kleinen Spiegel, die über den Rückenlehnen angebracht sind, hat man Wörter in kyrillischen Buchstaben geschliffen. Ich weiß, dass es sich um die Namen von Produkten handelt, für die auf diese altmodisch diskrete Weise Werbung gemacht wird, aber bis auf ein offensichtliches „Coca-Cola“ gelingt es mir nicht ein weiteres Wort zu entziffern.

Nur knapp sechs Stunden bis Kaliningrad! Schon am Abend meiner Ankunft soll dort ein Kongress von Autoren beginnen, zu dem mich einer der Veranstalter, das deutsche Goethe-Institut, eingeladen hat. Und im Königsberger Schloss werde ich endlich Viktor Martinowitsch persönlich kennenlernen, der heute ebenfalls von Berlin aus, wo er aus seinem neuen Roman gelesen hat, in die russische Enklave reist.

Heute? Von Berlin? Das heißt, er könnte wie ich in diesem Zug unterwegs sein! Warum haben wir keine gemeinsame Anfahrt vereinbart? Wir sind doch in elektronischem Kontakt. Hier knirschen die Zahnräder meiner Traummaschine. Der große nächtliche Erzähler, wer immer das sein mag, hat uns in eine logische Sackgasse manövriert. Aber sogleich lenken mich persönliche Widrigkeiten hiervon ab: Der Zug ist recht voll. Habe ich eine Reservierung? Habe ich überhaupt ein Ticket? Auch wo sich mein Rollkoffer befindet, kann ich nicht sagen.

Ich beschließe ihn zu suchen. Obwohl er ein rechtes  Allerweltsmodell ist, werde ich ihn sofort erkennen, weil ich vor Jahren mit einem weißen Lackstift meinen Namen und meine damalige Mobilfunknummer auf sein schwarzes Nylon gekrakelt habe. Ich will ganz ans Ende des Zugs und mich dann Wagen für Wagen, Abteil für Abteil nach vorne arbeiten. Irgendwo wird sich mein Koffer schon finden lassen.

Wie lang dieser Zug ist! Und bald muss ich entdecken, dass ich nicht der einzige bin, der ihn sorgfältig, noch sorgfältiger als ich, nämlich mit festem Blick in jedes Gesicht, abläuft. Ein schlanker, noch junger Mann in einer bedenklich schwarzen Uniform, eine leuchtend rote Schirmmütze auf dem Kopf, kommt mir entgegen. Es kann sich nur um einen Kontrolleur handeln!

( Lücke! Hier fehlt etwas. Oder der Traum gönnt sich und mir einen Zeitsprung, um Schwung in sein Geschehen zu bringen …)

Alles ist gut! Ich sitze allein mit demjenigen, den ich in unnötiger Ängstlichkeit für einen Fahrkartenkontrolleur gehalten habe, in einem Abteil. Durch das Fenster flutet sommerliches Sonnenlicht. Draußen kann ich hinter dichtem Laubwald das glitzernde Meer und dahinter einen weiteren grünen Streifen erkennen. Eine Nehrung? Ich wusste gar nicht, dass ein Teil der Bahnstrecke so bald schon parallel zur Küste der Ostsee verläuft?

Der Uniformierte reicht mir ein Klemmbrett. Er hat mir bereits, auf Englisch, erläutert, worum es geht. Im Auftrag jenes Konsortiums, das die Strecke erfolgreich betreibt und mittlerweile deren Verlängerung bis Sankt Petersburg plant, wird eine Umfrage unter den ersten 1000 Fahrgästen veranstaltet. Er bittet mich nun den leider etwas umfangreichen Fragebogen auszufüllen.

Ich setze meine Lesbrille auf und beginne zu lesen. Merkwürdigerweise tue ich dies laut, als komme es mir darauf an, dass wir beide den Wortlaut der Fragen nun gleichzeitig hören. Da steht auf Deutsch:

TransEuropaExpress / FAHRGÄSTEBEFRAGUNG

1. Träumen Sie gelegentlich vom letzten Weltkrieg, obwohl ihr Körper, zumindest ihre Augen, ihre Finger und ihre Füße, nachweislich nicht an ihm teilgenommen haben können? Wenn ja, was erleben Sie dann und wo genau findet das Geschehen statt?“

2. Glauben Sie, dass es eine eigenständige Geschichte der Technik gibt? Und wenn ja, wo fühlen Sie sich am ehesten in dieser besonderen Historie zuhause?

3. Stellen Sie sich bitte vor, es hätte sie beruflich zur Polizei oder zu einem Geheimdienst verschlagen. Wenn man dort jeden Mitarbeiter – auch Sie! – mit großer Achtsamkeit entsprechend seinen jeweiligen Fähigkeiten einsetzen würde, welcher speziellen Tätigkeit gingen Sie dann in ihrer Behörde nach?“

Zur vierten Frage komme ich leider nicht, denn mein Gegenüber hat, aus einem mir dunklen Grund, zu lachen begonnen, nur leise und hinter vorgehaltener Hand, aber weil ich dieses Lachen von außen, durch meine wirklichen Ohren, zu hören vermeine, wache ich erschrocken auf!

Herzliche Grüße aus dem nordwestlichsten Winkel Deutschlands sendet Ihnen

Ihr Georg Klein

Antwortbrief nach Bunde versendet (Martinowitsch an Klein)

Erster Brief an Georg Klein

Lieber Georg!

Vor zwei Jahren, also lange bevor mich Ihr erster Brief erreichte, saß ich in einem Zug von Vilnius nach Minsk. In dem kurzen Augenblick, als die belarussisch uniformierten Grenzer schon gegangen waren, der Zug aber noch nicht wieder angefahren war, kippte ich im warmen Schein der Abendsonne weg. Ich schlief nicht lange – nach kurzer Zeit setzte sich der Zug mit knirschenden Kupplungen in Bewegung und scheuchte mich wieder ins Bewusstsein zurück. In diesen wenigen Minuten durchlebte ich etwas, das die drei Fragen aus dem Fragebogen, den Sie im nichtexistierenden Abteil des nichtexistierenden TransEuropaExpresses gelesen haben, metaphorisch und umfänglich beantwortet. Lange Zeit hatte ich nicht gewusst, wohin mit diesem Erlebnis – bei der Beichte erzählt man ja üblicherweise nicht von den sonderbaren Umtrieben jener Gestalten, zu denen wir in unseren Träumen werden. Und die Erzählung als literarische Gattung stirbt auf unserer Seite der Großen Mauer einen stillen Tod, die Verleger halten kurze Texte für nicht »verkäuflich«, was auch immer dieses Wort bedeuten mag. Bei der Lektüre des Fragebogens ging mir plötzlich auf, dass unser Dialog nicht nur auf allen Realitätsebenen einschließlich der Traumwirklichkeit stattfindet, der die Prosa ja zu weiten Teilen entstammt. Sondern dass er darüber hinaus in Sphären vordringt, die weder Vergangenheit noch Zukunft kennen, Sphären, in denen heute gestellte Fragen Antworten aus dem Vorgestern erhalten können. Aus eben diesem Grunde übergebe ich nun das Mikrofon dem Erzähler, der an jenem schwülen Abend im Zug von Vilnius nach Minsk in mir erwacht ist.

 

Kurator Didenko
Der Vordruck für die Erklärung zur freiwilligen inoffiziellen Mitarbeit sah ganz profan aus: Kopierpapier, schlampig gedruckte Buchstaben, ein Strichcode aus Balken, vom Drucker über die Seite verstreut. Nach meiner Vorstellung erforderte der Verkauf der eigenen Seele wenn nicht Banknotenqualität, so doch wenigstens einen Offsetdruck. Ein А4-Blatt auf einem klebrigen Tisch – mehr brauchte es nicht zum Mephisto.

Der Teufel saß mir gegenüber und spachtelte Hafergrütze. Unser Treffen hatte er in der Kantine einer jener außerstädtischen Einrichtungen ohne Türschild angesetzt, die bei den Einheimischen als Regierungs-Kurhäuser galten (das vorangestellte Attribut erklärte auch die im Abstand von 50 Metern am Zaun installierten Kameras) und die von Pilzsammlern gerne weiträumig umgangen wurden. Der Kurator war glubschäugig und rotgesichtig, dabei aber kuratorisch konzentriert. Graues Hemd, Bügelfalten selbst auf den kurzen Ärmeln. Kauend ähnelte er einem brueghelschen Bauern, die Lippen mit dem Taschentuch tupfend eher einem sadistischen Kommissar, der eben ein ganzes Dorf brueghelscher Bauern hatte erschießen lassen.

Eine Hoffmann-Figur im Kostüm eines Gaidar-Helden. Ein gewiefter Teufel. Diabolenko.

Vor ihm stand ein Tablett mit dem Mittagessen, ihm gegenüber ein Glas Wasser. Kaum hatte ich den von zahlreichen weiteren konzentrierten Essern bevölkerten Speisesaal betreten, gab er mir ein wortloses Handzeichen, er hatte sofort erkannt, dass ich zu ihm wollte. »Sergej Nikolajewitsch«, brummte er und wies mir den Platz gegenüber an.

Ein abgerückter Tisch.

Ein Glas Wasser.

Ein Kollege, der ihm im Vorbeigehen auf die Schulter klopfte: »Servus, Walentinytsch.« Ohne einen Anflug von Bitterkeit tupfte sich der Teufel die Lippen mit dem Taschentuch.

»Wozu das Glas Wasser, Genosse Kurator?«, fragte ich ihn.

»Erstens mal bin ich kein Kurator für dich«, schnitt er mir das Wort ab. »Von lebenden Kuratoren haben wir uns gänzlich verabschiedet.« Er stockte kurz. »Und zweitens: Hier, unterschreiben.«

So erschienen auf der bereits erwähnten klebrigen Tischplatte der bereits erwähnte Vordruck und ein noch nicht erwähnter Kugelschreiber. Ich trug Name und Passnummer ein, ergänzte Datum und Unterschrift. Er legte das Blatt schief zusammen, stieß auf und stopfte es in seine Gesäßtasche.

»Den Kuli zurück«, ordnete der Nicht-Kurator an.

Ich entschuldigte mich. Aus und vorbei, sang in meinem Kopf ein munterer Mozart-Tenor. Es führt kein Weg zurück, mein lieber Freund! Sei stark! Sei kühn! Sei schweigsam! Das wirst du nicht mehr los. Das ist für die Ewigkeit.

In die Politik geschickt hatte mich die Trommler-Gewerkschaftsleitung. Die Tür neben der Kaderabteilung. Ich war mit meinem Orchesterschein gekommen, und sie hatten mich aufgeklärt: Du kriegst direkt nach dem Kulturinstitut entweder Festanstellung und Wohnheimplatz oder das Pu-der-Bär-Kostüm für die Kindervorstellung am Morgen. Die Wahlen stehen vor der Tür, Genosse Musiker, wenn wir niemanden nominieren, wer kämpft dann in den Lokalsowjets für stabile Verhältnisse? Die Älteren und Erfahrenen mit Reputation und Repertoire winkten ab, sie hatten Gastauftritte in Paris. Ich war das geeignete Opfer: ein frisch gebackener Absolvent, angewiesen auf Wohnraum und Bühne. »Keine Sorge, deputieren können Sie, ohne aus dem Geschäft auszusteigen. Tagsüber wird abgenickt und abends bei den Staatssinfonikern auf die Pauke gehauen«, erklärten sie mir bei der Trommler-Gewerkschaft. Und als ich dann eingewilligt hatte, kamen sie als Zugabe mit der Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit um die Ecke. »Ein Kernelement der politischen Stabilität des Systems, Genosse Absolvent«, seufzte die Gewerkschaftsleitung. Um sogleich mit einem Augenzwinkern hinzuzufügen: »Nicht, dass Sie noch irgend so einen liberalen Bockmist bauen.«

So wurde ich Deputiertenvertreter und Denunziantenanwärter. Dazu hier einen auf leichte Schulter zu machen, fiel mir einigermaßen schwer.

Das Glas Wasser. Es hatte folgenden Grund. Nachdem Mephisto die Erklärung in der Tasche hatte, schüttelte er aus seinem Geldbeutel ein in Folie eingeschlagenes quadratisches Papierchen auf den Tisch und ordnete an:

»Austrinken. Aber nicht zerkauen.«

Ich riss die Verpackung auf. Sie enthielt eine silbrige Tablette, die ein wenig zu schwer war für Durchmesser und Dicke. TRANSPLANTAB stand auf dem Rand geschrieben.
»Mit Wasser nachtrinken, aber reichlich«, kommandierte mein Gegenüber. »Das Wasser brauchst du als Elektrolyt«, fuhr er undurchsichtig fort.
Ich leerte das Glas. Mein wortkarger Pharmazeut nickte, stand abrupt auf und trug das Tablett mit den Resten seines Mahls zur Ablage. »Zeitgemäße Verdauung garantiert für operative Wachsamkeit«, stand über der Durchreiche. An den Wänden hingen Porträts von Dsershinski, Stalin und von dem, der jeden Tag im Fernsehen kam. Die Tablette hinterließ einen ausgesprochen widerwärtigen Nachgeschmack, als hätte ich, das Zitat sei mir gestattet, eine gute halbe Stunde lang an einer Messingklinke gelutscht[Thomas We1] .

Im Begriff meinem Intimus zu folgen, stand ich auf und bemerkte auf seinem Stuhl ein weißes Rechteck – das Blatt war noch warm vom Hintern Sergej Nikolajewitschs (Walentinowitschs). Wenn man abrupt aufstand, kam es immer wieder vor, dass flache Gegenstände sich aus den Gesäßtaschen schoben.

»Sie haben meine Erklärung vergessen«, sagte ich vorwurfsvoll zu ihm, als ich ihm das Zeugnis meiner Schande zurückgab.

»Ach, das.« Er runzelte die Stirn. Und stopfte das Dokument lakonisch in die nämliche Tasche zurück.
Wenn du wüsstest, Meister, wie viele nächtliche Stunden ich mich zerfleischt habe bis zu dem Entschluss, eurer Behörde »ach, das« zu überlassen.

»Sie sollten auf die Erklärung besser aufpassen, Genosse Kurator«, riet ich ihm. »Sonst kriegt sie noch irgend so ein liberaler Mistbock in die Finger.«

Der Teufel klopfte grinsend einen rhythmischen 4/4-Marsch in den Flur, zwölf Takte lang. Mit seinen Absätzen oder Hufen. Ich kam kaum hinterher.

»Werden die Arme schon taub?«, erkundigte er sich eifrig, ohne innezuhalten.

»Nein, Genosse Kurator«, antwortete ich verblüfft. »Sollten sie?«

»Immer munter mir nach, gleich sollst du einen richtigen Kurator kennenlernen.« Das klang doch irgendwie etwas bedrohlich.
Wir traten ins Freie und machten uns, biblisch gesprochen, auf nach der Allee, die von einer Reihe gepflegter Pensionskiefern gesäumt wurde. Es roch nach Kiefernshampoo. Eine Bunin-Sonne, gefangen hinter Solshenizyn-Stacheldraht auf der Umzäunung. Die Laternen längs der Allee waren alt, aber dermaßen frisch gestrichen, dass man sich besser nicht anlehnte. Eine wunderbare Metapher für das System, das mich genötigt hatte, einer seiner Soldaten zu werden.

»Die Sowjetunion, deren ideeller Nachfolger unser Land ist, ist nicht aufgrund einer verfehlten extensiven Ökonomie zerfallen, wie ein paar Drecksäcke im Internet schreiben«, ratterte der Hüter meiner Erklärung mir vorauseilend herunter. »Auch nicht, weil die Amerikaner den Ölpreis gedrückt und einen Terroranschlag in Tschernobyl verübt haben. Die Sowjetunion ist zerfallen, Genosse Kursant«, er wandte mir sein Gaidar-Profil zu, »weil die letzte Generation, die sich noch körperlich daran erinnern konnte, was der Kampf mit dem Feind bedeutet, gestorben ist. Der Zement dieses großen Landes waren nicht die Instrukteure für wissenschaftlichen Kommunismus. Sondern die Veteranen, die der große Stalin zum großen Sieg geführt hat. Patriotismus erwächst aus Helden. Aber als Held wird man nicht geboren. Als Held stirbt man.«

Ich hatte das »Genosse Kursant« nicht überhört. Eine doch irgendwie seltsame Bezeichnung für einen Bürger auf dem Weg zum Deputierten. Und außerdem fühlten sich meine Fingerspitzen plötzlich so hölzern an.

»Der Wisch, den du in der Kantine unterschrieben hast, ist Müll, Dreck. Das wird insgesamt stark überschätzt. Du hast unterschrieben, und? Wenn die Amis hier ans Ruder kommen und dich an den Arschbacken nehmen, dann sagst du, bei uns auf dem Amt hätten sie dich gezwungen. Wir hätten dich gefoltert.«

»Entschuldigung, aber ich fühle mich so komisch. Meine Finger gehorchen mir nicht mehr.« Ich versuchte zu ihm aufzuschließen, um neben ihm laufen zu können. »Wie soll ich denn deputieren, wenn mir die Finger nicht gehorchen? Dann drücke ich bei der Abstimmung noch den falschen Knopf.«

Er blieb stehen und schaute mich an wie einen liberalen Mistbock. Dann zog er sein Taschentuch hervor und drückte es, nein, nicht gegen die Lippen, sondern gegen die Stirn. Anschließend eilte er weiter und setzte seinen Vortrag fort.

»Zu einem wahren Patrioten wird der Mensch erst durch die Erfahrung des Todes für die Heimat im Kampf mit dem Feind. So etwas gibt man nicht mehr Preis. Davon sagt man sich nicht los.«

»Die Tablette? Haben Sie mich etwa … vergiftet?«, rief ich panisch, da ich spürte, wie sich die unangenehme Taubheit auch von den Füßen bis zu den Knien ausbreitete. »Gift? Drogen? Drogengift?«

»Nur die Ruhe, Kursant. Nicht abdrehen! Transplantab setzt sich in der Lipidschicht der Neuronen fest. Hast du nicht gelesen, was du unterschreibst?«

»›Ich erkläre mich aus freien Stücken zur inoffiziellen Mitarbeit bei der Erfüllung von Aufgaben bereit und verpflichte mich dazu, die geforderte konspirative Disziplin streng zu befolgen.‹ Ich hatte den Text im Internet gefunden und ihn gestern Abend schon auswendig gelernt.«

»Im Internet?« Er schüttelte ungehalten den Kopf. »Deshalb ist der Wisch auch nichts wert. Eine Absichtserklärung, weiter nichts. Gleich machen wir einen richtigen Menschen aus dir, Kursant.«

Die Allee mündete nach dem Sanatoriumswald in ein Feld von geradezu epischer Breite. Wirklich erstaunlich, über welche Latifundien der kleine Laden dieses Mannes mit dem unbestimmten Vatersnamen verfügte. Am jenseitigen Ufer des grünen Meeres war der blaue Streif eines fernen Waldes zu erahnen. Allein aus der Betonumzäunung dieses Objekts hätte man eine komplette Plattenbausiedlung hochziehen können. Und der Stacheldraht hätte für eine mittelgroße europäische Republik gereicht. Ich strauchelte, meine Holzbeine gehorchten mir nicht mehr. Die frostigen Finger des Entsetzens krallten sich um meinen Magen. Im Mund zappelte ein Wattebausch, der vormals meine Zunge gewesen war. Meine Angst ließ, auf volle Lautstärke gedreht, die idyllische Landschaft zunichte werden.

Mein Peiniger führte mich zu einer Schneise in der reich begräserten Wiese, wo mehrere Handlanger in Flecktarn herumwerkelten. Die Wirklichkeit wurde allmählich so blass wie die Buchstaben auf dem schlampig bedruckten Papier.

»Ich sterbe«, diagnostizierte ich vorsichtig.

»Mach dir nicht ins Hemd, Kursant.« In Mephistos Stimme schwang jetzt eine Spur Menschlichkeit mit. »Wir haben das alle durchgemacht.«

Zu gerne würde ich lügen, ich hätte mich an dieser Stelle einen naiven Idioten geschimpft. Einen Wohnheimplatz wolltest du! Staatssinfoniker! Karriere! Bühne! Stattdessen ein unerfindlicher, grässlicher Tod. Vergiftet von einem unerfindlichen Mann an einem unerfindlichen Ort aus unerfindlichen Gründen. Aber die Panik hatte mich fest im Griff, und ich war unfähig zu denken. Ich schaute nur und schnaufte.

Mitten in der Schneise stand ein Miniatur-Jagdflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Kopie hatte die Maße einer großen Trommel, der Basstrommel, auf der sich Wagner so schön nachzeichnen ließ. Fettig grün glänzte der Rumpf. Ungeachtet meiner Auflösungserscheinungen konnte ich noch darüber staunen, wie perfekt dieses Modell ausgeführt war: Selbst die mikroskopisch kleinen Niete auf den sperrholzbeplankten Holmen wirkten noch überzeugend. Einer der Handlanger beendete gerade die Tankbefüllung, ein anderer packte einen Gurt mit winzigen Patronen, nicht größer als der Kopf eines Trommelschlägels, ins Cockpit. Die Mündungen der Geschütze waren geschwärzt wie der Kamin eines häufig verwendeten Zippo-Feuerzeugs.

»Das ist deine Maschine, Kursant«, sagte mein Vergifter stolz. »Die hervorragende Nanokopie eines I-16-Kolbenmotor-Eindeckers im Maßstab 1:10, ausgestattet mit zwei synchronisierten SchKAS-MG und zwei SchWAK-Tragflächenkanonen. Dein Auftrag ist einfach: Du gehst auf Höhe, hältst dich in Richtung Südsüdost, die Sonne muss auf Steuerbord sein. Erkennst du einen Punkt, gehst du ran und hältst drauf. Wobei, von wegen bemerken, der findet dich selber. Versuche, den Feind in der vorderen Halbsphäre zu erwischen.«

Seine Worte hätten in mir eine ganze Sinfonie von Fragen zum Klingen bringen müssen. Wie sollte ich erstens auf irgendeine Höhe kommen, wenn in diesem Flieger nicht einmal ein größerer Hund Platz fand? Zweitens hatte ich keine Ahnung, wie man ein Flugzeug flog, geschweige denn ein Miniaturmodell. Drittens sah ich nirgends eine Fernsteuerung mit Joysticks, wie es sie sonst für diese Spielzeuge gab. Aber ich stellte meine Fragen nicht. Statt dessen fiel ich auf die Knie: Die Beine versagten mir den Dienst.

Mein Gesicht war jetzt genau auf Höhe der geöffneten Kabinenhaube. Dort saß an den Schalthebeln und Reglern eine Fliegerpuppe in einer abgewetzten und stellenweise ausgeblichenen Uniform. Sie war mit derselben phänomenalen Sorgfalt modelliert wie das Flugzeugmodell. Die einzelnen Poren der Haut waren zu erkennen, selbst das ultramarinblaue Eiterbläschen auf der Nase erschien sehr gelungen. Die Brust der Puppe wies eine münzgroße runde Öffnung auf.

»Mach dich bekannt, Kursant. Das ist Onufri Pawlowitsch Didenko. Ein legendäres Fliegeras, das auf seiner Ischak zwölf feindliche Jagdflieger und vier Jagdbomber runtergeholt hat, zweimal selber abgeschossen worden, aber immer weiter gegen den Feind gekämpft. Didenko ist dein Kurator.«

Was weiter geschah, lässt sich kaum in Worte fassen. Kurz gefasst: Es übergab mich.

Mein Lehrmeister hielt einen doch irgendwie eher langweiligen Vortrag darüber, wie dieser Didenko am Institut für Genetik desoxyribonukleintechnisch rekonstruiert worden war, und in mir schnurrte alles, mein ganzes Wissen, mein ganzes Fühlen, alles, was ich bisher mit dem Pronomen »Ich« zu fassen pflegte, zu einem winzigen Punkt in meinem Bauch zusammen: Jenseits dieses Punktes gab es kein Ich mehr. Dann drehte mich ein Krampfanfall durch die Mangel, ich krümmte mich am Boden und spie Ströme von Erbrochenem. Dabei musste auch mein Ich mit herausgekommen sein. Vermutlich waren in Transplantab, zu dem ich (»ich«) für einen Moment wurde, primitive Sensoren eingebaut. Wie sonst hätte ich mich als kleine Tablette wahrnehmen können, die vom Boden aufgehoben, mit Mull abgerieben und in irgendeine Buchse eingesetzt wurde? Nach ein paar Sekunden Nichtsein schlug ich fremde Augen auf.

Der Horizont hing ungewöhnlich tief, zu meiner Rechten stand eine Wand aus Gras. Das Gefühl war in meine Finger zurückgekehrt, ihre Spitzen wurden vom Metall der Schalthebel gekühlt, auf denen sie ruhten. Nur: Das waren nicht meine Finger. Ich berührte das Gesicht und ertastete schaudernd eine schmerzhafte Erhebung auf dem Nasenrücken. Am Sonderbarsten aber war, wie »ich« darauf reagierte. Fremde Schreie balgten sich in mir. »Was ist das für ein Schmarren!«, fragte da eine vernehmliche innere Stimme, die nicht die meine war. »Heiliger Strohsack!«, krächzte sie betroffen. Ich hatte noch nie das Wort vom »Strohsack« bemüht, um meine Überraschung zum Ausdruck zu bringen, es war mir zu primitiv. Die Stimme wollte nicht mehr verstummen. Während meine Augen über die Instrumententafel wanderten, erkannte und benannte sie die mir unverständlichen Vorrichtungen: Schubhebel, Ladedruckmesser, Seitenruder, Abzugsknopf Steuersäule, Variometer.

»Und, habt ihr euch schon bekannt gemacht?«, dröhnte ein Donnerhall zu meiner Linken. Dort stand ein Berg. Als ich mich umwandte, erkannte ich, dass das Gesicht des Transplanteurs meinen gesamten Gesichtskreis einnahm – er war ein Riese geworden. »Leg dich nicht mit ihm an, dann kommt ihr schon klar. Onufri Pawlowitsch ist ein erfahrener Flieger, lass ihn einfach machen, funk nicht dazwischen, lass ihm seinen Willen.«

»’n mächtig großer Onkel!«, pfiff Didenko in mir durch die Zähne.

»Ihr tretet an gegen unseren erbitterten Feind Wolf-Dietrich Wilcke. Wir schießen einfach ein paar Bilder für unsere Residentur in Deutschland«, fuhr der Berg mit seiner Instruktion fort. »Er startet zeitgleich von einem Flugplatz zwei Kilometer Südsüdost von hier«, ergänzte der Riese nach einer kleinen Pause. »Wolf-Dietrich fliegt seine tödliche Messerschmidt Bf 109.«

»Alarm!«, rief Didenko in meinem Kopf. Irgendwoher wusste ich, dass die 109er eine Ganzmetallkonstruktion war und mit ihren Geschützen bei einer einsekündigen Salve drei Kilogramm Blei ausstieß – für meine aus Duralumin, Sperrholz und Leinwand zusammengeschusterte Ischak würde ein einziger Angriff genügen.

»Der Deutsche hat die besseren Steig- und Sturzmanöver, du musst ihn also horizontal in die Kurve kriegen«, empfahl mir der Instrukteur. »Aufmerksamkeit verdreifachen, wenn du unten die Schienen siehst – wir haben einen Streckenabschnitt des TransEuropaExpresses rekonstruiert, 1:20, zu Übungszwecken, da dürfen die Jungs mit der Iljuschin 2 feindliche Infrastruktur zerstören. Ihr dürftet ziemlich genau hinter dem Bahndamm aufeinanderstoßen. Na dann, Kursant, Propeller frei! Der Feind ist schon am Start.«

Der Kurbelinduktor knatterte, ich gab mehr Propellerlast und gleichmäßig mehr Schub. Sofort roch es nach Benzin, niesend und ächzend rührte sich das Flugzeug von der Stelle. »Wir müssen ordentlich Höhe machen«, überlegte Didenko drinnen. »Und dann, mit der Drehzahlreserve, hauen wir die ›Messer‹ für Stalin und fürs Vaterland im Sturzflug weg.« Ich zog den Steuerhebel zurück und spürte die übliche kurze Schwerelosigkeit beim Abheben, dann warf ich die Kurbel an: 44 Umdrehungen, bis zum Anschlag. Je früher du das Fahrgestell reinholst, desto stärker der Auftrieb. »Ohne Gestell, doppelt so schnell«, gluckste Didenko.

Nach einer Schleife über den Gebäudetrakten und Alleen richtete ich den Jagdflieger bei maximaler Steiggeschwindigkeit auf Südsüdost aus. Ich musste daran denken, dass der Himmel über unserer Heimat der blauste von allen ist, der Krieg bald zu Ende und dass es, um diesen Moment herbeizuführen, durchaus angebracht wäre, sich zu opfern. »Von wegen opfern!«, jaulte das andere Ich in mir auf, das früher einmal mein einziges gewesen war.

Nicht lange, da blitzten die Schienen vor uns auf, im Himmelsblau erschien ein winziger Punkt. Bei seinem Anblick schlug mein Herz einen 120er Rhythmus an (wodurch ich realisierte, dass der Körper, in den ich geraten war, über einen Herzschlag verfügte). »Ist selber schon ganz auf Höhe, der Hund, der dreckige!«, fluchte Didenko. Aus dem Höhenvorteil wurde also nichts.

»Den putzen wir frontal weg«, beschloss das Wesen, in dem ich lebte. Dem Punkt wuchsen rasch Flügel, ich nahm den Schutz vom Visier und beugte mich zur Linse vor, um abzupassen, wann seine Spannweite dem Rund des Weitenmessers nahekam. Aber der Feind war gerissen genug, scharf nach oben, in die Wolken, auszubrechen, ehe er in Schussweite kam.

Ich jagte ihm nach und spürte nun, ächzend unter der Last, ganz deutlich das Gewicht meiner Augäpfel. Das Flugzeug verlor zunehmend an Geschwindigkeit, der Anstellwinkel geriet in den überkritischen Bereich und ich kam ins Trudeln. Die Autorotation drückte mich in den Sitz. Mir wurde doch irgendwie einigermaßen übel. »Was wird das, du Rindvieh? Gegen die Achse rudern!«, heulte Didenko auf. Erschrocken zog ich mein Ich ein, und Onufri Pawlowitsch bekam uns mit den Querruderpedalen rasch wieder stabil.

Rauchspuren bedeckten den Himmel vor uns. »Der Fritz sitzt uns im Nacken! Wirf ihn ab!«, schrie Didenko und brach nach Steuerbord aus. Dieser kurze Moment sollte die Vorentscheidung bringen: Auf gleicher Höhe flogen wir eine Horizontalkurve gegen die schwerere Messerschmidt. Die Ischak näherte sich ihr zielstrebig auf der Kreisbahn, der Feind kam ins Visier gekrochen. »Halt drauf! Halt drauf! Den Abzug! Jetzt! Jetzt!«, kommandierte Didenko, aber ich wartete, bis ich die 109er direkt im Fadenkreuz hatte. Als es soweit war, drückte ich gleichzeitig sämtliche Abzugsknöpfe für alle MGs und Geschütze. Der Rumpf erzitterte, rauchige Leuchtspuren schossen auf die Messerschmidt zu. Und gingen ihr sämtlich am Heck vorbei – ich hatte die Geschwindigkeitskorrektur nicht bedacht. »Wieso feuerst du nicht auf Kommando?«, explodierte Didenko.

Es ging zügig zu Ende. Die 109er zog hoch, flog einen Turn und attackierte uns im Sturzflug. Zuerst sah ich die Ölfontäne, die aus meinem Motor spritzte, erst danach fiel mir auf, dass ich den stürzenden Flieger nicht mehr abfangen konnte, da sich meine rechte Hand nicht mehr bewegte, aus der zerfetzten Schulter ragten abgesplitterte Knochen, und die Luft war so knapp, weil ich an meinem eigenen Blut erstickte. Der Schmerz kam erst unten auf der Erde, aber dann gingen die Lichter aus und ich war fürs Vaterland gefallen, für Stalin.

Dem Sonnenstand nach zu urteilen, konnte mein Tod nicht allzu lang gedauert haben. Ich kam bei derselben Schneise wieder zu mir, in der ich in Didenko übergegangen war. Die Klamotten stanken nach Erbrochenem. Mein Lehrer betrachtete mich mit väterlicher Güte.

»Ich habe es nicht geschafft«, sagte ich, während ich mich aufrappelte. Der ganze Körper schmerzte. »Nicht gepackt, verschissen«, ergänzte ich plötzlich als Didenko.
Offenbar lebte er jetzt in mir.

»Du hast deine Prüfung bestanden, Kursant«, teilte mir mein Prüfer mit einem warmen Schein in den Augen mit. »Eine 109er Messer mit einer I-16 runterzuholen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, das hatte niemand von dir erwartet. Deine Aufgabe war es, die Erfahrung des Heldentodes zu durchleben. Die trägst du nun in dir. Und du stehst unter der verlässlichen Aufsicht deines Kampfgenossen.«

Es roch verzweifelt nach frisch gemähtem Gras. Die Sprossen einer unsichtbaren Leiter erklimmend, sang eine Lerche ihr Lied. Über mir glänzte der blauste Vaterlandshimmel der Welt, an dem auch ich Gelegenheit hatte, meine Spuren zu hinterlassen. Der Wind raschelte auf der Suche nach einer Flagge, in der er sich mit seiner Mähne vergraben konnte. Eines Tages geht unser Krieg zu Ende. Und um diesen Moment herbeizuführen, gebe ich bedenkenlos mein Leben hin.
[Thomas We1]Nach Ilf/Petrow: Das goldene Kalb. Übers. Thomas Reschke. Die Andere Bibliothek 2013, S. 160.

Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Weiler

Brief nach Vilnius versendet (Klein an Martinowitsch)

Ghostwriter

Zweiter Brief an Viktor Martinowitsch

Lieber Victor,
die mörderische Maschine warf einen unverwechselbaren Schatten voraus: Als der Held Ihrer Geschichte mit dem Piloten Dudenko verschmolz, ahnte ich bereits, dass die Polikarpow I-16 der beiden von einer Messerschmitt abgeschossen werden würde. Im Rahmen unseres Briefwechsels kam gar kein anderes Flugzeug in Frage. Denn die legendäre Messerschmitt Bf 109 wurde ausnahmslos in meiner Geburtsstadt Augsburg gebaut. Jede einzelne dieser wölfisch heulenden Spitznasen absolvierte ihren Jungfernflug über den Kirchturmspitzen und Fabrikschloten meiner Heimat.
Und damit nicht genug. Ich stamme nicht nur aus der Messerschmitt-Stadt, ich habe auch mitangesehen, wie gründlich die ME 109 beim Überfall auf die Sowjetunion unter den technisch rückständigen russischen Jagdflugzeugen gewütet hat. Die russische Piloten rannten zu ihren Maschinen, als meine Staffel gleich am ersten Kriegstag einen ihrer Flughäfen angriff. Diejenigen, denen es noch gelang abzuheben und die, wild kurvend, im Tiefflug Richtung Osten zu entkommen versuchten, wurden sogleich verfolgt. „Es war wie Hasenjagen. Aber Respekt! Die Kerle schlugen tollkühne Haken mit ihren altmodischen Mühlen. Fliegen, richtig gut fliegen konnte der Russe schon auch!“
Ich jage die russischen Flieger im Sommer 1985. Vor mir, auf meinen Berliner Schreibtisch, liegt ein dicker Packen Papier, die Fotokopien von mehr als vierhundert mit einer mechanischen Schreibmaschine beschriebenen Blättern. Es handelt sich um die Kriegserinnerungen eines deutschen Piloten. Neben der Messerschmitt 109 hat er vor allem die Junkers JU 87, den sogenannten „Panzerknacker“, geflogen und allein mit diesem Sturzkampfbomber an der Ostfront über 200 Abschüsse erzielt.
Nun, vier Friedensjahrzehnte später, sucht der einst hochdekorierte Krieger nach einem versierten Ghostwriter, der seiner Rückschau in die Jahre 1941 bis 1945 den letzten Schliff geben soll. Er lebt in Süddeutschland, gerademal eine Zugstunde von meiner Heimatstadt Augsburg entfernt. Über einen in Berlin wohnenden Verwandten hat er erfahren, dass ich auch vor ausgefallenen und anspruchsvollen Aufträgen nicht zurückschrecke und das jeweils Vereinbarte zuverlässig liefere.
Gleich bei seinem ersten Anruf hat er mir gesagt, es werde ihm, falls wir uns auf eine Zusammenarbeit einigen könnten, bestimmt nicht auf ein paar hundert Mark mehr oder weniger ankommen. Und selbstverständlich sei er auch zu einem anständigen Vorschuss bereit. Billig sei nur selten gut. Sorgfalt verlange immer Zeit. Allein die literarische Qualität des Ergebnisses sei für ihn entscheidend.
Ich erfuhr, dass er bereits mit einem Verlag, der auf Kriegsbiographik und Technikgeschichte spezialisiert war, in Kontakt stand. Dort sei man von seinem Manuskript begeistert und wolle es nahezu unverändert drucken. Er jedoch spüre, dass es in seinem Text noch darstellerische Mängel, stilistische Schwächen und bestimmt auch die eine oder andere inhaltliche Lücke gebe. Er brauche einen wirklich guten Mann, einen der ihm, dem schriftstellernden Laien nun ohne falsche Rücksichtnahme unter die Arme greifen solle. Vor allem müssten wir beide, er und ich, die Schlüsselepisoden, die wirklich unvergesslichen Szenen, die abenteuerlichen Herzstücke seines Krieges „so richtig zum Singen bringen“.
Was er mir per Post ins rundum eingemauerte Westberlin schickte, las ich an einem einzigen langen Samstag bis in seine letzte Zeile. Es war bestürzend gut geschrieben. Der alte Knabe hatte ein famoses Gefühl dafür, wie Handlung, Beschreibung und Reflexion zu einem festen Zopf verflochten werden müssen. Noch heute kann ich mich an mehr als ein Dutzend Episoden filmisch deutlich erinnern. Und nicht wenig von dem, was ich über die Militärfliegerei des zweiten Weltenkriegs weiß, habe ich aus diesem Manuskript erfahren und mir wahrscheinlich nur gemerkt, weil es in derart gekonnt komponierte Szenen eingebettet war.
Von Frauen und Kindern und dem zivilen Leben, das dem Flieger-Sein zwei Jahrzehnte lang vorausgangen war und ihm noch vier Friedensjahrzehnte folgen sollte, war hingegen mit keinem Wort die Rede. Nicht einmal die Heimaturlaube werden erwähnt. Die fünf Jahre der Teilhabe am Krieg bilden ein erzählerisches Kontinuum eigener Qualität. Der Vollmond geht in diesem narrativen Reich nur auf, wenn es zu einem der gefährlichen Nachteinsätze kommt. Und die Sonne steht immer dann hoch am blendend blauen Himmel, wenn der Erzähler ein besonderes Ereignis in ihr schattenloses Licht rücken will.
So verhält es sich auch mit der Szene, die mir bis heute die liebste ist. Die deutschen Bodentruppen sind maximal weit nach Osten vorgedrungen. Die Flugzeiten, hin zu den Angriffszielen und zurück zu den Startlandebahnen, sind lang wie nie zuvor geworden. Die Staffel meines Piloten ist seit kurzem am Schwarzen Meer stationiert. In dieser Phase des Krieges gehört es noch zu den Privilegien der Luftwaffe, dass man sie verständigen muss, wenn die Leiche eines abgestürzten deutschen Piloten aufgefunden wird. Dann schickt die Staffel, die am nächsten stationiert ist, einen los, damit der Tote von einem Fliegerkameraden identifiziert wird.
Trotz des Pervitins, das die deutschen Piloten als Pillen schlucken oder als sogenannte Flieberschokolade lutschen, kommt es regelmäßig vor, dass sie auf dem Rückweg einschlafen, sich schlummernd und träumend verfliegen und dann irgendwo, nicht selten über dem offenen Meer, der letzte Tropfen Sprit im Vergaser verdampft. Dies ist vermutlich auch dem passiert, dessen Leichnam nun schon zwei, drei Tage oder länger in der Sonne am Ufer liegt.
Der Gang der Zeit kann sich auf die Größe und die Proportionen von Dingen und Körpern auswirken. Mit etwas Glück ergibt sich dabei ein humoristischer Effekt. Dass die Polikarkov in Ihrer Erzählung auf ein Zehntel ihrer ursprünglichen Abmessungen geschrumpft ist, habe ich sofort als erleichternd, ja als erlösend komisch empfunden.
Jetzt am Strand verhält es sich anders. Der Overall des toten Fliegers hat sich mächtig aufgebläht. Das schwarz gewordene Köpfchen sitzt auf einem kugelrunden Rumpf, als hätte sich ein gewaltiger Käfer in Militärklamotten gezwängt. Es gilt nun, die Erkennungsmarke, die sogenannte „Hundemarke“ sicherzustellen. Dieses Ovall aus Blech trägt jeder Soldat, als bürokratische Garantie seiner Individualität, an einem Kettchen um den Hals. Bei den Fliegern besteht die Marke aus einer schwer schmelzbaren Metallegierung und hängt an einer feuerfesten Schnur.
Leider habe ich versäumt, Handschuhe mitzunehmen. Andererseits verfügt man, mit den bloßen Fingerspitzen bohrend und tastend, über deutlich mehr Gefühl und kommt zügig an das gewünschte Ziel. Die Erkennungsmarke besitzt eine sogenannte Sollbruchstelle. Der obere Teil bleibt samt Kettchen oder Schnur am Körper. Der untere Teil wird abgeknickt und macht sich auf den umständlichen, aber weiterhin erstaunlich verlässlichen Verwaltungsweg in die Heimat.
Mein süddeutscher Auftragsgeber mochte mich schnell leiden. Schon während unseres zweiten, erneut ungewöhnlich langen Telefongesprächs nannte er mich nicht nur „junger Mann“, sondern „mein Lieber“. Er lobte mein Art, mich nach dem einem oder anderen Umstand genauer zu erkundigen: „Sehr gute Frage! Sie legen den Finger an die richtige Stelle.“ Er drängte mich, ihm endlich meine Kontonummer zu verraten: „Dass wir uns jetzt im Vorfeld ausgiebig besprechen, fällt selbstverständlich, auch wenn wir noch so nett plaudern, unter Arbeit! Schreiben Sie sich die Zeit auf! Jede Minute!“
Ich notierte mir die Zeit nicht. Und es erfüllt mich jetzt noch unweigerlich mit schlechtem Gewissen, daran zu denken, mit welch armselig dürren Worten ich sein Angebot schließlich, am Ende unseres dritten Telefonats, aussschlug. Ich flüchtete mich in den Vorwand, andere Aufträge ließen mir in näherer Zukunft einfach nicht genug Raum. Das war gelogen. Und bis heute behauptet eine Stimme in mir, dass ich damals einen Fehler gemacht habe, denn kein anderer als ich wäre genau der Richtige gewesen.
Glauben Sie es mir, lieber Victor, wenn ich jetzt behaupte, dass ich für die Abfassung dieses Briefes, nur ein einziges Mal bei Wikipedia nachgeschlagen habe? Dieses eine Mal geschah aus einem sentimentalen Grund: Ich wollte ein Bild der Polikarkow I-16 „Ischak“ sehen, jenes braven Eselchens, das Sie und den Kurator Dedenko in den Himmel ihrer Erzählung trug. Weil ich ansonsten netzabstinent blieb, weil ich das Recherieren überhaupt so gut wie immer vermeide, ist es allerdings möglich, dass der eine oder andere faktische Fehler in diesen Brief geraten ist.
So habe ich zum Beispiel, irgendwann und irgendwo, gelesen, dass in jenen Jahren die Flugzeugmotoren auf Benzineinspritzung umgestellt wurden. Das heißt, mein Bild vom letzten Tropfen Sprit, der über dem Schwarzen Meer im Vergaser verdampft, könnte ein Anachronismus sein. Ich kann auch nicht sagen, wo die Heimreise der abgetrennten Hälften der „Hundemarken“ genau ihr Ende fand. Hoffentlich wurden sie in einem Berliner Militärdepot eingelagert, und nicht den Angehörigen der Toten, in einem Akt fürsorglicher Brutalität, per Post zugestellt. Beide Fragen ließen sich mit geringem Zeitaufwand klären. Aber mir gruselt davor, wie viel man sich heutzutage im Nu aus dem Netz saugen kann.
Dies gilt gewiss auch für meinen alten Flieger. Noch verhindert eine gnädige Schranke an der Peripherie meines Bewusstseins, dass mir sein Name wieder einfällt. Sollte mir dieser erneut in den Sinn kommen, könnte ich ihn gewiss umgehend im Internet ausfindig machen. Ob seine Erinnerungen nun als Buch erschienen sind oder nicht, er hat zu viele Panzer geknackt, zu viele Flugzeuge abgeschossen. Sein Name muss Spuren hinterlassen haben, und Google, der beste Jagdhund aller Zeiten, wird die Fährte aufnehmen.
Ich hatte übrigens viele Jahre nicht an ihn gedacht, aber kaum dass die ME 109 am Horizont Ihrer Erzählung aufgetaucht war, überflutete mich eine Fülle von Erinnerungen. Ich habe für diesen Brief eine rabiate Auswahl getroffen. Gut erzählen heißt rigoros verschweigen. Aber ich befürchte, es ist es alles in allem dennoch ein bisschen zu viel geworden.
Womöglich bin ich Ihnen sogar geschwätzig vorgekommen? Hoffentlich halten Sie mich jetzt nicht für einen, der, wie ein Junkie an der Nadel, am Tropf seines persönlichen Bescheidwissens hängt. Ich spüre, dass Kenntnisse aller Art, gleich „Transplantab“ oder Pervitin, eine Droge sein können. Und es sieht nicht schön aus, wenn ein Erzähler, heftig berauscht von dem, was er ganz genau zu wissen glaubt, ins Schwanken oder gar ins Torkeln gerät.

Einen herzlichen Gruß vom deutschen Ufer der Nordsee sendet
Ihr Georg Klein

Brief nach Bunde versendet (Martinowitsch an Klein)

Wie aus Schriftstellern Sterbliche wurden

Lieber Georg!

Danke für Ihren Brief!

Ich erteile mir selbst den Befehl zur Evakuierung aus dem gemütlichen Erdbunker des Zweiten Weltkriegs, obwohl ich unsere gemütliche Teestunde am Kanonenofen (Möhrentee, versteht sich, dazu geschmorte Kartoffelschalen), mit mindestens zwei Familiengeschichten warmhalten könnte. Aber wenn ich mich auf dieses Gleis begäbe und mir gestattete, die ungeheuerliche Geschichte vom Tod meines Urgroßvaters zu erzählen, würde ich mir vorkommen wie der stereotype Belarusse, der sich mit einem Deutschen nur über die eigene Diktatur und den fremden Sieg unterhalten kann.

Verehrter Kollege! Ich möchte reagieren auf das, was Sie über das Gedächtnis geschrieben haben. Und über die Krücke, die bei den Menschen heute Wikipedia heißt. Es gab eine Zeit, da wusste ich über den Luftkrieg recht gut Bescheid, war Mitglied einer Reenactment-Gruppe und saß sogar einmal am Steuer einer Propellermaschine im steilen Sturzflug. Die Sache mit dem Gewicht der eigenen Augäpfel, das man deutlich wahrnimmt, sobald man mit hoher Beschleunigung aufsteigt, kenne ich aus eigenem Erleben. Aber als ich mich an die Didenko-Erzählung setzte, musste ich feststellen, dass mir sogar das Wort »Holm« entfallen und mein Gedächtnis auf zahlreiche Einflüsterungen zum Aufbau der »Ischak« angewiesen war, den ich doch vor kurzem noch im Kopf hatte. So gesehen bin ich bereits einer der Versehrten des Digitalen Zeitalters mit ausgebranntem Langzeitgedächtnis, vor denen Umberto Eco in einem seiner letzten Essays noch gewarnt hatte.

Als ich noch jünger war, sprachen mich mehrfach zweifelhafte Gestalten an, denen ich ihre Autobiografie schreiben sollte. »Alter Ego sorgt gegen Bezahlung für Tuning der inneren Stimme« – so ungefähr hätte der Werbeslogan für die Dienstleistung klingen können, nach der sie suchten. Nacheinander lehnte ich die Angebote eines ehemaligen Parteibonzen, der sich als Freiheitskämpfer dargestellt sehen wollte und eines gealterten sowjetischen Fußballers ab, der philosophische Tiefe in sich entdeckt zu haben glaubte. Das letzte und zugleich abenteuerlichste Angebot dieser Art erhielt ich im Jahr 2009. Über den Chat-Dienst ICQ meldete sich ein Carder bei mir, verurteilt wegen Diebstahls von einer Million Dollar von Bankkonten in aller Welt. Er wollte nun allen beweisen, dass er ein Robin Hood war. Und ich sollte sein Walter Scott werden. Pikantes Detail am Rande: Er schrieb mir nachts um eins … von der Pritsche eines Gefängnisses mit Weltruf. Also von einem Ort, an dem die Gefangenen keinen Zugang zu Computern, ja, nicht einmal zu einem gewöhnlichen Festnetztelefon haben sollten. Ein Honorar von zwanzigtausend Dollar stand im Raum. Nach meiner Absage war ich nicht nur mein ICQ-Konto los, auch das achtstellige Passwort für mein Blog wurde gehackt. Seither hege ich wärmere Gefühle für Robin Hoods. Aber um Heiligenviten werde ich nicht mehr gebeten. Und von meinen Freunden, die einmal als Literatursklaven für Moskauer Agenturen geschuftet haben, musste ich mir sagen lassen, der Beruf der Ghostwriters hätte sich überlebt. Die Reichen sehen im Buch kein Mittel mehr, das Größe verleiht.

Das scheint mir ein grundlegender Umschwung zu sein, der sich in der menschlichen Kultur unmerklich vollzogen hat. Ein Umschwung, der uns beide ganz direkt betrifft, verehrter Georg.

Früher hatten die Schriftsteller das Ewigkeitsmonopol inne. Sie waren – abgesehen von Gott – die einzigen Wesen, die den genauen Inhalt ihres Kopfes zeitlich unbegrenzt artikulieren konnten. Nun ließe sich einwenden, etwas Ähnliches hätte auch für andere Künstler gegolten, für Maler oder Musiker. Aber die Maler schufen Bilder, wunderbare Gemälde, die den Betrachter mit Gewisper und Geraune erfüllten. Und die Musiker vermittelten nicht Gedanken, sondern Stimmungen.

Beide waren sie außer Stande, mechanisch den Inhalt eines inneren Monologes wiederzugeben, alles, was ihnen gerade auf der Seele lag, wortwörtlich, für hunderte von Jahren.

Der Goldene Esel von Apuleius, die Kaiserviten Suetons, die Epistulae morales ad Lucilium Senecas und zahlreiche weitere Texte, die vor zweitausend Jahren geschrieben wurden, lesen sich erstaunlich modern, sie passen perfekt in die Denkgeschwindigkeit unserer Zeit. Dagegen empfinden unsere von ihren Shoppingtouren ermüdeten Zeitgenossen bei der Betrachtung der Mosaiken von Pompeji gänzlich anders als ein Besucher vor zweitausend Jahren im Haus des Fauns angesichts des Alexandermosaiks.

Wir haben mit der Ewigkeit gesprochen, lieber Georg! Das wog alles andere auf.

Armut bis hin zur Verelendung.

Winzige Auflagen.

Mangelnde Aufmerksamkeit.

Acht und Bann.

Zur Veranschaulichung des letzten Punktes könnte ich erzählen, wie ich vergangenen Herbst zum ersten Mal seit dem Verbot von Paranoia vom Zweiten Kanal des Belarussischen Fernsehens eingeladen wurde. Wie wir ein ausführliches, tiefschürfendes Gespräch aufzeichneten, mit Fragen über Romane (Paranoia wurde freilich geflissentlich übergangen, politische Themen schnitt ich wohlweislich meinerseits nicht an). Ich war berauscht wie Michail Bulgakow nach dem Telefonanruf Stalins am 18. April 1930. Eine ganze Woche lang war ich fest davon überzeugt, nun hätte ich grünes Licht. Eine ganze Woche lang, lieber Georg! Was ich mir da alles zusammenspinnen konnte. Eine Dozentenstelle an einer belarussischen Universität. Eine klassische Ausgabe meiner gesammelten Werke. Die Bereitschaft der staatlichen Bühnen, meine Stücke zu spielen, die in Wien und Innsbruck zu sehen waren. Und ähnlichen Unsinn.

Das Interview wurde natürlich nicht ausgestrahlt, nicht »nächsten Freitag«, nicht einen Monat später, überhaupt nicht. Vielleicht hatte ein Kurator (Didenko?) im letzten Moment doch noch Mova gelesen und begriffen, dass ich nicht zu der Kategorie von Helden gehörte, die man dem Land gefahrlos im republikanischen Fernsehen präsentieren konnte. Vielleicht haben sie sich von Anfang an über mich lustig gemacht. Vielleicht ist auch etwas ganz anderes passiert, wir werden ja nie wirklich erfahren, weshalb Stalin nun angerufen hat und weshalb es dann doch nie zu dem angekündigten persönlichen Treffen gekommen ist. Klüger als mein großer Vorgänger war ich, geschult an dessen Lebenslauf, nur insofern, als ich meine Hoffnungen sofort begrub. Und kein legendäres Batum schrieb.

Also, lieber Georg, nun können Sie mich fragen: Wieso schreibst Du dann Romane, mein Lieber? Dein Wort ist bei Dir im Land, das fremde Helden liest und vergöttert, praktisch nicht zu hören. Dich braucht weder Russland, das jetzt seine eigene große Literatur hat, in der kein Platz ist für die »Literaturen der kleinen Völker«, noch Deutschland, das immer noch nicht wahrgenommen hat, dass Belarus – mein Land – überhaupt existiert (für die meisten Deutschen, mit denen ich bei meinen Lesungen sprechen konnte, liegen immer noch die Konturen der UdSSR über Belarus).

Vor sieben Jahren, als der Carder mein ICQ aus dem Gefängnis heraus hackte, als manche in mir noch einen Walter Scott sahen, der aus einem Dieb einen Robin Hood machen konnte, hätte ich folgendermaßen geantwortet: Ich spiele dieses leidige Spiel mit dem Titel »regimekritischer Prosaautor, arbeitet in Vilnius, lebt in Minsk« aus dem einen Grund, Georg, dass die Unsterblichkeit auf meiner Seite ist. In dieser Hoffnung verbringe ich mein Leben in Zügen und betrachte mein Land dabei, wie es mir in seine lichte sowjetische Zukunft entgleitet. Aber die Zeit wird kommen, da man sich meiner erinnern wird. Da man meine Bücher lesen wird. Und es wird nicht alles umsonst gewesen sein.

Weil ich, indem ich Sinn stifte und ihn Druckzeilen bringe, die Nachwelt dazu bewegen werde, sich selbst Gedanken zu machen. Weil, wie eine Hauptfigur meines fantastischen Romans Mova (der übrigens in allernächster Zukunft auf Deutsch erscheinen wird) überzeugt war, »das Ich in der Sprache unsterblich ist«. Denn der Mensch lebt so lang, wie noch ein Mund die Worte flüstert, die er geschrieben hat.

Genau darauf setzten ja die potenziellen Auftraggeber eines Ghostwriters: dass sie sich mit Hilfe eines Schriftstellers ein Denkmal aus dem härtesten Material des Universums besorgen konnten – aus dem Wort.

So. Aber in den vergangenen sieben Jahren ist die Ewigkeit zu Ende gegangen, lieber Georg! Sie ist nicht mehr. Unsere E-Mails wird niemand mit der Sorgfalt auseinandernehmen, mit der seinerzeit die Briefe Franz Kafkas an Milena Jesenská auseinandergenommen und analysiert wurden. Nicht einmal, wenn irgendein Carder auf Wunsch von Archivmitarbeitern unsere elektronischen Briefkästen knacken sollte!

Kafka ist heute ein Mensch, der in seiner Schriftstellerrolle Kolumnen für eine Zeitschrift schreibt, die ihn aus ihren Werbeeinnahmen noch bezahlen kann. Schriftsteller ist heute eine Exotenrolle, vergleichbar der eines Gastronomen, der ganz legitim für Esquire über die Küche philosophiert oder der eines modischen Friseurs, der einmal im Monat seine Stilgedanken in Men’sHealth ausbreiten kann. Ein Buch ist heute der freie Zugang zum Äther (und du bist selber schuld, wenn dir der Äther und die großen Medien verschlossen bleiben, weil du in deinem Buch zu ehrlich warst).

Früher einmal wurden Straßen zu Ehren von Schriftstellern benannt. In hundert Jahren werden sie Gedenktafeln für verstorbene Fußballer, Fernsehmoderatoren und Popsternchen aufhängen, für all jene, die sich ins neue Format eingepasst haben. Ins Format »ohne Ewigkeit«. Die Tafeln werden dann alle dreißig Jahre ausgetauscht.

Unsterblich sind heute nur noch die Zombies in den Horror-Ballerspielen.

Man könnte viel darüber schreiben, was eigentlich mit der Ewigkeit passiert ist. Zum Beispiel darüber, dass wir alle zu Autoren geworden sind. Andrey Miroshnichenko behauptet in seinem Buch Man as Media. The Emancipation of Authorship, in sechstausend Jahren Schrifttum hätte es 300 Millionen Autoren gegeben, während heute 2 Milliarden Menschen gleichzeitig zu Autoren werden (also ihre Gedanken über die Grenzen ihrer physisch greifbaren Umgebung hinaus verbreiten) könnten. Man könnte sich vorstellen, was mit der Malerei geschehen würde, gäbe es plötzlich ein technisches Hilfsmittel, mit dem jeder, wirkliche jeder, Künstler werden könnte (etwas Ähnliches lässt sich aktuell in der Reflexion über die »Krise der Fotografie« beobachten).

Man könnte von einer Überproduktion an Inhalten sprechen, von medialer Dyslexie, die daher rührt, dass mittlerweile eine komplette Generation nicht mehr in der Lage ist, sich auf längere Texte zu konzentrieren – hier spreche ich als Hochschullehrer! Darüber, dass dir nicht nach den Dramen der Helden bei Remarque zumute ist, wenn bei Google Chrome neben dem Remarque-Fenster das Rollenspiel auf deinen nächsten Zug wartet, daneben ein ZEIT-Artikel über die Pokémons und dann noch etwas über Putin und Merkel.

Doch das sind alles bloß Details, es geht ja gar nicht um die Medien! Auch nicht darum, dass das Ewigkeitsmonopol der Schriftsteller im Jahr 1857 fiel, als der von de Martinville gekurbelte Zylinder die ersten Klänge aufzeichnete, womit es möglich wurde, seine Gedanken für die Nachwelt nicht mehr nur zu verschriftlichen, sondern sie ihr auch einzureden.

Es geht darum, dass der Mensch des Jahres 2016 nicht mehr jenes Wesen ist, dass er noch 2009, vor gar nicht langer Zeit, gewesen ist. Wir hängen an unseren Monitoren und denken, was uns die Kontext-Targeting-Anzeigen in Chrome und Safari zu denken geben. Wenn ich mir die Menschheit heute vorstelle, muss ich an die Kreaturen aus dem Film Riddick: Chroniken eines Kriegers denken. Dort spüren die Necromonger in den zerstörten Städten mithilfe von Suchsoldaten, die über Displays ferngesteuert werden, lebende Menschen auf. Die Suchsoldaten denken nicht selbst, sie sind gänzlich fremdbestimmt durch fest mit ihnen verbundene Bildschirme. Auch die Menschen haben sich in solche Kreaturen verwandelt: Sie wissen und erinnern nur noch, was ihnen der Schirm vor dem Kopf zu wissen und zu denken gibt. Unsterblichkeit kann es angesichts der raschen Folge unterschiedlicher Bilder nicht mehr geben.

Die Ewigkeit, das Attribut des Göttlichen, ist auf erschreckende Weise an das Menschliche gebunden.

Und doch bleibt noch Raum für Optimismus. Vielleicht, lieber Georg, werden die Menschen irgendwann der vorgeführten Träume auf den Hypnosebildschirmen überdrüssig. Vielleicht entschließt sich der ganze Planet irgendwann zur Ernüchterung. Dann könnte, was wir beide geschrieben haben, jemandem von Nutzen sein. Dann hätte, was wir beide gelebt haben, einen Sinn.

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

Brief nach Vilnius versendet (Klein an Martinowitsch)

TNT

Dritter Brief an Viktor Martinowitsch

Lieber Viktor,

gerade eben, kaum dass ich die sechs Buchstaben Ihres Vornamens in die Tastatur getippt hatte, überkam mich eine heftige Empfindung von Déjà-vu: Einen halluzinatorischen Moment lang hatte ich den zwingenden Eindruck, diesen meinen dritten Brief mit denselben Worten, die sich doch erst in meinem Bewusstsein zu bilden begannen, schon einmal eingeleitet zu haben.

Eine besondere Spitze der Paradoxie lag darin, dass mein Déjà-vu die beiden französischen Wörter „déjà“ und „vu“ – also seinen eigenen Namen! – miteinschloss.

Mein Déjà-vu sprach von sich selbst als einem allgemein bekannten Phänomen. Es behauptete, ich hätte Ihnen bereits, irgendwann in den zurückliegenden Wochen, eine bestimmte Überlegung zu eben diesem merkwürdigen Erinnern an die Zukunft geschrieben. Ich hätte also, zumindest eine Handvoll Sätze lang, über dasjenige, was in ungezählten Sprachen mit einem Fremdwort Déjà-vu heißt, mit mehr oder minder geeigneten Begriffen theoretisiert.

Auch jetzt reicht die Prophetie dieses rätselhaften Wiedererkennens, gleich einem allmählich schwächer werdenden Scheinwerfer, noch ein kleines Stück weit in die zügig heranrückende Zukunft hinein: Was ich Ihnen mitteilen wollte und scheinbar bereits mitgeteilt hatte, stand und steht in Zusammenhang mit den Sprachen, in denen wir jeweils schreiben, es hat aber zugleich mit dem Lateinischen zu tun, das ich im Alter von zehn Jahren als meine erste schulische Fremdsprache kennenlernte. Unser damaliger Lateinlehrer, Herr Alexander Nowak (Nomen est omen!) verhehlte mir und meinen Klassenkameraden keineswegs, dass es sich bei Latein um eine sogenannte „tote“ Sprache handle. Allerdings sei diese edle Leiche die Mutter mehrerer quicklebendiger europäischer Sprachen. Und – Ob wir es glauben wollten oder nicht! – das Latein, das wir nun gleich zu erlernen beginnen würden, habe einige Jahrhunderte lang als strenge und erfolgreiche Erzieherin des Deutschen gedient.

Natürlich ist eine Passage Ihres letzten Briefes schuld daran, dass ausgerechnet das Latein durch mein Déjà-vu geisterte. Denn Apuleius, Sueton und Seneca, die Sie als Beispiele für die anhaltende „Ewigkeit“ früherer Autorschaft anführen, haben ihre auf uns gekommenen Werke ja lateinisch verfasst. Als ich die drei Namen las, empfand ich sogleich eine fast familiäre Erleichterung: Ach, bloß zweitausend Jährchen! Was für ein maßvoller Begriff von Ewigkeit. Zum Glück bloß zwei bescheidene Jahrtausende! Unser europäischer Katzensprung durch die Zeit!

Mit ein bisschen Glück könnte doch einem unserer Text ein derartiger Hopser gelingen? Es muss ja nicht unserer jeweiliges Gesamtwerk überdauern. Ein paar hübsche Fragmente tun es zur Not doch auch!

Und wahrscheinlich reicht unsere technologische Fantasie momentan gar nicht aus, um uns vorzustellen, auf welch seltsamem Wegen sich Texte oder Textstücke in Zukunft erhalten werden. Auch keiner der antiken Autoren, die wir heute noch lesen können, hätte die seltsame mediale Wanderschaft vorausgesehen, auf der seine Worte es bis auf unsere Bildschirme geschafft haben.

Bin ich auf dem Holzweg?

Lullt mich ausgerechnet die Erinnerung an meine erste Fremdsprache wie eine milde Droge, wie ein lingualer Tranquillizer ein?

*

Ein Freund von mir, ein brillanter Kopf, ein grandioser Stilist, spekulierte, als wir uns vor dreißig Jahren kennenlernten, bereits auf eine andere Weise mit unserer damaligen Zukunft: „Georg, seien wir ehrlich zu uns selbst: Das Deutsche ist ein sinkendes Schiff. Noch sind wir beide bei Kräften. Noch können wir es schaffen, diesen morschen Kahn zu verlassen!“

Mit dem Mut der Verzweiflung schlug er mir damals allen Ernstes vor, mit unserem literarischen Schreiben ins Amerikanische zu wechseln. Die erste Phase dieser sprachlichen Emigration würde bestimmt von exzessiver Härte für uns beide sein, gerade weil wir es im Deutschen ziemlich weit gebracht hätten. Aber wir seien nicht die einzigen, die sich auf diesen beschwerlichen Weg machten. Pioniere aus verschiedenen Sprachen seien uns bereits vorausgegangen. Allen, die es wirklich ernst mit einem literarischen Werk meinen, jedem, der wolle, dass seine Texte noch mehr als nur ein, zwei Dutzend Jahre überdauerten, bleibe doch gar keine andere Wahl. Und zu zweit, als brüderlich verbundenes Paar, sei es bestimmt ein Quäntchen leichter.

„Nein!“

Ich sagte, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, wortwörtlich „Nein!“ Allerdings bin mir nicht mehr sicher, aus welchen Gründen, ich sein Angebot damals ausschlug. Feigheit? Faulheit? Narzistischer Sprachstolz? Könnte ich unsere bis heute synchronisierten biographischen Uhren zurückdrehen würde ich meinem Freund mittlerweile statt mit einem groben „Nein!“ eher mit der einen oder anderen Frage antworten:

– Welche Macht zwingt Dich, das unweigerlich kommende Verblassen Deines Egos und Deiner Talente mit dem Verschwinden Deiner Muttersprache zu verwechseln?

– Kränkt es Dich vielleicht, dass Dich Deine Sprache, in welch verwandelter Form auch immer, auf jeden Fall überleben wird?

– Willst Du nicht sicherheitshalber auch noch Chinesisch und Programmieren lernen?

Vor zwei Wochen fuhr ich mit einem Regionalzug Richtung Hannover. Im gleichen Wagen war eine Schulklasse, ungefähr zehnjährige Jungen und Mädchen. Der Zug hielt auch an kleineren Bahnhöfen. Und immer wenn die automatische Durchsage den nächsten Halt ankündigte, wiederholten einige Kinder dessen Namen, indem sie aus voller Kehle riefen: „Wir fahren nach …!“ Die schieren Bezeichnungen der Ortschaften bereiteten ihnen offensichtlich großes Vergnügen. Und auch mir klang der eine oder andere Ortsname plötzlich auf eine erheiternd neue Art im Ohr: „Wir fahren nach WESTERstede! Wir fahren nach OLDenburg!“ Kaum war „Oldenburg“ im Chor erklungen, kam ein Junge auf eine besondere Idee und rief als Solist: „Wir fahren nach Deutschland!“ Ein Satz, der sofort mit großer Begeisterung von den anderen repetiert wurde.

Neben mir saß ein Mädchen, das sich bis dahin nicht an dem Spiel ihrer Klassenkameraden beteiligt hatte. Vielleicht war ihr dessen Serialität zu dumm. Vielleicht war sie zu schüchtern. Vielleicht genierte sie sich vor dem Erwachsenen, der neben ihr saß. Aber kaum war „Wir fahren nach Deutschland!“ ein letztes Mal erklungen, brach in ihr ein Damm. Sie stand auf und krähte: „Wir fahren nach Europa!“

Ich habe in diesem Moment ganz kurz – ungefähr so lange, wie ein Déjá-Vu anhält! – die Melodie der Gegenwart gehört.

Zum Glück können frühestens unsere Enkel wissen, in welchem historischen Zeitalter wir beide gelebt haben. Für unsere Gegenwart wäre es ein Fluch, den Namen zu kennen, den ihr die Zukunft geben wird.

Ich glaube, es war richtig, dass Sie mir nichts über den Tod Ihres Großvaters geschrieben haben.

Die Greuel der Vergangenheit und die Ängste, die wir mit der Zukunft verbinden, sind die Backen einer Zange, die unsere Gegenwart zusammenquetschen kann wie ein unerbittliches Foltergerät.

Falls eines schrecklich nahen Tages in den europäischen Verlagen bloß noch Roboter bereitstehen, um Ihre und meine Erzähltexte in nahe und ferne Sprachen zu übersetzen, schließen wir beide uns der transnationalen Untergrundbewegung TNT ( Tribe of Notorious Translaters ) an.

Ewigkeit?

In einer Berliner Turnhalle habe ich vor Jahren gehört, wie unser amerikanischer (!) Kollege John Giorno ein langes Prosa-Gedicht in folgende letzte Worte münden ließ:

WE GAVE A PARTY TO THE GODS AND THE GODS ALL CAME!

In diesem Geist möchte ich, wenn ich aus der Zukunft in unsere heutige Gegenwart zurückschaue, gelesen und geschrieben haben.

Einen herbstlich herzlichen Gruß!
Ihr Georg Klein

10. November 2016 – Brief nach Bunde versendet (Martinowitsch an Klein)

Gedanken auf den Ruinen der Sprache

Lieber Georg!

Ich bin Ihnen dankbar für den fröhlichen Optimismus, den ihr letzter Brief versprüht. Zu gerne würde ich mich in diese Berliner Turnhalle versetzen lassen und John Giorno lauschen.

Wenn belarussische Schriftsteller eine Party geben, kommen in der Regel nicht die Götter, sondern Polizei, KGB und Feuerwehr – unter Berücksichtigung des Regimes ein durchaus überzeugendes Substrat des Göttlichen. Ich kann nicht behaupten, dass mich angesichts meiner geplanten Reise nach Hrodna, wo wir in zehn Tagen eine Lesung in ebenjener griechisch-katholischen Kirche haben werden, in der uns vor zwei Jahren die Nichtgötter in Zivil »auf frischer Tat ertappt« haben, nein, ich kann nicht behaupten, dass mich die Gepflogenheiten unserer Saturnalien völlig kalt lassen.

Damals hat die Polizei wegen unserer »Party« zwischen Marienfiguren und Christusdarstellungen ein zwei Seiten langes Protokoll über mich verfasst. »Arbeitsstelle?«, hatten sie mich gefragt. »Schriftsteller«, hatte ich geantwortet. »Arbeitslos«, trug der Hrodnaer Polizist in sein Dokument ein und erweiterte damit mein Weltbild um eine zusätzliche Facette. Die Feuerwehrleute befanden die Kirche für einen Ort, der »für Massenveranstaltungen nicht geeignet« sei (sic!). Das Gericht verurteilte den Verleger für die unterbliebene Abstimmung mit der Exekutivkomitee-Abteilung für Ideologisches zu einer Geldstrafe, was uns sehr freute, da wir beide auch 15 Tage Haft hätten bekommen können. Sie stehen über Gott, diese Götter, und nicht die Priester haben zu bestimmen, was in einer Kirche erlaubt ist und was nicht. Man könnte sagen, wenn wir nun an denselben Ort zurückkehren mit demselben Ziel, nämlich über meinen neuen Roman Lacus Gaudii zu sprechen, beschwören wir gezielt den Zorn des Himmels herauf. Aber das ist nun einmal das Besondere an unseren Partys: Wenn sie dich nicht in die staatlichen Bibliotheken und Universitäten lassen, musst du ihnen wie Wasser durch die Finger rinnen und darauf hoffen, dass die herbeigerufenen Klempner den Hahn nicht ganz zudrehen, wenn sie Ventil und Wasser mitgenommen haben.

Seit der Vertreibung des Demosthenes aus Athen hat sich auf dieser Welt nichts geändert. Immer noch werden dieselben schlechten Schauspieler geschickt, uns im Poseidontempel »aufzugreifen«.

Also kommen wir lieber auf Dinge zu sprechen, die größer sind als Menschen oder Götter. Eines der glänzenden Axiome Ihres Textes besagt, die Sprache währt länger als der Mensch. Die Sprache wird den Schriftsteller überleben, der sie gebraucht hat.

In Deutschland ist diese These unstrittig, in Belarus beginnt sie zu wackeln und büßt ihre monumentale Überzeugungskraft ein.

Belarus hat in den vergangenen zwanzig Jahren demonstriert, dass ein Mensch, ein einziger Mensch, wenn auch auf einem hohen Posten, eine ganze Sprache bezwingen kann.

Der Sieg Donald Trumps, der die denkende Menschheit rund um den Globus (der, wie Rammstein versprochen hat, auf die Größe Amerikas zusammengeschnurrt ist) dieser Tage so erschüttert, war für die belarussische Intelligenzija kein großer Schock. Unser Trump hat schon 1994 gewonnen (wir haben Trump schon gewählt, als das noch nicht Mainstream war). Unser Charismatiker hatte nur einen ebenbürtigen Widersacher – den Anführer der Belarussischen Volksfront Zianon Paźniak. Paźniak verkörperte das Szenario der an Sprache und Nationalkultur gebundenen Entsowjetisierung, das sich in den baltischen Staaten durchsetzen konnte, den vormals sowjetischen Eliten Litauens und Lettlands einen neuen, christlich-konservativen Anstrich gab und ihren Regierungsanspruch legitimierte. Unsere Götter in Zivil drängten Paźniak unterdessen flugs aus dem Land und quetschten anschließend systematisch die Sprache aus, die in ihren Köpfen zum Symbol der politischen Gefahr geworden war, zu einem Hinweis auf eine mögliche alternative Zukunft. Und während Belarus mit neuen Gedenkorten zur ruhmreichen Sowjetvergangenheit zugepflastert wurde, erlebte die Landessprache eines der imposantesten antiutopischen Experimente der Gegenwart, vergleichbar der Trockenlegung der Sümpfe im belarussischen Polesien oder der kompletten Umkehrung von Flussläufen.

Michel Foucault, der in Überwachen und Strafen den allmählichen Übergang der strafenden Funktionen der Macht von der Leibesmarter zur Einschränkung des Bewusstseins skizziert hat, konnte sich nicht vorstellen, dass diese symbolische Herrschaft sich auch auf eine Substanz jenseits des Körperlichen und des Denkens von Individuen erstrecken könnte. Dass auch ein so großes kodiertes Massiv wie die Sprache repressierbar ist. Anfang der Neunziger Jahre, als Lukaschenka die ersten und letzten fairen Wahlen in Belarus gewann, wurde die belarussische Sprache mit dem Stigma des »Bäuerlichen« versehen. Die erste Städtergeneration versuchte den belarussischen Akzent loszuwerden und »sauberes Russisch« zu sprechen. Daneben gab es aber auch Künstler, Schriftsteller, Lyriker und Schauspieler, die das Belarussische umkodierten – zum Marker einer neuen postsowjetischen Identität, dem Kennzeichen des entsowjetisierten Bürgers, der sich an traumhaft schöne Renaissanceschlösser erinnert, erbaut von italienischen Architekten in den Städten einer untergegangenen belarussischen Atlantis etwa zur selben Zeit, als in dieser Sprache eine der ersten Gesetzessammlungen Osteuropas verfasst wurde.

Und nun erhielt die belarussische Sprache binnen kürzester Zeit, nach gerade einmal zehn Jahren, eine neue karikatureske Konnotation. Sie wies den Sprecher als Sympathisanten der zerschlagenen Belarussischen Volksfront Zianon Paźniaks aus. Der Satz aus meinem Roman Mova, man habe im Minsk Mitte der Nuller Jahre dafür ins Gefängnis kommen können, dass man Belarussisch sprach, ist kein Scherz und nicht übertrieben. Die Götter in Zivil verwendeten diesen Marker auf ihren nächtlichen Treibjagden im Anschluss an die Massendemonstrationen, um politisch unzuverlässige Jugendliche zu identifizieren.

Wie einfach es war, eine Sprache niederzuknüppeln! Sie in den Zustand zu versetzen, in dem sich das von Ihnen, Georg, erwähnte Latein befindet. Ein toter Speicher für sakrale Bücher, die in Wirklichkeit nach der Schule kein Mensch mehr aufschlägt. Kein Kommunikationsmedium, sondern ein Marker für Dissidententum, ein Sticker mit Zielscheibe. Keine große Sache: Die Sprecher aus Fernsehen, Zeitungen und Universitäten entfernen. Ein paar Schauprozesse an den »Nationalisten«. Ein paar ins Russische hinübergeschleifte belarussische Lexeme, deren Bedeutungen lustig ins Gegenteil verkehrt werden: »Zmahar« (Kämpfer). »Sviadomy« (bewusst). »Sumlennie« (Gewissen). »Honar« (Ehre). Die Unlust der mit Geldverdienen und Sparen für den Türkeiurlaub beschäftigten Normalbürger, potenzieller Sprachträger, »ehrenwerte« »Kämpfer« oder »bewusste« »Gewissensmenschen« zu sein. Und schon wird die Sprache, die mich eigentlich überleben und alles in ihr hervorgebrachte bewahren sollte, von den Soziologen als schwerkrank diagnostiziert. Sie hat nicht einmal den Status des Gälischen in Irland. Dort gibt es immerhin 300.000 Muttersprachler. Wir Druiden und Hüter der belarussischen Sprache kommen kaum noch auf 100.000 (bei einer Bevölkerung von 10 Millionen).

So pessimistisch mich der Gedanke, dass meine Sprache mich überlebt, als Menschen stimmt, so optimistisch beurteilt ihn der Schriftsteller. Denn die Sprache ist der Schnee, in dem meine Spuren aufgehoben sind.

Angesichts der schwerkranken Sprache fühle ich mich wie Neo in der Filmszene in Matrix, als er sein Recht auf einen Telefonanruf einfordert und Agent Smith ihm mit einem sardonischen Lächeln entgegnet: »Was nutzt schon ein Telefonat, wenn man nicht im Stande ist zu sprechen?« Und als Neo dann der Mund zuwächst.

In unserem Fall widerfährt dieses »Zuwachsen des Mundes« nicht mir allein, sondern allen vergessenen Klassikern unserer Literatur: Michaś Čarot, Płaton Hałavač, die in der »schwarzen Nacht« des 30. Oktober 1937 erschossen wurden, Uładzimir Duboŭka, der durch den Gulag ging, Łarysa Hienijuš, nach der in ihrem Heimatort Zelva immer noch keine Straße benannt werden kann (während die Namen der sowjetischen Henker, auf deren Urteile hin diese Menschen drangsaliert wurden, immer noch die Magistralen im Zentrum schmücken).

Ihre Texte werden bald nur noch Spezialisten entziffern können, die über ein ähnlich enges Profil verfügen wie jene, die Apuleius oder Seneca im Original lesen.

Es heißt, nichts sei schmerzlicher, als die eigenen Kinder zu überleben. Als Prosaschriftsteller mit ansehen zu müssen, wie die Sprache stirbt, aus der deine Kinder sind, gehört in eine ähnliche Kategorie.

In Gregory Roberts‘ Shantaram wird der Versuch unternommen, eine neuartige Ethik zu entwickeln, basierend auf einer explosiven Mischung aus Hinduismus und Urknalltheorie. Der Held dieses Abenteuerromans kommt zu dem Schluss, alle Religionen der Welt betrachteten Mord nur deshalb als Sünde, weil er das Gebilde des Universums vereinfacht, indem er es um eines seiner komplizierten Wesen beraubt.

Auf dem Weg vom Nichts hin zu einer zunehmend strukturierten Komplexität entwickelt sich der Kosmos, so Roberts, vom Schlechten (der Leere) zum Guten (der Vielschichtigkeit).

Demnach ist wahrhaft sündig nur, was die Welt vereinfacht, ihr Komponenten entzieht, sie homogenisiert. So betrachtet sind Globalisierung, Kommodofizierung, die »allgemeine Amerikanisierung«, das Internet und das »globale Dorf«, das Verschwinden Deutschlands hinter einem universalen »Europa«, Symptome derselben Krankheit, an der die Sprache leidet, aus der ich bin.

Tröstlich finde ich, dass, hätte sich die Welt ausschließlich in dieser Richtung bewegt, die uns umgebende Leere längst in eine McDonald’s-Werbung umgemünzt worden wäre. Aber das Mahabharata lehrt uns, dass es eigentlich vier Juga gibt. Wollen wir hoffen, dass unsere Schiwa-Ära dereinst von der Blüte des Wischnu-Zeitalters abgelöst wird. Und dass zumindest etwas, das uns wichtig ist, bis ins Satja-Juga überlebt. Schließlich kommen 432.000 Jahre der Ewigkeit ein Stückchen näher als die zweitausend Jährchen, die seit Senecas Zeiten vergangen sind.

Aus dem Russischen von Thomas Weiler