Karl-Markus Gauss – Dževad Karahasan
Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)
Lieber Dzevad!
Ich habe im Frühjahr achtzehn Aktenordner mit Briefen, die ich über die Jahre erhalten oder selbst geschrieben und von denen ich die Durchschläge aufgehoben habe, in ein Archiv verräumt. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen mehr Platz schaffen in der Wohnung, die du kennst; sie hat die merkwürdige Tendenz, immer kleiner zu werden, obwohl die Kinder längst ausgezogen sind und ihre eigenen Haushalte gegründet haben. Natürlich bin ich über dem Verräumen der Briefe ins Lesen gekommen: Wie viele Menschen, um die ich seither ärmer geworden bin, waren mir damals in den Briefen nahe, die wir uns schrieben! Nicht dass sie gestorben wären, aber wir haben irgendwann aufgehört, uns zu schreiben, und begonnen, einander zu vergessen.
Ich bin aber nicht nur ins Lesen gekommen, sondern auch ins Staunen geraten: So habe ich gesehen, dass ich als Vierzigjähriger in derselben Woche an drei verschiedene Empfänger Briefe schrieb, von denen der eine anklagend und bitter, der andere ausgelassen und der dritte voller Selbstzweifel war – und die doch alle von mir stammten.
Habe ich mich verstellt?
Ich glaube nicht. Jeder Brief richtet sich nicht an ein allgemeines Auditorium, sondern an jemand ganz Bestimmten, von dem ich auf bestimmte Weise wahrgenommen werden möchte; und wer würde bei lauter verschiedenen Menschen, mit denen er es zu tun hat, immer als genau der Gleiche dastehen wollen, ein Mensch, frei von Widerspruch und stets eins mit sich selbst? Mir kommt vor, lieber Dzevad, dies sei das wahre Briefgeheimnis, dass, wer an verschiedene Menschen schreibt, sich auch zu verschiedenen Persönlichkeiten ausfaltet, die ihn erst alle zusammen ausmachen.
Jean Améry hat schon vor vierzig Jahren in dem Essay „Der verlorene Brief“ den Niedergang der Briefkultur beklagt, die damals technologisch doch nur von Telefon, Fernschreiber, Telegramm, nicht durch die Entwicklung des Internet bedroht war. Am Brief schätzte er, dass er einer Sphäre angehörte, in der die Devise „Zeit ist Geld“ nichts gälte. Die digitale Kommunikation verheißt hingegen eingesparte Zeit, also mehr Zeit, die wir seltsamerweise dafür verwenden, uns immer mehr kommunikative Akte zuzumuten, bei denen wir Zeit einsparen können, bis wir am Ende gar keine mehr haben und sie gewissermaßen in Form negativer Zinsen als riesiger Verlust von Zeit und Lebensfreude für uns zu Buche schlägt.
Oder hast Du früher dreißig Briefe am Tag erhalten? Und die Verpflichtung verspürt, sie postwendend zu beantworten? Der E-Mail-Verkehr ist für jene, die an ihm teilnehmen, nur zu bewältigen, indem literarische und soziale Verkehrsregeln aufgehoben werden, die mir früher als zivilisatorische Errungenschaften selbstverständlich waren. Ich erhalte Mails von Professoren, Schriftstellerinnen, den Presseabteilungen von Verlagen, in denen die Orthographie fehlerhaft, die Zeichensetzung schlampig, der Stil nachlässig sind und die insgesamt anmuten, als wären sie achtlos aus lauter Versatzstücken zusammengesetzt. Und ich muss mich selbst ermahnen, es ihnen bei meinen Antworten nicht gleich zu tun. Die mir doch zweifellos etwas mitteilen möchten, werden mir als Individuen in dem, wie sie schreiben, paradoxerweise nur durch das Fehlen spezifischer Eigenschaften und Eigenheiten greifbar, als Wesen, deren Persönlichkeit sich gerade dann verflüchtigt, wenn sie schreiben. Ich zweifle nicht daran, dass sich diese entpersönlichten Personen, wenn ich ihnen leibhaftig begegnete, als unterscheidbare oder gar unverwechselbare Charaktere erweisen könnten; aber im Schreiben manifestiert sich ihre Individualität höchstens noch in den Tippfehlern und grammatischen Aussetzern, die sie nicht korrigieren, weil sie sich, desinteressiert an mir und an sich selbst, die abschließende prüfende Lektüre ihres Geschreibsels ersparen.
Wer einen Brief schreibt, pflegt sich hingegen, bewusst oder instinktiv, auch des Bildes zu besinnen, das er vom Empfänger hat und das er umgekehrt diesem von sich selber geben will. Du sollst Dir ein Bildnis machen! In seinem Abgesang auf die untergehende Kultur des Briefes rühmt Améry, dass dieser dem Verfasser die Gelegenheit zur „Selbstkonstitution“ bietet. Egal, worüber geschrieben wird, im Brief wird nicht nur Information übermittelt, sondern auch Identität entworfen.
Lieber Dzevad, ich grüße Dich herzlich und hoffe, dass Dich Deine Lesereise nicht ermüdet. Ich muss morgen zum Literaturfestival nach Leukerbad ins Wallis fahren. Noch vor ein paar Wochen hätte ich gesagt: Ich darf fahren! Aber je näher die Verpflichtungen kommen, die ich mir selber schuldhaft aufzuhalsen pflege, umso mehr wird bei mir stets ein „muss“ daraus –
Dein Karl-Markus
Antwortbrief nach Salzburg versendet (Karahasan an Gauss)
Lieber Karl Markus,
danke für Deinen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich einen Brief bekam, einige meiner Freunde, zum Beispiel Jovica Aćin und Albert Goldstein, waren wahre Meister im Briefeschreiben und machten mir viel Freude mit ihren glänzend geschriebenen, oft langen Briefen, die von allem oder nichts handelten und mir ein ganz besonderes Lesevergnügen bereiteten.
Über Deinen Brief freue ich mich anders, er hat mir geholfen, eine interessante Koinzidenz zu bemerken und zu verstehen. Während der Belagerung Sarajevos waren Briefe für mich nämlich besonders wichtig, damals begriff ich, dass ein Brief viel mehr ist als ein Text und einen Brief zu erhalten ein wertvolles und aufregendes Ereignis sein kann. Irgendwie zur gleichen Zeit stellte ich einen Zusammenhang zwischen Briefen und Gesprächen im alten Stil her, solchen, wie sie Angehörige meiner Generation im Kaffeehaus noch immer erleben konnten, zum Beispiel in meinem geliebten Kaffeehaus hinter dem Višegrader Tor in Sarajevo, wenn sie das Glück hatten, sich an einen Tisch mit zwei Meistern des Gesprächs zu setzen. Solche Gespräche sind in der Regel nicht nützlich, es geht niemals darum, irgendeine Absprache zu treffen oder den Weg zur Lösung eines wirklichen Problems zu finden, sie haben in der Regel weder ein klar definiertes Ziel noch einen Zweck, dem sie dienen, auch dürfen die Gesprächspartner nicht den Ehrgeiz haben, einander von etwas zu überzeugen oder einander etwas zu beweisen. Stundenlang sitzen sie bei einem Kaffee und unterhalten sich, betrachten einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven, überprüfen ihre Annahmen und Äußerungen sowie die des Gesprächspartners, suchen Argumente für eine Überzeugung und für ihr Gegenteil, manchmal führt das Gespräch zu einer hohen Spannung, fast an den Rand eines Konflikts – und dann fällt einem ein von ihnen ein, dass er wichtige Verpflichtungen hat, verabschiedet sich freundlich und geht. Oder beide brechen gleichzeitig auf, weil die Zeit zum Mittagessen, Abendbrot oder zu was auch immer gekommen ist.
Warum haben sie Stunden miteinander verbracht? Ich weiß, sie sind keine dicken Freunde, sind nicht ineinander verliebt und arbeiten nicht eng zusammen, sie haben nichts voneinander zu lernen noch zu profitieren, und trotzdem setzen sie sich oft an den selben Tisch im Kaffeehaus hinter dem Višegrader Tor in Sarajevo und unterhalten sich stundenlang. Viele Male war ich bei solchen Gesprächen anwesend und genoss sie als Zuhörer, aber ich konnte mich mir nicht als ihr Teilnehmer vorstellen noch begriff ich, warum jemand überhaupt so etwas tun sollte. Solche Gespräche brachte ich, wie gesagt, während der Belagerung Sarajevos, in einen unauflösbaren Zusammenhang mit Briefen. Die Freude, wenn ich einen Brief bekomme, seine Lektüre und die langen mehrtägigen Gespräche darüber, das Nachdenken über einen konkreten Brief und über Briefe überhaupt, all das wies mich darauf hin, wie sehr ein echter Brief jenen Gesprächen im alten Stil ähnelt, die ich das Glück hatte kennenzulernen und nicht als etwas von mir zu erkennen. Sie sprechen zueinander, ohne konkretes Ziel und Grund, über etwas, was sie beide kennen und interessiert, aber für keinen von ihnen ist es von praktischer Wichtigkeit, sie sprechen und allein dadurch sagen sie einander „Ich sehe dich, ich weiß von dir, ich wende mich an dich und verwirkliche mich dadurch als Subjekt und dabei bezeuge ich, dass du anwesend bist und es dich gibt“. Gibt es etwas Wichtigeres als das, können wir uns oder einem anderen überhaupt etwas Wichtigeres ausrichten?
So verhält es sich auch mit dem Brief. Albert Goldstein hat Gott weiß was für mystische Wege gefunden, damit seine Briefe zu mir ins belagerte Sarajevo gelangten, und jeder von ihnen bedeutete mir viel mehr, als ich sagen kann. Warum? War es mir dank dieser Briefe leichter, an Wasser zu kommen? War ich den Granaten und Gewehrkugeln weniger ausgesetzt? War mir weniger kalt? Habe ich aus ihnen etwas Wichtiges lernen können, was ich bis dahin noch nicht wusste? Nichts von alldem, und doch bedeuteten sie mir so viel, dass ich darüber nicht zu sprechen vermag und weiß. Ich ging aufrechter und leichter, darum geht es, aber das war nicht der hauptsächliche Gewinn der Briefe, die mich in Sarajevo fanden. Doch gerade diesen, den hauptsächlichen Gewinn, weiß ich weder zu benennen noch zu beschreiben. Vermochte ihn die Umarmung einer Frau auszudrücken, mit der man Freuden und Ängste teilt, oder der Händedruck eines Freundes? Ich weiß nicht, aber sicher weiß ich, dass mir die Briefe einen Gewinn brachten, der mir unermesslich wichtig war, und ich weiß, dass ich es zutiefst bedauere, dass ich über diesen Gewinn nicht sprechen kann. Kann ich es nicht, weil ich es nicht vermag oder weil man darüber nicht klar sprechen kann?
Deshalb ist für mich wohl der Teil Deines Briefes am wichtigsten, in dem du erzählst, wie Du gleichzeitig mit drei Menschen korrespondiert und Briefe geschrieben hast, die wie aus drei verschiedenen Händen wirkten. Das ist ein wertvolles Zeugnis für mich und womöglich die Antwort auf die Frage nach dem Gewinn, den uns Briefe und Gespräche bringen.
Schon jahrzehntelang versichere ich allen Menschen, die mir freiwillig zuhören, und jenen, die dazu verpflichtet sind, zum Beispiel meinen Studenten, dass in jeder unserer verbalen Äußerungen der Gesprächspartner immanent anwesend ist. Aus einer guten Replik eines Dramas geht deutlich hervor, was für eine Beziehung der Sprecher zu jenem hat, zu dem er spricht, wie auch deutlich daraus hervorgeht, was für eine Beziehung er zu dem hat, worüber er spricht. Du fragst Dich, ob Du Dich verstellt hast, als Du fast gleichzeitig dem einen bitter und anklagend, dem zweiten fröhlich geschrieben hast und im Brief an den dritten tiefe Zweifel an Dir geäußert hast. Vor langer Zeit habe ich bemerkt, dass ich mit verschiedenen Gesprächspartnern unterschiedlich über ein und dieselbe Sache spreche. Was ich sage, unterscheidet sich nicht, also verstelle ich mich wirklich nicht und ändere auch nicht meine Überzeugung, aber die Art, wie ich es tue, unterscheidet sich. Ich habe mich davon überzeugt, dass in gewissem Maße sogar meine Vorlesungen von den Studenten abhängen, zu denen ich spreche. Ich wiederhole: Ich sage über das Drama Tschechows immer, was ich denke und weiß, aber die Art, in der ich es tue, hängt weitgehend von den Studenten ab. Sie schreiben sich mit ihren Fragen, stummen Reaktionen, etwas Unfassbarem in meine Vorlesung ein, so wie sich zum Beispiel die Zuschauer in eine Theatervorstellung einschreiben. Ich weiß nicht, ob Du Dich verstellt hast, ich versichere Dir aber, dass ich mich wirklich nicht verstelle, wenn ich mit verschiedenen Leuten unterschiedlich über die selbe Sache spreche – es ist weder Heuchelei noch Verstellung, es ist ein Grundgesetz der Kommunikation. Wenn in dem, was wir sagen, der Gesprächspartner nicht auf irgendeine Art anwesend ist, unterhalten wir uns nicht, sondern befehlen, informieren, unterweisen. Der Andere ist also kein Subjekt, sondern ein Objekt, er ist nicht unser Gesprächspartner, sondern ein passiver Empfänger unserer Botschaft. Wir nehmen keinen Kontakt zu ihm auf, tauschen keine Gefühle, Gedanken, Energie aus, sondern machen ihn als Objekt im Rahmen der Beziehung „Subjekt-Objekt“ mit dem bekannt, was wir denken oder wollen. Dabei sind auch wir nicht wirklich Subjekt, dieser Typ von „Kommunikation“ (der keine Kommunikation, sondern reine Information ist) hebt sowohl den Sender als auch den Empfänger als Subjekte auf. Aus einer Mitteilung auf einem Bahnhof können wir nichts über den erfahren, der die Mitteilung verfasst hat, noch berücksichtigt die Mitteilung denjenigen, an den sie sich wendet. So verhält es sich auch mit staatlichen Erlassen, Gesetzen, so genannten Tagesbefehlen beim Militär. Da gibt es keine Subjekte und daher keine Kommunikation (das, wozu wir zusammen sind), da existiert nur anonyme Information, genauso gleichgültig gegenüber dem, der sie ausspricht, wie gegenüber dem, der sie empfängt.
Im Brief ist es, ich sagte es bereits, wie in einem echten Gespräch, der Empfänger ist immer immanent anwesend. Du wählst die Farbe und die Textur des Papiers, die Farbe der Tinte und die Feder, mit der Du schreiben wirst, und natürlich artikulierst Du, bringst Du dadurch Dein Bild von jenem zum Ausdruck, dem Du schreibst, mit jeder Wahl drückst Du also Dich aus. Aber auch ihn, denn er kann in dem Bild von ihm gar nicht abwesend sein, wenn auch Du es gemacht hast. Es ist klar, dass es mehr über Dich als über mich aussagt, das, wie Du mich siehst, aber ich kann darin nicht ganz abwesend sein. Der Empfänger ist also in jeder Deiner Wahlen anwesend, er hat zusammen mit Dir die Farbe und die Textur des Papiers bestimmt, auf dem Du ihm schreiben wirst, die Farbe der Tinte und die Feder, mit der Du ihm schreiben wirst. Ich kenne Menschen, denen man nicht mit dem Kuli schreiben kann, es sei denn, man kennt sie nicht oder möchte sie beleidigen, ich kenne ein paar Leute, die sich über einen mit Bleistift geschriebenen Brief am meisten freuen würden (interessant ist, dass es Frauen sind, was ist das für eine mir verborgene Beziehung von Frauen zu Bleistiften?), ich weiß gut, mit welcher Feder ich welchem meiner Freunde schreibe, mit denen ich korrespondiere.
Dein Brief erinnerte mich an die enge Verwandtschaft von Brief und Gespräch, die ich während der Belagerung Sarajevos entdeckt hatte, eigentlich ermöglichte er mir, diese Entdeckung erst jetzt klar zu formulieren. Und diese lange Überlegung über ihre Verwandtschaft (verzeih, falls sie zu lang ausgefallen ist) sollte die Frage vorbereiten, auf die wir vielleicht eine Antwort finden könnten. Jean Amery spricht in dem von Dir erwähnten Essay über den Tod der Briefkultur, und mich verweist diese Bemerkung auf den Tod des Gesprächs und jeder echten Kommunikation als Prozess, während dessen zwei Subjekte aufeinander zugehen, sich begegnen.
Wir können uns damit trösten, um nicht zu sagen täuschen, dass wir die Briefkultur infolge des technischen Fortschritts verloren haben, der uns ständig neue Wunder beschert wie das Telefon, das Handy, die elektronische Post… Aber warum haben wir die Gesprächskultur verloren? Wir haben die Fähigkeit, uns zu unterhalten, verloren, unsere „Gesprächspartner“ sind heutzutage nur Menschen, mit denen wir etwas vereinbaren, lösen, abstimmen müssen. Daher, fürchte ich, ist das Hinweisen auf die Telefone und Handys nur ein Trost, mit dem wir die Erklärung für das Verschwinden des Briefs und des Gesprächs vor uns verstecken. Technik und Metaphysik gehen immer miteinander einher, gute Technik produziert Metaphysik, wie wahre Metaphysik die entsprechende Technik produziert.
Technische Antworten sind in der Regel genau, aber nie genügend. Ich kann mich nicht erinnern, wer die rein technische Antwort auf die berühmte Frage „Warum zögert Hamlet?“ angeboten hat. „Hamlet zögert, damit aus dem Drama eine abendfüllende Vorstellung gemacht werden kann“, lautet diese Antwort. Zweifellos genau, aber völlig ungenügend, weil sie nicht erklärt, warum wir von „Hamlet“ fasziniert sind, nicht auf die Frage antwortet, wie und warum sich Hamlets Zögern und das Zögern von Tschechows Helden unterscheiden, buchstäblich nicht auf eine einzige der Fragen antwortet, die uns im Zusammenhang mit diesem Drama wichtig sind. So verhält es sich, fürchte ich, auch mit den technischen Antworten auf die Frage, warum der Brief verschwindet, warum wir aufhören, uns miteinander zu unterhalten, wohin die Kommunikation verschwunden ist, die uns zueinander führt. Es gibt keine technische Antwort, die den Gewinn annähernd erklären kann, den mir Briefe und echte Gespräche bringen, zu denen ich leider unfähig bin.
Freundschaftlich grüßt Dich
Dževad
Brief nach Graz versendet (Gauss an Karahasan)
Lieber Dzevad,
Deine Zeilen über das Caféhaus beim Višegrader Tor in Sarajewo haben mich daran erinnert, dass auch wir beide eine Zeitlang unsere zwei Kaffeehäuser hatten. Das eine hieß Café Europa, wir waren dort zwei- oder drei Mal verabredet, als ich vor 16 Jahren in Deiner Stadt war, in diesem unerhört kalten Winter des Jahres 2000, in dem so viel Schnee gefallen und zu betonharten Klumpen vereist war, dass ich in den engen Gassen im Stadtteil Bjevali, in dem ich wohnte, auf den unter einer Mauer aus Schnee und Eis verborgenen Autos dahinstapfen und in die Fenster im Erdgeschoß blicken konnte. Das andere war das Café Mozart in der Getreidegasse, in dem wir uns in Deiner Salzburger Zeit immer trafen, Du erinnerst Dich, jenes mit spartanischem Charme möblierte Café im ersten Stock der am dichtesten bevölkerten Gasse von Salzburg, in dem außer uns oft nur die schweigend rauchenden Schachspieler zugegen waren. Dort hast Du mir einmal auf einem kleinen Zettel mit verschiedenen, ineinander verschränkten Kreisen die Struktur des Romans anschaulich gemacht, an dem Du gerade geschrieben hast, „Schahrijars Ring“.
Unser Café ist, bald nachdem Du aus Salzburg weggezogen bist, verkauft, gründlich renoviert und unter gleichem Namen, aber aus anderem Geist wieder eröffnet worden. Wo damals die Tische der Schachspieler standen und sich in meinem inneren Bild ewig der Rauch der Zigaretten kringelt, türmen sich jetzt in den Schaukästen der Theke die Crèmeschnitten. Die Torten und Speisen sind zuverlässig von einem gewissen Standard, und die Kellnerinnen und Kellner brausen nicht mehr auf, wie ihre Vorgänger es taten, sondern bleiben stets auf professionell abgeklärte Weise höflich. Das sind alles Entwicklungen, über die man nicht klagen soll, zumal sich im alten „Mozart“ die Kellnerin in ihren beigefarbenen Gesundheitsschuhen manchmal müde in die Küche verzog, von wo sie nur alle Zeiten ächzend nachschaute, ob die paar überständigen Gäste noch immer an ihren Marmortischchen saßen. Das Beste am alten Mozart war gerade das Mangelhafte: Dass man dort nämlich als Gast schlichtweg vergessen werden konnte, sich selbst überlassen blieb und mitunter weder bedient noch genötigt wurde, etwas zu konsumieren. Eher schon benötigte man auf altösterreichische Weise Protektion, um zu seinem zweiten Espresso oder zweiten Glas Rotwein zu kommen. Das heutige Café wird gastronomisch in jederlei Hinsicht besser geführt, ich glaube aber nicht, dass wir uns dort die Struktur unserer nächsten Bücher aufzeichnen würden.
Im Café Mozart haben wir über alle Mögliche und natürlich auch über Jugoslawien und über die Kriege gesprochen, die gerade geführt wurden, nur wenige hundert Kilometer entfernt. Ich sehe Dich noch vor mir, lange nachdenkend und die Antwort überlegend, die Du auf meine Frage geben wolltest, wie sich der Untergang, nein, die Zerstörung Deiner Stadt hätte vermeiden lassen: „Wir alle hätten sie mehr lieben müssen.“ Mehr lieben, ja. Und genug Aufmerksamkeit besitzen, um nicht erst nachträglich draufzukommen, was man verlieren kann und entbehren wird! Die meisten meiner hiesigen Freunde halten die Belagerung Sarajewos für ein in Europa unwiederholbares Verbrechen, den Zerfall Jugoslawiens hingegen für eine unausweichliche historische Entwicklung. Mir erscheint beides jedoch als Menetekel auf die Geschichte Europas, als reale Möglichkeit, wie sich die Regionen, Nationen, Staaten und endlich die Europäische Union selbst entwickeln könnte.
Egal, wo ich in den letzten Jahren in Europa unterwegs bin und mit wem ich ins Reden komme, stets begegne ich einem merkwürdigen Grimm, einem rasch hochschießenden Zorn, als befänden wir uns in einer dauernden Erregungsbereitschaft. Was ich sie auch frage, wütend pflegen die Leute sofort alles niederzumachen, was sich in ihren Ländern und in der gemeinsamen Union ereignet. Von nichts als Verfall und Niedergang bekomme ich zu hören, die Politiker wären korrupt, egal was sie verfechten, die Gebildeten arrogant, die Hilfsbereiten dumme Gutmenschen und jene in der Gesellschaft, denen es sichtbar am schlechtesten geht, allesamt nicht der Unterstützung bedürftig, sondern verachtenswerte Schmarotzer, die sich faul an unserem Gut bereichern und am Sozialstaat mästen.
Die Kritik ist laut und heftig, aber ziellos und völlig inkonsequent. Am vermeintlichen bürokratischen Monster Brüssel wird einmal kritisiert, dass es zu viel tue und sich reglementierend ins Leben jedes Einzelnen einmische, das nächste Mal, dass es zu wenig tue und die Dinge ihren schlechten Lauf nehmen lasse. Die einen werfen der Union geradezu geifernd vor, dass sie sich Rechte anmaße, die nicht ihr, sondern nur den nationalen Regierungen zustünden, die anderen werfen ihr vor, dass sie in der Flüchtlingsfrage keine gemeinsame Strategie für alle Staaten zuwege bringe. Ja, wie sollte sie auch, wenn ihr jeder einzelne Staat das Recht verweigert, für ihn zu entscheiden? Am meisten ergrimmt mich, der ich inmitten des allgemeinen Zorns mitunter selbst in Rage gerate, dass gerade jene, die nicht müde werden, die Union zu schwächen, ihr schamlos just die von ihnen verursachte Schwäche vorzuhalten pflegen. Bei uns haben damit die charakterlosen Politiker der Freiheitlichen Partei angefangen, aber mittlerweile hat ihr schlechtes Beispiel opportunistische Schule gemacht.
Lieber Dzevad, Du weißt, dass ich kein Verklärer Österreichs und der Europäischen Union bin, aber mittlerweile fühle ich mich tatsächlich verpflichtet, Österreich und die Union vor der zerstörerischen, der geradezu nekrophilen, in das Scheitern verliebten Abwertung in Schutz zu nehmen. Wenn man in Wien mit der Straßenbahn unterwegs ist, könnte man mitunter meinen, man würde durch eine sozial ruinierte, von Verbrechern regierte, von Flüchtlingsbanden terrorisierte Stadt fahren, in der es keine funktionierenden Spitäler, Schulen, Ämter, Kindergärten mehr gäbe: So jedenfalls geht die hitzige Rede vieler Fahrgäste. Und erst ein vernünftiges, abwägendes Gespräch über Europa zu führen, ist bei uns nur mehr schwer möglich. Dabei gälte es doch, gerade jetzt, die Mängel und die Vorzüge dieser Vereinigung zu debattieren, über die Versäumnisse und die Chancen einer staatenübergreifenden Union zu sprechen, und dies, ohne die neoliberale Zuformung des europäischen Marktes zu verschweigen, aber auch ohne das dumme Lied von der heilen nationalen Welt von gestern anzustimmen.
Nichts davon. Es mangelt an beidem: an der Erinnerung, wie es gestern wirklich war, und an der Vorstellungskraft, wie es morgen in Wohl und Wehe sein könnte. Aber vor allem mangelt es an der Zuneigung, um nicht zu sagen: an der Liebe. Nicht an der Liebe zu einer abstrakten Größe oder einem staatsrechtlichen Gebilde, also um die Liebe zu Europa oder zur Union. Sondern an der Zuneigung, die die Menschen für das, was sie selbst aufgebaut haben und mit ihrem Leben repräsentieren, empfinden sollten und nicht mehr empfinden, in Österreich und in ganz Europa. Statt auf Achtung und Selbstachtung setzen wir auf die große Missachtung, von uns selbst und von den anderen, von dem, was wir zuwege gebracht haben, und von dem, was wir zuwege bringen könnten. Das ist dumm, ungerecht und gefährlich.
Es grüßt Dich herzlich
Dein Karl-Markus